01.05.2010

Kohle fördern, Kreide fressen?

Analyse von Brendan O’Neill

Dass sich chinesische Führer mittlerweile genötigt fühlen, sich für die eigene wirtschaftliche Dynamik zu entschuldigen und in die allgemeine Klimaschutz-Obsession einzustimmen, um als Gesprächspartner ernst genommen zu werden, offenbart die wachstumsfeindliche und bornierte Weltsicht der westlichen „Industrienationen“.

Der Auftritt von Hu Jintoa vor den Vereinten Nationen in New York im September 2009 hatte etwas sehr Seltsames. Staunend und beinahe ungläubig vernahm die Weltgemeinschaft, dass sein Land sich verpflichten wolle, seine CO2-Emissionen zu reduzieren. Hu ist Regierungschef der bevölkerungsreichsten Nation, der nach den USA und Japan drittgrößten Volkswirtschaft sowie der größten Exportnation der Welt. Die Volksrepublik China produziert 60 Prozent aller Mobiltelefone, 55 Prozent aller DVDs, mehr als die Hälfte aller Digitalkameras und 75 Prozent aller Kinderspielsachen weltweit. Sie verfügt über ausländische Devisen im Wert von zwei Billionen Dollar und damit über die größten Währungsreserven der Welt. Als Ergebnis der Industrialisierung in den vergangenen 30 Jahren hat China heute 655 Städte (1978 waren es 193), 1,3 Milliarden Einwohner mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 73,4 Jahren (1949, im Gründungsjahr der Volksrepublik, waren es 542 Millionen Einwohner mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 36,5 Jahren) und 20,2 Millionen Hochschulstudenten (1949 waren es 117.000).

Nichtsdestotrotz sprach Hu zu den Führern einiger weit weniger reichen Nationen, deren Volkswirtschaften seit Jahren stagnieren und von denen viele finanziell abhängig von China geworden sind, in ihrer Sprache: von Emissionsverringerung, Nachhaltigkeit und dem Primat der Klimarettung über das bloße Wirtschaftswachstum. Hus Diktion entsprach nicht der des politischen Führers einer dynamischen Industrienation, sondern der westlicher, international agierender Organisationen und NGOs, für die Wirtschaftswachstum ein Problem darstellt, da es die Umwelt belastet und angeblich zerstört. „Die globale Klimaveränderung hat weitreichende Bedeutung für das Überleben und die Entwicklung der Menschheit“, so Hu. „Sie ist eine große Herausforderung, die sich allen Ländern stellt.“ (1)

Von einigen Grünen wurde Hus Auftritt vor den Vereinten Nationen als Beleg für die Entwicklung hochrangiger chinesischer Politiker „vom Saulus zum Paulus“ in Sachen Klimawandel begrüßt. Tatsächlich machte er deutlich, wie sehr China daran interessiert sei, in die internationale Gemeinschaft aufgenommen zu werden, und dass es erkannt hat, dass sich dies – ob aus Berechnung oder echter Überzeugung, einmal dahingestellt – am besten durch ein öffentliches Bekenntnis zum Klimaschutz, dem heute einzigen Bindeglied und ethischen Ziel der westlichen Staatengemeinschaft, erreichen lässt. Offensichtlich wurde aber die Dominanz der westlichen grünen Ethik, die sogar eine der mächtigsten Nationen der Erde, deren Wirtschaftswachstum 235 Millionen Menschen aus tiefster Armut befreit und damit die Armut der Welt um 67 Prozent reduziert hat (2), dazu bringt, sich dafür entschuldigen zu müssen, bei dieser Mammutarbeit einen „CO2-Fußabdruck“ hinterlassen zu haben.

