10.12.2011

Fragen nach der Universität

Rezension von Tobias Prüwer

Alma mater krisiensis: Unter dem Titel Unbedingte Universitäten hat der Diaphanes Verlag ein Buchpaket zur Misere der Hochschulreformen veröffentlicht. Eine affirmative, mit ergänzenden Argumenten flankierte Sammelrezension zu Ort und Idee der Universität.

„Die Bologna-Reformen sind wichtig, Europa sollte nun aber einen Schritt weitergehen, da die Universitäten auch den Inhalt ihrer Lehrpläne modernisieren, virtuelle Hochschulen einrichten und ihre Verwaltung reformieren sollten. Ebenso sollten sie ihr Management auf eine professionelle Basis stellen, ihre Finanzierung diversifizieren und sich neuen Gruppen von Lernenden, Unternehmen und der Gesellschaft insgesamt ... öffnen. Die Länder sollten sämtliche Tätigkeitsbereiche ihrer Hochschulsysteme – Bildung, Forschung und Innovation – modernisieren und so bewirken, dass diese Systeme kohärenter und flexibler werden“. [1]

An der Reformbedürftigkeit der europäischen Universitäten bestehen kaum Zweifel. Doch scheinen die anvisierten Ziele von Bologna-Prozess & Co. nicht nur den Studierenden wenig zu schmecken, wie die Streikwellen des vergangenen Jahres und die anhaltenden Proteste zeigen – auch wenn sie späte Reaktionen waren. Nicht wenige Professorinnen und Professoren sowie Dozierende üben mittlerweile scharfe Kritik, der vorher nur Einzelne eine Stimme verliehen. Die Verzögerung allerdings nimmt dem Einspruch gegen den Reformdiskurs und dessen dominierenden Elementen einer Erziehung zur Brauchbarkeit, der verordneten Innovation und verpflichtenden Exzellenzperformance nicht die Pointe. De facto wird die Demontage des universitären Freiheitsanspruchs vollzogen, wenn die Hochschulen in erster Linie für die Volkswirtschaft nützliche Funktionsträger hervorbringen und sich als Standort- und Wertschöpfungsfaktor im nationalen sowie globalen „Bildungswettbewerb“ behaupten sollen. Im Zuge einer solchen Demontage werden der Ökonomisierung und Entdemokratisierung Vorschub geleistet, geht darüber hinaus Bildung verloren – und die Idee der Universität entgleitet.

Unbedingte Universitäten

Als Jacques Derrida 1998 an der Universität Stanford seinen Vortrag „Die unbedingte Universität“ hielt, beschrieb er das Ideal einer bedingungslosen Hochschule, die „zu einer ganzen Reihe von Mächten in Opposition“ steht: „Zur Staatsmacht, zu ökonomischen Mächten, zu medialen, ideologischen, religiösen und kulturellen Mächten etc., kurzum zu allen Mächten, welche die kommende und im kommen bleibende Demokratie einschränken.“ Diese ganz der Emanzipation verpflichtete Universität, so Derrida, „müsste also auch der Ort sein, an dem nichts außer Frage steht“. [2]

Derridas Vortrag hat der Diaphanes Verlag zum Titel eines Programms auserkoren, das der Frage nach der Idee von Universität als Ort des Denkens und der Reflexion nachgeht und ihre Zukunft erörtert. Dank des breiten Spektrums, das die versammelten Texte trotz ihrer gemeinsamen kritischen Stoßrichtung abdecken, wird das Phänomen Universität – weniger als Institution denn Raum öffentlicher Vernunft – von vielen Seiten beleuchtet und die gegenwärtigen Veränderungen durch die Reformen seziert. Dabei zeigt die Vielzahl der internationalen Stimmen, dass die Umformung der Universitäten kein lokal begrenztes Unterfangen ist, sondern dem neoliberalen Zeitgeist entspringt, mit dem alles und jeder der unternehmerischen Anrufung ausgesetzt ist, dem verwertungslogischen Dispositiv unterliegt. [3]

Zur Frage, was das Konzept der Universität sei, versammelt ein 350-seitiger Band prominente wie versprengte Positionen von Autoren wie Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher, Walther Benjamin und Karl Jaspers, Michel Foucault und Bill Readings. [4] Der inhaltliche Bogen spannt sich von Notizen über die Disziplinar- und Kontrollgesellschaft (Gilles Deleuze) zum notwendigen Begehren der Forschenden (Roland Barthes).

