01.04.2010

Mit dem Plastiklöffel im Mund

Essay von Herbert Uhlen

Wie man um die ganze Welt reist und am Ende immer noch keine Ahnung von Kunststoffen hat, zeigt Ian Connacher in seinem Film Plastik über alles.

„I was born with a plastic spoon in my mouth – Ich wurde mit einem Plastiklöffel im Mund geboren.“ So sangen in den 60er-Jahren The Who. „Substitute“ hieß das Lied und handelte von einem jungen Menschen, der sich als nutzlos, als Ersatz empfand und dessen Plastiklöffel auch nur billiger Ersatz war. Was damals mit frischem Beat daherkam, wurde später in der Umweltbewegung zu einer Klage über die Wegwerfmentalität, verbunden mit einer Mahnung zur Schonung der Rohstoffressourcen und dem Aufruf zu bescheidenerem Konsum.
Auch der Kanadier Ian Connacher fühlt sich berufen, mit seinem Film Plastik über alles (Addicted to plastic)(1) zu klagen, zu mahnen und aufzurütteln. Von Bescheidenheit im Sinne der grün-alternativen Bewegung ist bei ihm allerdings nichts zu spüren. Er ist stolz darauf, innerhalb von zwei Jahren für seinen Film zwölf Länder auf fünf Kontinenten besucht und dabei 160.000 Kilometer zurückgelegt zu haben. Auch die Tatsache, dass er bei seiner Tour 200 Hotelzimmer belegt hat, hält er für mitteilenswert. Er ist nicht der Typ, der auf seinen ökologischen Fußabdruck achtet oder nach Möglichkeit weite Wege vermeidet. Während er aufrüttelnde Worte spricht, sieht man ihn als coolen Typ mit Sonnenbrille am Steuer eines Autos sitzen, unterwegs im Dienst der Investigation.

Dazu gehört auch die Selbst-Investigation. „Ich war abhängig von Plastik … Alles in meinem Leben war zum Wegwerfprodukt geworden, mein Essen, meine Möbel, und wie sich zeigte, auch meine Freundin und mein Job.“ Wie diese rätselhaften Worte zu verstehen sind, bleibt offen. Aber es geht ja auch hauptsächlich um Höheres: „Wir könnten still und leise an Plastikvergiftung zugrunde gehen. Deshalb schlage ich Alarm.“ Worin die Gefahr der Vergiftung der ganzen Menschheit durch Kunststoffe, besteht, bleibt ungeklärt. Ausdrücklich wird die Analogie zum Römischen Reich erwähnt, das einer Hypothese zufolge auch wegen der schleichenden Vergiftung der Menschen durch Wasserrohre aus Blei unterging.
Der Film handelt überwiegend von kurzlebigen, kleinteiligen Kunststoffartikeln, die das Meer und andere Landschaften verschandeln. Langlebige Bauprodukte wie Fensterrahmen oder Rohre kommen nicht vor. Selbstverständlich sieht die größte offene Mülldeponie der Stadt Delhi nicht angenehm aus und wird dominiert von Kunststofffolien und -behältern. Der Autor verwendet aber keinen Gedanken darauf, wie bei einem 18 Millionen Einwohner zählenden Ballungsraum die Versorgung mit Lebensmitteln aussehen würde, gäbe es keine Verpackungen aus Kunststoff.

Einen Gebrauchsnutzen kennt der Autor nicht. In seiner Sicht richten Kunststoffprodukte Schaden an und/oder machen den Menschen abhängig. „Je genauer ich hinsah, umso klarer wurde mir: ex und hopp, so ist das mit den Kunststoffen.“ Nein, er hat nicht genau hingesehen. So hängt z.B. die Einsatzdauer der Artikel selbstverständlich von ihrer Aufgabe ab. Der Joghurtbecher wird nach kurzer Zeit zu Abfall, weil der Inhalt nach kurzer Zeit verzehrt wird. Eine Verpackung führt kein Eigenleben, sondern hängt in ihrer Einsatzdauer von dem zu verpackenden Gut ab. Ein Telefongehäuse aus Kunststoff bleibt viel länger im Einsatz, so lange, bis das Telefon wegen neuer Technik ausgetauscht wird. Wäre das Gehäuse aus einem anderen Material, würde genau das Gleiche gelten.
Ein Experte, der mehrfach zu Wort kommt, und dessen Ausführungen sich der Autor offenbar zu eigen gemacht hat, meint, Weichmacher würden Kunststoff erst formbar machen. Das hat er nicht richtig verstanden. Thermoplastische Kunststoffe sind formbar, weil sie durch Erwärmen weich werden. Mit dem Zusatz von Weichmachern hat das nichts zu tun. Weichmacher bewirken, dass ein Kunststofferzeugnis bei Gebrauchstemperatur biegsam ist, wie z.B. ein Bodenbelag. An dieser Stelle wäre der Hinweis angemessen gewesen, dass die Variation der Gebrauchseigenschaften mittels Weichmachern eine Besonderheit von PVC ist. Es kann beileibe nicht jeder Kunststoff Weichmacher aufnehmen. Für den Autor gilt aber: Plastik ist Plastik, und die Funktion der Weichmacher hat er ohnehin nicht verstanden.