Hus Rede war das Ergebnis monatelangen diplomatischen Drucks und zahlreicher Gespräche zwischen westlichen und chinesischen Offiziellen. Im Vorfeld der UN-Klimakonferenz von Kopenhagen im Dezember – von einigen hysterisch zur „letzten Gelegenheit, die Erde zu retten“ stilisiert – hatten westliche Beobachter China gedrängt, eine wohlfeile Erklärung zum Klimawandel abzugeben. In einer Art von ins Gegenteil verkehrtem Imperialismus zogen 20 britische und mindestens doppelt so viele US-amerikanische Diplomaten nach Peking, um den Standpunkt der Chinesen in Sachen Klimawandel im Vorfeld der Kopenhagener Konferenz auszuloten und sie in die „richtige“ Richtung zu drängen. (3) Hatten westliche Mächte einst China in „Einflussbereiche“ aufgeteilt, um seine Rohstoffquellen und Arbeitskräfte auszubeuten, intervenierten westliche Politiker nun, um im Rahmen einer ethischen Mission China aufzufordern, „seine natürlichen Ressourcen zu respektieren“. (4)

Hintergrund dieses diplomatischen Aktionismus ist die wachsende kulturelle Verteufelung des chinesischen Wirtschaftswachstums. Westliche Offizielle und Beobachter teilen die Auffassung, dass das moderne China ein Umweltverschmutzer und möglicherweise eine „giftige“ Bedrohung für den verhältnismäßig saubereren und ruhigeren Westen darstelle. (5) Die Industrienation China wird beschrieben als „eine rapide wachsende Anti-Utopie, in der sich die Flüsse schwarz färben“ und die den Planeten in die „unvermeidliche Katastrophe“ führe. (6) All dies dürfte Hu dazu bewogen haben, seine mit großem Beifall bedachte Rede vor den Vereinten Nationen zu halten.

Einerseits kann Hus öffentliches Bekenntnis zum Ethos des Klimawandels, dem die Entwicklung verschiedener eigener Klimaschutzprogramme in China in den letzten Jahren vorausgeht, als kalkuliertes diplomatisches Manöver betrachtet werden. Wie schon der Soziologe Frank Furedi betonte, stellt das Reich der Mitte, entgegen allen Behauptungen, keineswegs eine Bedrohung für die Weltstabilität dar, sondern ist vielmehr am Erhalt des Status quo und der Bewahrung einer offenen, globalen Wirtschaft interessiert. Chinas Zukunft ist eng an die Fortführung der jetzigen Weltordnung gebunden. (7) Daher leuchtet es ein, dass sich China darum bemüht, die politische und kulturelle Barriere aus dem Weg zu räumen, die es davon abhält, ein respektiertes Mitglied der internationalen Gemeinschaft zu werden. In Zeiten, in denen bei einem Großteil der wirtschaftlichen und (macht-)politischen Beziehungen grüne Töne angeschlagen werden, haben die Chinesen den Vorteil eines öffentlichen grünen Bekenntnisses erkannt. Sie haben sogar die britische PR-Agentur Freud beauftragt, ihnen zu helfen, sich ein neues, grünes Image zu geben.

Wie dem auch sei, Hus Rede enthüllt auch, dass Schichten der chinesischen Bürokratie sich die westliche Umweltpolitik zu Eigen gemacht haben. Sie bietet der chinesischen Regierung – abgekapselt und fern ihrer Bevölkerung – den Anschein einer ethisch korrekten Legitimation. Als ich im September 2009 mit einer Gruppe westlicher Journalisten in Peking zu Besuch war, waren die Regierungsrepräsentanten geradezu erpicht darauf, uns ihre grünen Errungenschaften zu zeigen: die Luftqualitätsmesser, die in der ganzen Stadt aufgestellt wurden; die Fabrik, die in der Entwicklung von Elektroautos weltweit führend ist; der Gebrauch hoch technisierter Vans, die den CO2-Ausstoß von Autos und Motorrädern messen, die wiederum der Straße verwiesen werden können, wenn ihr Schadstoffausstoß als zu hoch bewertet wird. Da die Chinesen offenbar nicht in der Lage sind, ihr Wirtschaftswachstum vermittels der Wahrnehmung menschlicher Interessen zu rechtfertigen, haben sie sich auf Entschuldigungen und Apologien für ihre großen Fortschritte verlegt. Das Umweltschutzethos gestattet es ihnen auch, neue autoritäre Maßnahmen einzuführen: Öffentliche Rauchverbote, Fahrbeschränkungen und Arbeiterentlassungen wurden mit Verweis auf den Umweltschutz legitimiert.

