01.04.2010
Mehr als Mittel zum Zweck
Essay von Tobias Prüwer
Es ist naiv, Technik als neutral zu beschreiben und die Ingenieurssicht zur Zentralperspektive zu erklären.
„Gesellschaft und Technik sind seit dem Beginn des neueren Zeitalters so ineinander verflochten, dass die Frage nach der Priorität von Wirtschaft oder Technik an die mahnt, ob das Huhn oder das Ei zuerst dagewesen ist.“ (Theodor W. Adorno)(1)
Früher waren es Webstühle, die den Menschen die Arbeitsplätze wegnahmen, heute macht das Internet als rechtsfreier Raum die Zeitungsbranche platt: Technikdämonisierung hat eine lange Tradition – und entlarvt sich oft schon selbst. Auf Technik-Apologeten trifft das nicht unbedingt zu. Das mag daran liegen, dass es sie in einer Vielzahl gibt und das Bild von der neutralen Technik, die nur Mittel zum Zweck sei, spontan plausibel scheint. Der Technikbegriff gibt sich unproblematisch: Leben wir doch in einem technischen Zeitalter und gehen täglich zielsicher mit allerlei Gerät um. Wie bei allen Selbstverständlichkeiten verliert sich auch hier aber die Gewissheit, schaut man genauer hin. Dabei wird deutlich: Die sorglose Beschreibung als neutrales Werkzeug ist der Technik ebenso unangemessen wie ihre generelle Verdammung. Dem Phänomen des Technischen wird man nämlich nur gerecht, wenn man es von mehr als einem Punkt her denkt.
Begriffsangebote
Etymologisch wurzelt der Begriff im griechischen techné, was praktisches Können, Kunst und Fertigkeit bedeutet: Technik umfasst das ganze Feld menschlicher Praxen, von der Bananenflanke bis zum Schönschreiben. In diesem Sinne ist es zulässig, von der Technik der Künstlerin ebenso zu sprechen wie von der Technik des Rechnens – nicht zu verwechseln mit Rechentechnik. Solche Daten verarbeitenden Programme und Geräte sind paradigmatisch für den anderen Pol der Technik-Definition: Als Werkzeug charakterisiert, ist sie quasi eine Verlängerung unserer Gliedmaßen und erweitert den Möglichkeitsspielraum. Der Bagger verstärkt die Arme, das Fernglas schärft die Augen; in Form von Prothesen ermöglicht sie das Menschenunmögliche: Wir sind schneller als der Gepard, können Himmel und All durchmessen.
So gebräuchlich sie sind, so mangelhaft sind diese zwei Definitionsangebote. Ist jede menschliche Fertigkeit gleich Technik, erübrigt sich alles weitere Nachdenken. Und ist Technik bloßes Werkzeug, bleibt nur die Frage nach der begrifflichen Demarkationslinie zwischen Menschen und Tieren, die schließlich auch wunderbar werkzeughaft mit Steinen und Ästen hantieren. In diesem Spannungsfeld findet sich ein Vermittlungsversuch, der Technik als in Artefakten und Apparaten eingebettete Intelligenz beschreibt. Er schränkt Technik nicht auf materiale Objekte ein und trägt dem Können-Aspekt zumindest als Verstandgebrauch Rechnung. Der Wermutstropfen: Technik wird mit „Technologie“ gleichgesetzt und der vage Status der eingebetteten Intelligenz einfach kaschiert.
Wurde Technik bisher nur als zweckrationales Mittel betrachtet, so unterläuft ein vierter theoretischer Versuch diesen Ansatz, indem er sie als eine Perspektive begreift, der Welt gegenüberzutreten. Die Formen menschlichen Kulturschaffens – etwa die Kunst – treten hier als verschiedene, aber gleichrangige Paradigmen auf. Technik ist demnach eine Weise, die Welt zu sichten unter dem Gesichtspunkt der Machbarkeit und des Produzierens. Dieses Konzept fängt die Mängel der anderen ein und denkt Technik als einziges explizit kulturell und sozial.
