13.05.2010

Missbrauch als Epidemie

Analyse von Sabine Beppler-Spahl

Natürlich muss die Gesellschaft versuchen, Kinder vor Gewalttätern zu schützen. Die anhaltende Aufregung über Missbrauchsfälle trägt dazu jedoch nichts bei.

„Meiner Generation und den ein, zwei folgenden wurde eine derartige katholische Erziehung zuteil, die auf Angst, Strafe und Schuldgefühlen basiert. Die Folgen habe ich selbst mit der Zeit überwunden.“ (1)

Auslöser der aktuellen Aufregung war ein offener Brief, in dem der Schulleiter des privaten Canisius-Kollegs in Berlin dazu aufrief, das „Schweigen zu brechen“. Kurz darauf erfasste das Thema Missbrauch die gesamte katholische Kirche sowie zahlreiche nichtkirchliche Bildungseinrichtungen und Institutionen. Dass ein solches Schreiben aus dem Herzen eines der Leuchttürme katholischer Bildung Gewicht haben würde, war klar. Dennoch überrascht das Ausmaß des Skandals. Ist dies der lawinenartige Durchbruch eines jahrelang unter den Teppich gekehrten Unrechts?

Eine Kombination verschiedener Faktoren hat die derzeitige Wucht der Debatte ausgelöst. Fragen des Kinderschutzes haben in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert, und das Thema Kindesmissbrauch ist dazu geeignet, unterschiedliche Interessengruppen zusammenzubringen. Nicht die „Mitte der Gesellschaft“ ist dem Appell gefolgt, das Schweigen zu brechen, sondern eine kleine, einflussreiche Meinungs- und Medienelite: Journalisten, die der katholischen Kirche oder den Privatschulen kritisch gegenüberstehen, Prominente, die sich in Kinderschutzorganisationen engagieren und dadurch zusätzlichen Glanz bekommen (Stephanie zu Guttenberg, Joop, Pur-Sänger Hartmut Engler u.a.), nicht zuletzt Opferanwälte und Politiker, die in einer schlappen Regierungskoalition Handlungsfähigkeit beweisen können. Das ergibt eine starke Lobby.

Der Topos des Tabubruchs zieht sich wie ein roter Faden durch die Diskussionen, obwohl über kaum etwas mehr Einigkeit besteht als über die Scheußlichkeit von Kindesmissbrauch. Mit welchem anderen Thema lässt sich in unserer individualisierten Gesellschaft so einhellig Empörung und moralische Gemeinschaft demonstrieren? (2) Doch ist dies kein Grund, die Missbrauchsdebatte zu kritisieren. Jede Kampagne hat ihre Protagonisten und Interessengruppen. Meine Kritik entzündet sich vielmehr an der Insensibilität und Unverantwortlichkeit, mit der das Thema überwiegend behandelt wird. Es beginnt bei der Darstellung der Art und des Umfangs des Problems. Jede Missbrauchsdebatte geht einher mit einer „Dunkelziffer“, und auch diesmal wird insinuiert, dass es weit mehr Opfer gäbe, als wir uns vorstellen können. Es ist fast unmöglich, Straftaten, die den Bereich der Intimität und der Gefühle betreffen, zu objektivieren und in Zahlen festzuhalten. Ein ernsthafter Versuch würde aber zumindest voraussetzen, dass der Begriff „Missbrauch“ definiert wird. Davon sind wir weit entfernt.

Antiquierte Disziplinierungsmaßnahmen wie Ohrfeigen werden in der öffentlichen Diskussion sexuellen Handlungen, die nicht nur aus heutiger Sicht, sondern auch zum Zeitpunkt der vermeintlichen Tat strafbar gewesen sind, gleichgesetzt. Dort, wo es um Sexualität geht, wird kaum ein Versuch unternommen, schwerwiegende Missbrauchsfälle von solchen Erfahrungen zu trennen, die als anstößig, ärgerlich oder einfach nur als trivial zu bewerten sind. Schilderungen expliziter sexueller Inanspruchnahmen werden solchen gleichgestellt, die einen qualitativ anderen Vorfall schildern als eine Vergewaltigung. Ein Mann erklärte bei seinem Outing als Missbrauchsopfer, er sei am Canisius-Kolleg wiederholt über seine sexuellen Gefühle ausgefragt worden. (3) Ein anderer erzählte, wie die Schüler vor den Augen der Priester duschen und ihre Genitalien einseifen mussten. Wieder andere, dass sie nach dem Onanieren eine Kerze anzünden sollten.