Hus Rede lieferte erhellende Einblicke in unsere aus den Fugen geratene Zeit, in der wirtschaftlich stagnierende Nationen prosperierende über ihre ethische Verantwortung belehren dürfen und in der mächtige politische Führer sich bemüßigt fühlen, vor UN-Repräsentanten – und damit im Endeffekt auch vor Greenpeace und Konsorten – im Staube zu kriechen, um internationale Anerkennung zu gewinnen. Die Rede zeigte auch, dass in der gegenwärtigen China-Debatte mit zweierlei Maß gemessen wird. Für diejenigen, die an Fortschritt glauben und daran, die gesamte Menschheit von Armut zu befreien, haben jene Führer und Berichterstatter, deren Nationen auf Industrie aufgebaut sind und die nun die Chinesen dafür abstrafen, „die gleichen Fehler zu begehen“, etwas Abstoßendes. (10) Die Nationen des Westens, die von den Vorzügen der kohlebefeuerten Industrie, von der Entwicklung moderner Industriestädte und der technologischen und nuklearen Revolution profitiert haben, attackieren nun – aus komfortabler Position – die Chinesen dafür, dass sie „den schmutzigsten Treibstoff überhaupt“ verwenden, um eine „verschmutzte Gesellschaft“ zu kreieren, die „der Welt größter Produzent von Treibhausgasen“ ist. (11) Solche Anschuldigungen wirken auf schamlose Weise scheinheilig.

Damit soll nicht behauptet werden, dass die Industrialisierung Chinas keine Probleme mit sich brächte oder dass die Chinesen denselben Weg beschreiten müssten wie beispielsweise die europäischen Industrienationen. Schon Leo Trotzki wusste, dass es sich später entwickelnden Ländern oft möglich ist, den Fortschritt der früher entwickelten zu nutzen. Dennoch ist ein Großteil der Kritik an China, die auf den Einsatz traditioneller und „schmutziger“ Energien abzielt, Ausdruck einer Doppelmoral und eigentlich gegen etwas ganz anderes gerichtet: gegen das Streben dieser Nation, überhaupt zu wachsen, gegen ihre Größe, ihren Bevölkerungsreichtum und ihr Streben danach, noch reicher, gesünder und noch fortschrittlicher zu werden. Viele Beobachter, die vordergründig die Mittel des chinesischen Wachstums kritisieren, empfinden in Wahrheit deren Zweck als Ärgernis: die Erschaffung einer Gesellschaft, bestehend aus relativ reichen Menschen, die ein Leben führen, das nun einmal Spuren hinterlässt.

Problematisch an der diplomatischen und kulturellen Abwertung des chinesischen Wachstums ist, dass die Frage, was die Interessen der chinesischen Bevölkerung sind,  mehr oder weniger vollständig ausgeblendet wird. Ein historisch einzigartiges Wachstum, das das Leben von Millionen und Abermillionen von Menschen verändert hat, wird behandelt als „Erschaffung einer neuen Anti-Utopie“. Die Transformation einer Nation wird nicht daran gemessen, zu welchem Grad ihre Bevölkerung davon profitiert hat, sondern anhand der Menge von Gift- und Schadstoffen und der Frage, welche Auswirkungen dies auf Gaia hat. Einer aufrichtigen Diskussion darüber, wie sich China weiter entwickeln könnte und inwieweit seine ökonomische und soziale Erneuerung für die westlichen Nationen von Vorteil ist (z.B. im Hinblick auf den Fluss chinesischen Kapitals und Pekings Interesse daran, die Weltordnung und -wirtschaft zu stabilisieren), wird systematisch aus dem Weg gegangen.

Wir sollten in Erinnerung behalten, dass ein Fünftel der Menschheit in China lebt. Und dass, bei aller Stigmatisierung Chinas als „größter Produzent von Treibhausgasen“, diese 1,3 Milliarden Menschen immer noch weniger konsumieren als die weniger bevölkerungsreichen Nationen in Amerika und Europa. Der Lebensstandard und die Möglichkeit der Chinesen, eigene Entscheidungen zu treffen, sind unendlich viel wichtiger als die Befindlichkeiten westlicher Beobachter, die sich Gedanken darüber machen, dass das chinesische Wachstum den örtlichen Spielplatz ihrer Kinder kontaminieren könnte.

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