Natur versus Kultur
Besonders in ökologischen Diskursen wird Technik als „unnatürlich“ betrachtet. Hier wird eine Dichotomie entworfen, welche einerseits die „reine“ Natur beschwört und im Gegenzug Technik als „künstlich“ verteufelt. So selbstverständlich die Umweltzerstörung ernst zu nehmen ist, stellt sie nichts typisch Modern-Technisches dar. Der Mensch hat sie bereits ohne AKW und Öltanker gekonnt in Szene gesetzt; man wende sich nur der seit antiken Tagen verkarsteten Mittelmeerküste zu. Weist man der Natur einen intrinsischen Wert zu, steht man zudem auf dünnem Boden. Es gibt keine Natur per se, denn auch ein solches Naturverständnis ist sozial, also vom Menschen konstruiert, was auch auf das ästhetische Naturerlebnis zutrifft. Bis zum 19. Jahrhundert bspw. waren Gebirge keine willkommene Aussicht, sondern Ort des Ominösen. Ihr Wohlgefallen wurde erst „entdeckt”, als in der Industrialisierung die Technik mehr und mehr die menschliche Umwelt prägte und zur neuen natürlichen, weil alltäglichen Lebenswelt wurde. Im Zuge der neuen Künstlichkeit wurde Natur nur idealisiert, was sie fernab von der materiellen Existenz von Bergen und Wäldern nicht davon löst, kontaminiert zu sein von kulturellen und sozialen Verhältnissen.
Verwendungszusammenhänge
Einerseits als Befreierin gefeiert, die Menschheitsträume einlöst und fortwährend den Lebensstandard erhöht, wird Technik andererseits als Übel verdammt, das zu Uniformität des Lebens sowie Entfremdung führt. Beide Sichtweisen verkennen, dass es nicht sinnvoll ist, von Technik als eine Art Ding an sich zu sprechen. Technik steht dem Menschen nicht einfach gegenüber, sondern ist immer schon kulturell eingebettet und kann deshalb gar nicht neutral, von Werten abgestreift vorgestellt werden. Jeder technische Apparat ist in einen Verwendungszusammenhang eingebunden und durch besondere Prämissen vorstrukturiert, seien es Weltanschauungen, Lebensstil oder Gender. Das zeigt sich am oft bemühten „Otto Normalverbraucher“, welcher häufig lediglich das Synonym ist für: männlich, weiß, Mittelklasse.
Wie alles Handeln zielt auch das technische darauf, die Welt zu interpretieren. Ihm wohnt eine Weltsicht inne, ein spezifischer Zugang, die Welt zu verstehen. So wie Technik unsere Erfahrung transformiert, übt sie gleichfalls einen Einfluss auf die kulturelle Wahrnehmung aus. Aufgrund ihrer sozialen Einbettung ist Technik nicht ohne Relation zur ökonomischen Dimension zu denken.
In unserer Technokultur sind (Ingenieur-)Wissenschaften, Technik/Technologien und Kapitalismus eng miteinander verzahnt. Daher spielt die Frage nach Machtverhältnissen – und sei es nur im Sinne von Verfügungsmacht – eine Rolle: „Industries which have accumulated political and economic power through the development, marketing and use of technology are out of the control of individuals and their governments.“(2) Das schlägt sich in der zunehmenden Monopolisierung von Wissen bis hin zur Patentierung genetischer Codes nieder, ist dokumentiert durch hoch komplizierte Sicherheitssysteme und elitäre Zugriffshierarchien. Besonders deutlich wird dies anhand der Versorgungsindustrien, die zum Beispiel Kraftstoff oder Elektrizität produzieren. Ein Geflecht aus Macht und Technik lässt sich auch auf Ebene der internationalen Politik etwa im Namen von Entwicklungshilfe, im Zuge von Embargos als Druckmittel oder am Besitz von Nukleartechnik, der Staaten Sonderstatus verleiht, zeigen.