„Was soll Universität, was fordern Sie von ihr heute?“, lauteten die Fragen, die ein studentisches Kollektiv der Münchner Universität an diverse Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschickte. Deren konkrete Antworten und grundsätzlichere Überlegungen finden sich in einem zweiten, nicht minder umfangreichen Band, der neben wissenschaftlichen Beiträgen Forderungskataloge der Studierendenschaften verschiedener Universitäten enthält. [5] Als programmatische Auskopplungen gibt es zudem zwei kleine Bändchen, die in jeweils zwei Essays ihre Einsprüche gegen den Raubbau an den Hochschulen formulieren. [6]

In der Kritik stehen u.a. der von der BA-MA-Reform erzeugte Bildungsverlust, die schwindende Hochschulautonomie, die Aufspaltung in Schulungszentren und professorale Thinktanks sowie die Anmaßungen einer „ergebnisorientierten Kultur“, die in den Universitäten Einzug hält. [7] „Exzellenzcluster“ – welche Erhabenheiten sollen sie eigentlich bündeln? – und die Zunahme von Graduiertenkollegs etc. führen zur Verarmung der Forschungsvielfalt, weil Konzentrationen und Moden die individuelle Themenwahl einschränken. [8] Und über Evaluationen, die in der Unbestimmtheit, was sie eigentlich messen sollen, ohnehin unsinnig sind, hat sich ein Geist des Überwachens und Abstrafens breitgemacht. „[E]ine solche Gesellschaft, in der selbst Universitäten keine Freiräume des Denkens mehr darstellen dürfen, [ist] keineswegs eine Leistungsgesellschaft, sondern vielmehr eine der bürokratischen Kontrolle, des Zwanges und der gewaltsamen Verhinderung von Chancengleichheit und sozialer Durchlässigkeit.“ [9]

Allein die Performance zählt

„Im Gegensatz zu Modernisierung und Fortschritt sind Innovation und Leistung ahistorische Konzepte und haben jenseits von Bedarf und verfügbaren Ressourcen im Wettbewerbsumfeld keinen Orientierungspunkt.“ [10] Eine ominöse „Exzellenz“ wird als nicht objektivierbare Kategorie, deren relativer Wert sich einzig im Vergleich mit anderen Universitäten bestimmen lässt, zum Maß aller Dinge. Auf den Siegeszug der Performance zum Maßstab einer neuen Zeit hatte schon Jean-François Lyotard 1979 in Das postmoderne Wissen hingewiesen – nun ist sie an den Hochschulen angekommen. „Totale und permanente Leistungs-Überwachungssysteme und kompetitive Vergleiche (mittels Benchmarking) werden auf diese Weise unverzichtbare Werkzeuge zum Sammeln aktueller Informationen, um den Bedarf nach permanentem Leistungsfeedback zu decken, um Innovationslücken zu finden und den Zirkel der Exzellenz in Bewegung zu halten.“ [11] Dass ein solch blindes Vergleichen die Produktion von provisorischen Papieren, das Veröffentlichen von vorläufigen Ergebnissen etc. genauso befördert wie Plagiate und Manipulationen, liegt auf der Hand. Und das Werben für die eigene Exzellenz wird als Klappern dann mindest genauso intensiv dazugehören wie der Forscherdrang.

Zur Innovation verordnet

„Es ist ein Allgemeinplatz, den zu wiederholen nur der Aberglaube an die Allmacht von Maßnahmen nötigt, dass Bildung sich nicht dekretieren lässt.“ [12] Diese Worte Adornos aus dem Jahr 1953 rücken angesichts der Streiks wieder ins Gedächtnis. Dabei gilt die Nicht-Dekretierbarkeit ebenso für Innovationen. Entstehen diese aus der Kreativität und der Lust am Forschen, im Versuch wie Irrtum, so kann man nur festhalten, dass sie sich als emanzipatorisch verstandener Forstschritt nicht verordnen lassen. Was auf der Seite der Bildung negativ in den Blick gerät, trifft auch hier zu: Zwang und die Erzeugung von Angst durch zeitlichen und finanziellen Druck sowie die beschworene Konkurrenzsituation hemmen jeden innovativen Ansatz. Denn einem rein instrumentellen Verhältnis entspringt nichts Originäres.

