01.04.2010

Kreml-Regierung für Europa

Kommentar von Bruno Waterfield

Bei der Ernennung ihrer neuen Repräsentanten täuscht die EU nicht einmal mehr demokratische Gesinnung vor.

Hinter verschlossenen Türen und unter Bedingungen höchster Geheimhaltung wurden zwei der höchsten öffentlichen Ämter der Europäischen Union auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners vergeben. Diese Entscheidung eines Konklaves europäischer Führer markiert eine wichtige Stufe in der Evolution europäischer Institutionen. Eine Staatsform ist entstanden, deren politische Methode den Bezug zur Öffentlichkeit vollkommen verloren hat.

Hermann Van Rompuy, der belgische Premierminister, und die britische Lady Ashton, die niemals in ihrem Leben in ein öffentliches Amt gewählt wurde, verkörpern den Geist einer introvertierten und defensiven politischen Elite, die es aufgegeben hat, ihre eigenen Gesellschaften zu führen oder zu repräsentieren – sowohl auf der Weltbühne als auch innenpolitisch. Beide sind antipolitische Führer in dem Sinne, dass keiner von ihnen durch demokratisch ausgetragene Kämpfe in ein hohes Amt gelangte. Van Rompuy – ein exzentrischer, doch ausgesprochen traditioneller Politiker mit schriftstellerischer Ader – ist ein gerissener Apparatschik, der seine Rücksichtslosigkeit und seinen ungebrochenen politischen Aufstieg hinter quirligen literarischen Anflügen versteckt und dabei in aufgesetzt wirkender Weise zur Schau stellt, er habe doch nie belgischer Premierminister, geschweige denn der neue EU-Präsident werden wollen.(1) Dass er dennoch Premierminister wurde, war nicht das Resultat einer Wahl durch das belgische Volk, sondern einer Ernennung durch König Albert II., nachdem ein Finanz- und Justizskandal Yves Letermes unbeliebte Regierung erschüttert hatte.

Van Rompuys gemäßigter europäischer Föderalismus, eine Position, die in Belgien auf verlorenem Posten steht, ließ schnell die chauvinistischen euroskeptischen Zeitungen Großbritanniens aufschäumen.(2) Doch es sind nicht seine milden Anflüge eines europäischen „Superstaates“, die hier das Problem sind. Sechs Monate, bevor er im April 2008 belgischer Premierminister wurde, missbrauchte er seine Position als Vorsitzender des belgischen Parlamentes, um eine politisch ungemütliche Debatte abzubrechen.(3) Oppositionspolitiker meinen, er habe das Auswechseln der Schlösser zum Plenarsaal des Parlamentes veranlasst, damit die Parlamentarier nicht in ihr eigenes Parlament kommen konnten. Diese Taktik wurde als „Staatsstreich“ beschrieben.

Vielleicht die erstaunlichste Entwicklung ist aber der Aufstieg von Lady Ashton zur Hohen Repräsentantin, eine Position, die laut gescheitertem EU-Verfassungsvertrag eigentlich die des Außenministers der Europäischen Union sein sollte. Ihre Ernennung symbolisiert den politischen Zerfall von New Labour; sie zeigt die britische Vorreiterrolle in antidemokratischen Praktiken sowie die zunehmende Selbstbezüglichkeit der europäischen Führungsriegen auf.

Ashtons kometenhafter Aufstieg – von CND- und Labour-Aktivismus über eine Reihe von Quango-Ernennungen bis hin zur Außenbeauftragten der Europäischen Union in weniger als einem Jahrzehnt – macht deutlich, in welchem Ausmaß bürokratische Manöver die Bedeutung allgemeiner Wahlen verringert haben und wie das demokratische und öffentliche Leben aus der Politik verdrängt worden ist. Ashton verdankt ihre Ernennung jedenfalls keinerlei politischen oder persönlichen Verdiensten. Sie hat keine Reputation im politischen Leben, verfügt über keine Kenntnisse in politischen oder internationalen Angelegenheiten und hat sich nie einem demokratischen Wahlkampf gestellt. Ashtons achtjährige Reise vom Vorsitz der Hertfordshire Health Authority bis hin zur Außenbeauftragten der EU illustriert, dass die EU eben nicht der beschworene „Superstaat“ ist, sondern eine Fortsetzung nationaler Institutionen und Praktiken auf der europäischen Ebene. Es lässt dabei tief blicken, dass Ashtons Sprungbrett zum europäischen Amt das britische Oberhaus, das House of Lords war. Hatte sich Labour einst der Abschaffung dieses nicht gewählten politischen und legislativen Organs verschrieben, so lehnt sich heute immer mehr daran an. Ashton wurde 1999 von Tony Blair zum lebenslangen Mitglied des Oberhauses ernannt. Gordon Brown gab ihr einen Job in seinem ersten Kabinett als Vorsitzende des House of Lords, als die Regierung einen neuen Tiefststand ihrer Popularität erreichte und die Führungskader New Labours sich zunehmend in selbstzerstörerischen Scharmützeln verloren.