Derlei Ereignisse beschreiben ein schulisches Klima, in dem Sexualität als Sünde und Problem gewertet wurde. Dass einige der traktierten Schüler die Verlogenheit einer solchen Erziehung anprangern und mit dem Katholizismus gebrochen haben, ist nachvollziehbar. Sicher ist aber auch, dass ihre Schilderungen erst dadurch richtiges Gewicht erhalten, wenn sie unter dem Oberbegriff Missbrauch geführt werden. Dabei warnte die kürzlich verstorbene Publizistin Katharina Rutschky schon 1992 vor undifferenziertem Gerede über sexuellen Missbrauch. Wenn jede Erniedrigung und jede Überschreitung der Schamgrenze als Missbrauch bezeichnet werde, dann treibe dies die Opferzahlen in die Höhe, verhindere aber nicht, dass Missbrauch im öffentlichen Bewusstsein immer mehr mit der Vergewaltigung von Kleinkindern gleichgesetzt werde. Es finde demnach, so Rutschky, gleichzeitig eine Entgrenzung der Probleme wie eine ungeheure Dramatisierung statt. (4) Die Folge der Dramatisierung ist Panik, weil Missbrauch überall und jederzeit vermutet wird. Die Folge der Entgrenzung ist, dass es wirkliche Opfer umso schwerer haben, als solche erkannt zu werden, was die denkbar schlechteste Voraussetzung für Hilfeleistung an Orten ist, wo sie wirklich gebraucht wird.

Mit welchem Recht wird die gegenwärtige Diskussion von den Missbrauchsexperten als ein Befreiungsschlag für die Gesellschaft bezeichnet? Wissen wir, ob sich alle Vergewaltigten darüber freuen, auf Schritt und Tritt an vergangenes Leid erinnert zu werden? Ist es hilfreich, wenn wir Menschen bewusst oder unbewusst dazu drängen, jede Anstößigkeit oder Ungerechtigkeit im Nachhinein als Missbrauch zu interpretieren und vielleicht sogar gegenwärtige Probleme darauf zurückzuführen? (5) Ist es vorteilhaft, wenn uns eingeredet wird, dass jede negative Kindheitserfahrung das weitere Leben zwangsläufig prägen und beeinträchtigen wird, wie dies viele Kommentatoren gedankenlos tun? Unverantwortlich ist der Kollateralschaden für die Gesellschaft. Er manifestiert sich als Angst und Misstrauen vor allem zwischen den Generationen. Die aktuelle Kampagne zerstört Vertrauen, weil sie mit der Vorstellung einhergeht, wir hätten es überall mit potenziellen Kinderschändern zu tun. Kaum ein Sportlehrer darf es heute noch wagen, einem Kind Hilfestellung beim Turnen zu geben. (6) Erzieherberufe werden für junge Männer zum Tabu. In Großbritannien, wo das Thema schon länger dominiert, dürfen Eltern ihre Zöglinge nicht einmal mehr bei Sportveranstaltungen fotografieren. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Kinderbuchautor heute beschreiben würde, wie ein verzweifeltes Mädchen einen geduldigen Zuhörer und Ratgeber im älteren, alleinstehenden Nachbarn findet, so wie es seinerzeit Erich Kästner tat. (7) Stets und überall werden heute zum vermeintlichen Kinderschutz dunkle Hintergedanken vermutet.

Als in den 90er-Jahren die Missbrauchspanik schon einmal ihr Unheil trieb, hatte mein Vater (drei Kinder, vier Enkel) einige neugierige Jungen zu sich ins Haus eingeladen, weil sie seine Druckmaschine sehen wollten. Als eine der Mütter ihn daraufhin nicht mehr grüßte, fragte er entrüstet und verletzt: „Denkt die, ich bin ein Kinderschänder?“ Ist das die Art von Befreiung, die uns Missbrauchspaniken bescheren und über die wir froh sein sollen? Ich fürchte mich eher vor einer Gesellschaft, der die Grundlage des Vertrauens fehlt und in der spontane Hilfsbereitschaft jederzeit einen Verdacht hervorrufen kann.

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