Das ist auch wissenschaftsgeschichtlich belegbar. Sicher gab es große Ingenieursleistungen, die einem zielorientierten Tüfteln entsprangen. (Man denke nur an James Watt, dem heute immer noch vielfach die Erfindung der Dampfmaschine zugeschrieben wird. Doch schon vor ihm wurde mit solchen Apparaten herumexperimentiert – Watts Leistung bestand in der Optimierung des Wirkungsgrads.) Die wissenschaftstypischen Paradigmenwechsel aber, um mit Thomas Kuhn zu sprechen, wären unter den Bedingungen eines verordneten Fortschritts nicht denkbar gewesen.

„Wenn es in der Natur und Kultur der Universität so etwas wie Aufruhr, Unkontrollierbarkeit oder Regellosigkeit, also so etwas wie Zügellosigkeit gibt, hat dies grundlegend mit der schlechthin immateriellen Materie voller Sprengkraft zu tun, die das Wissen darstellt, das heißt, seine Aneignung, Erforschung und Erkundung sowie seine Aufteilung, Entdeckung oder Erfindung.“ [13] Kreativität, der Innovationen – sofern sie nicht per Zufall quasi als Nebeneffekt entdeckt werden – zugrunde liegen, lässt sich eben nicht anordnen oder festlegen. Kreieren, Finden, Austüfteln bedürfen der Zeit und Muße, die keine definierbaren Größen sind. Man kann beförderliche Rahmen abstecken und Hindernisse bestimmen, um diese gegebenenfalls zu entfernen und den möglichen Output erhöhen. Fortschritt aber, wie eben auch Emanzipation, kann man nicht managen.

„Das Neue, das Unberechenbare, das Nicht-Programmierte, das, was den Unterschied macht, ist im Wettbewerb der höchste Trumpf, um einen Zuwachs an Leistung zu erreichen. Hieraus folgt, dass das Prinzip, Forschungen ohne Aussicht auf Gegenleistung oder Rückzahlung (also ohne unmittelbaren Profit zu erwarten) zu finanzieren, nicht unvereinbar ist mit einem Innovations- und Rentabilitätskalkül. Im Gegenteil: Es ist die klügste Strategie dazu.“ [14] Dass es ohnehin schier unbestimmbar ist, was genau eine Innovation in den Humanities kennzeichnet, steht noch auf einem ganz anderen Blatt. Um es mit Roland Barthes zu sagen: „Der Erfolg einer Forschung – vor allem einer textuellen – beruht nicht auf ihrem ‚Resultat‘, ein trügerischer Begriff, sondern auf der reflexiven Natur der Äußerung.“ [15]

Ein Ort der Kritik, des Versuchs, des Möglichen

„Aufgaben in Erziehung, Bildung und Forschung sind ... nicht technologisch zu lösen,“ heißt es in der Frankfurter Erklärung, in der sich 2005 Erziehungswissenschaftler gegen das betriebswirtschaftliche Denken als handlungsanleitende Maxime an den Universitäten und die „Tendenz zu inhaltlicher und organisatorischer Standardisierung,“ aussprachen, „die jede kreative Arbeit im Einzelfall unmöglich machen muss.“ [16] In seinem Essay verteidigt Plínio Prado das unbedingte Recht der Universität auf Kritik. Seine Gedanken lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Universitätsprinzip besteht im „grundlegenden Sinn von Autonomie“ und fußt auf einem „Prinzip von Öffentlichkeit“. Die „universitärere Kultur [ist] grundlegend undiszipliniert“, „Lehre und Forschung ... unauflöslich miteinander verbunden“ und ihr Widerstandsprinzip ist „ziviler Ungehorsam und ein Neuerfinden der kommenden Universität“. [17] Als den speziellen Ort, an dem Wahrheit bzw. Wahrheitsansprüche öffentlich ausgehandelt werden, charakterisieren sie auch Masschelein und Simons: „Kurz gesagt, die einzigartige pädagogische Form der Universität ist die Form, die das Denken öffentlich macht und ein Publikum um Gedanken herum versammelt.“ [18] Versuch und Essay also finden maßgeblich in der Universität statt, in der alles – auch sie selbst – infrage gestellt wird, also zur Debatte steht. Aus der idealiter bedingungslosen Unvoreingenommenheit und Absenz äußerlichen Zwanges können sich hier Innovationen ereignen.

Letztlich müsste die Universität also ein Ort sein, an dem sich ein individueller Möglichkeitssinn entfalten kann. So wie ihn Robert Musil einst beschrieb: „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, ... dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ [19]

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