Einen breiten Raum nimmt das Thema Recycling ein. Hier zeigt sich eine Mentalität, die typisch für Nordamerika zu sein scheint: Was mit alten Produkten passiert, ist egal; Hauptsache, es wird irgendwas damit gemacht. So kann der Autor, der eigentlich auf einige schwerwiegende Nachteile des Kunststoffgebrauchs hinweisen will, andererseits die Verwertung von Mischabfällen zu Parkbänken oder Eisenbahnschwellen als vorbildliche Initiativen vorstellen. Aber auch beim Thema Recycling sind die Begriffe des Autors verworren. Einerseits hält er es für minderwertiges „Downcycling“, wenn neue Kunststoffprodukte nicht vollständig aus den alten gefertigt werden können; andererseits ist mit Parkbänken aus Mischabfällen für ihn die Welt einigermaßen in Ordnung.
Sogenannte „Biokunststoffe“ dürfen natürlich nicht fehlen, wobei der Autor hierzu ebenfalls schlampig recherchiert hat: Die pflanzliche Herkunft der Rohstoffe für Kunststoffe und die später zum Tragen kommende biologische Abbaubarkeit sind zwei Merkmale, die keineswegs notwendigerweise gekoppelt sind. Für den Autor spielt das keine Rolle. Hauptsache ist, irgendwas mit „Bio“ kommt vor – am besten ist es, man kann es auch noch essen. Ein Hersteller, der Hühnerfedern als Rohmaterial für einen Kunststoff verwendet, nimmt im Film demonstrativ ein Stück seines Materials in den Mund und kaut darauf herum. Er will damit klar machen, dass es sich um Protein handelt. Eine völlig unsinnige Demonstration! Niemand nimmt das Ausgangsmaterial, Hühnerfedern, in den Mund, um darauf hinzuweisen, dass es sich um Protein handelt.
Auch das Zauberwort „biologische Abbaubarkeit“ führt leicht in die Irre. Es gibt nützliche Anwendungen für kompostierbare Kunststoffe. Pflanztöpfe, die nach einiger Zeit verrotten, nachdem man sie mit den Pflanzen in den Boden gesetzt hat, sind eine sinnvolle Sache. Von Wasserrohren dagegen erwartet man, dass sie viele Jahrzehnte im Boden ihren Dienst tun. Die „biologische Abbaubarkeit“ ist daher keineswegs ein Wert an sich.

Wiederverwertung ist ein vielschichtiges Betätigungsfeld; die folgende flapsige Bemerkung des Autors trägt allerdings nicht zur Klärung bei: „Weil die Hersteller und Recycler nicht dem gleichen Golfclub angehören, wissen die Recycling-Unternehmen nie, mit welcher Art von Produkten sie zu rechnen haben.“ Womit die Recycler zu rechnen haben, hängt davon ab, wo die Altprodukte eingesammelt wurden. Wer ausgebaute Kunststofffenster einsammelt, der weiß, womit er es zu tun hat. In Mischabfällen finden sich natürlich verschiedene Kunststoffe in verschiedenen Rezepturen. Das ist eine Folge der sehr verschiedenen und jeweils hohen Anforderungen, die an die Produkte gestellt werden. Es werden unterschiedliche Leistungen erwartet von einer DVD, einer Kontaktlinse, einer Verpackungsfolie, einem Fensterrahmen, einem Stoßfänger am Auto usw.
Anfangs dominiert im Film eine warnende und alarmierende Haltung. Dann aber setzt sich die Auffassung durch: Ohne Kunststoffe wollen wir gar nicht leben. Wie die damit verbundenen Probleme zu lösen sind, wissen wir noch nicht, aber es ist schön, dass sich so viele Menschen auf den Weg machen, Lösungen zu finden. Auf jeden Fall erfahren die Zuschauer, dass dem Autor die zweijährige Arbeit an seinem Werk mit Reisen in alle Welt gefallen hat. Über die Welt der Kunststoffe erfahren sie leider nicht viel.

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