Vom Mittel zum Zweck
Seit Anbruch der Neuzeit wird technischer Fortschritt automatisch als Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt gedeutet, Interpretationsleistungen bezüglich des guten Lebens hingegen sind bis dato bescheiden. „Erkenntnisproduktion zur Produktionssteigerung“ lautet die Formel der Hochzeit von Ökonomie und Wissenschaft. Sie hat sich insbesondere im Bereich technischer Innovationen gebärfreudig niedergeschlagen. In einem erstaunlichen Wechselverhältnis ziehen Erfindungen Nutzen aus wissenschaftlicher Forschung, während diese auf technischen Apparaten basiert. Und die ökonomische Perspektive bestimmt die Richtung von Entwicklung und Forschung. Das Zweck-Mittel-Verhältnis tritt in neuer Gestalt auf, ist zirkulär. Einst ungesteuert erzeugte technische Zwecke können zu Notwendigkeiten werden.
Ein Bonmot Wittgensteins mahnt zur Mäßigung vor allzu großer Euphorie: „Menschen haben geurteilt, ein König könne Regen machen; wir sagen, dies widerspreche aller Erfahrung. Heute urteilt man, Aeroplan, Radio etc. seien Mittel zur Annäherung der Völker und Ausbreitung von Kultur.“(3)
Selbstverständlich hat Technik das Leben vielfach verbessert, vereinfacht, verlängert. Es muss aber auch die zunehmende technische Einflussnahme auf alle persönlichen und gesellschaftlichen Bereiche in den Blick geraten. Dass der technische Fortschritt mehr Arbeitsplätze vernichtet als geschaffen hat, ist aus ökonomischer Perspektive nur folgerichtig, gesellschaftspolitisch aber ganz anders zu bewerten, selbst wenn es sich bei den entfallenen Beschäftigungen gewiss nicht um Traumberufe gehandelt hat. Der entwicklungsmotivierende Traum vom Schlaraffenland, in dem sich dank Maschinen alle Menschen in poetischen Freuden ergehen, ist noch nicht umsetzbar und kann ökonomisch gar nicht gewollt sein.
Eigenmächtigkeit
Technik besitzt planetare Ausbreitung und hat alle Bereiche tief durchdrungen. Die technischen Interdependenzketten nehmen zu. Manchem werden die allumspannenden Techno-Strukturen gar zum Zeichen menschlicher Ohnmacht. Das ist Unsinn; Technik aber ist zur Institution geworden und ist somit nicht mehr so ohne Weiteres steuerbar, wie es die These von der Technik-Neutralität suggeriert.
Zudem haftet den technischen Systemen ein Moment des Unausweichlichen an. Wusste Daidalos noch um die Gefahr seiner Erfindung, so sind für uns die oft irreversiblen Konsequenzen nicht mehr überschaubar. Es scheint, als habe die Befreiung des Menschen von Naturzwängen durch Technik andere, eben technische Zwänge erzeugt. Sowohl die vorhergesagten apokalyptischen Szenarien zur Jahrtausendwende als auch die Anstrengungen, sie zu verhindern, illustrieren dies. Selbstverständlich lassen sich Negativeffekte einer Technikeinführung oft durch technische Lösungen neutralisieren. Wenn aber eine PowerPoint-Präsentation in einer UN-Versammlung Argument genug ist, einen Krieg vom Zaun zu brechen, gewinnt die Technik-Dependenz gespenstische Züge.
Um ein Beispiel zu geben, wie sehr Technik die Gesellschaft formen kann, braucht man nur an den enormen Einschlag zu denken, den die Erfindung des Automobils gehabt hat: Straßen mussten gebaut und Landschaften restrukturiert werden; neue Industriezweige erwuchsen wie die Ölindustrie, welche zu einer der mächtigsten Branchen weltweit wurde; administrative Institutionen wurden gegründet, die beschäftigt sind mit der Registrierung von Fahrzeugen und Haltern, Versicherungen und Straßenbaubürokratie; ein weiterer Sektor, um Steuern zu verwenden, tat sich auf; und in Form von Verkehrsunfällen – um von Umweltverschmutzung und -zerstörung gar nicht zu sprechen – zeigte sich eine neue Gefahr für das tägliche Leben.
Im Gestell
Wir hausen in technomorpher Umgebung. Versteht sich der Mensch immer aus seiner Lebenswelt heraus, dann ist auch das Technische ein solches Medium. Wie sieht diese Weltauslegung aus, und wie äußert sie sich in unserem Selbstverständnis?
Der Technik unterliegt ein totalisierender Wesenszug, die Tendenz, alles ihrem Zugriff auszuliefern und unter die Nutzungsperspektive zu stellen. Das meint Heidegger, wenn er vom „Ge-stell“ raunt: „Daraus erwächst eine völlig neue Stellung des Menschen in der Welt und zur Welt. Jetzt scheint die Welt wie ein Gegenstand, auf den das rechnende Denken seine Angriffe ansetzt, denen nicht mehr soll widerstehen können. Die Natur wird zu einer riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie.“(4)
Die Hegemonie technischer Weltauslegung blendet andere mögliche Weltzugänge aus. Unter dem Paradigma der Exploration verwandelt sich das soziale Gesichtsfeld ins technische Raster, in welchem die ganze Welt lediglich als Ressourcenquelle erscheint. So reden wir von Arbeitskraft und Humankapital, wenn wir eigentlich Menschen meinen. Technik ist ein primäres Medium menschlicher Selbstauslegung geworden. Wir ordnen unser Weltbild nach den Kategorien eines technisch-wissenschaftlichen Rahmens, in dem das Maschinenattribut Effizienz(5) das Maß aller Dinge ist und der kybernetische Regelungs- und Steuerungsgedanke(6) alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Die Reduktion auf das Funktionieren aber führt zur lebensweltlichen Eindimensionalität. Im täglichen Sprachspiel hat sich La Mettries lapidarer Befund längst durchgesetzt: „Der Mensch eine Maschine“. Im „Walten und Schalten“ „funktionieren“ wir, arbeiten manchmal im „Leerlauf“, fehlt uns der „Antrieb“ oder sind wir „ausgebrannt“. Wir quantifizieren Charakter und Intelligenz, um diese auch den Apparaten zuzuschreiben. Die Subjekte des technischen Fortschritts sind auch zu seinen Objekten geworden. Wer z.B. weiß noch, dass in der vertrauten Anordnung der QWERTZ-Tastatur die gebräuchlichsten Lettern nur deshalb am weitesten auseinander stehen, damit die Typenhebel in der Schreibmaschine nicht verklemmten?
Freiheit, Verantwortung und Mitbestimmung
„Our technologies […] speak silently, covertly, and are seldom seen as central to political or cultural discourse.“(7) – Statt Technik weiterhin fraglos zum Neutrum zu erklären, sollte insbesondere vor Markteinführungen erörtert werden, wessen Werte der jeweiligen Technik zugrunde liegen, inwieweit politische Entscheidungen aus der Ingenieursperspektive getroffen werden oder von technisch-wirtschaftlichen Überlegungen abhängen. Das alles soll und kann gar nicht dazu führen, das Technische per se zu verdammen. Es gehört zu unserer Welt, ist eine unserer Lebensformen. Doch gilt es, nicht der Hybris zu verfallen, in der Technik aller Probleme Lösung zu erspähen. Unsere Techno-Kultur reduziert tendenziell soziopolitische Themen auf technische. Technikentwicklung darf aber nicht Zweck in sich selbst sein. Bereits Bacon hat auf die Gefahr solcher Absolutsetzung hingewiesen, als er sinngemäß schrieb, Technik heiße, auf ein tieferes Verständnis unseres Tuns zu verzichten und das zu tun, was funktioniert. Das technische Denken kann viele Fragen nicht beantworten, die das Leben an uns stellt, die technischen Be-Schreibungen der Welt reichen nicht hin. Denn den Rahmen unseres Tuns kann es nicht reflektieren. Die Fragen nach Freiheit, Verantwortung, Risiko und Mitbestimmung stehen auch zukünftig zur Erörterung. Und diese kann nur vollzogen werden, wenn wir uns die Pluralität der Weltzugänge offen halten und das Denken in Maschinenkategorien nicht zur Zentralperspektive erklären.