Ashtons bedeutendste politische Leistung bestand darin, den Lissabonner Vertrag (der ihren Posten als Außenbeauftragte schließlich schuf) durch das britische Oberhaus zu peitschen und auf diese Weise jede Hoffnung auf ein britisches Referendum darüber auszulöschen. Im Oktober 2008 ersetzte sie Peter Mandelson als EU-Handelskommissar; Mandelson nahm einen führenden Posten in Browns Kabinett an. Ashton übernahm nun Mandelsons Rolle in Europa, und Labour-Funktionäre begannen damit, David Miliband, Browns Außenminister, als idealen Kandidaten für die Position des europäischen Außenministers zu befördern. Doch Miliband entschied sich dafür, sein Schicksal liege in der zukünftigen Führerschaft von Labour in Großbritannien, und das trotz seiner früheren Begeisterung für den EU-Posten und trotz der vielen Versuche hinter verschlossenen Türen, ihn in diese Rolle zu manövrieren. „Er wäre brillant gewesen, und eine Menge Leute, die ihn unterstützt haben, fühlen sich auf den Schlips getreten“, sagte eine britische Quelle. „Ich hoffe, dass er es nicht in sechs Monaten bereut, denn er könnte einen so viel größeren Einfluss haben als ein Führer der britischen Opposition.“(4)

Dass Miliband fallen gelassen wurde, versetzte Brown in eine ungemütliche Position. Wer sollte nun Großbritanniens Kandidat für die Position des EU-Außenministers werden? Das Problem wurde auf einem Treffen europäischer Sozialisten am 19. November 2009 gelöst. „Sie wollten wissen, warum sich Gordon so geniere, und wo, fragten sie, war eigentlich Herr Miliband, der Mann, den sie für den Job wollten?“, sagte einer, der auf dem Treffen war. „Wenn Miliband nicht verfügbar war, warum dann nicht Lord Mandelson?“(5) Brown musste erklären, dass aufgrund der innenpolitischen Schwierigkeiten Labours sowohl Miliband als auch Mandelson für einen schwierigen Wahlkampf gebraucht würden. Stattdessen bot er Geoff Hoon an, den früheren Verteidigungsminister. „Hoon wurde zurückgewiesen. Er war zu stark mit dem Irakkrieg verbunden, hieß es. Da nun alle Möglichkeiten erschöpft waren, schlug Brown also Ashton als die vierte und letzte Option vor.

„Zuerst herrschte betretene Stille. Man stellte negative Vergleiche zwischen Ashton und Miliband an“, sagte ein Funktionär. „Dann wurde aberklar, dass trotz ihres Mangels an Erfahrung ihre Ernennung als ein großer Wurf in Sachen Gleichberechtigung verkauft werden könnte und dass die Sozialisten sich nun zugute halten konnten, die einzige Frau in eine EU-Spitzenposition befördert zu haben.“ Doch Brown musste nun den anderen EU-Führern Ashton vermitteln, wobei einige Regierungen mit ungläubigem Staunen angesichts ihrer Unerfahrenheit reagierten. Ein hochrangiger Mitarbeiter des französischen Außenministeriums soll kommentiert haben: „Wer? Sie scherzen doch wohl, das ist doch ein Trick. Wo ist Miliband?“ Großbritannien fiel, da es sich als unfähig erwies, einen Kandidaten mit politischen oder sonstigen Verdiensten zu finden, auf Ashton zurück: einer „Quangokratin“ ohne außenpolitische Erfahrung. Sie erprobte sich zwar 13 Monate bei der EU-Kommission, doch ihre Tätigkeit bestand hauptsächlich darin, von ihrem Wohnort St. Albans nach Brüssel zu pendeln.

Diejenigen, die ihre Ernennung verteidigen, müssen schon auf reaktionäre oder konservative Argumente zurückgreifen. Denis Mac Shane legitimierte Ashtons Ernennung im Independent als eine unerlässliche Taktik der Aufrechterhaltung der Autorität New Labours für den Fall, dass die Tories die nächsten Wahlen gewinnen. „Nach zwölf Jahren Labour-Regierung ist nun eine Schlüsselfigur dieser Partei in das Herz Europas eingepflanzt worden“, argumentierte er. „Cathy Ashton wird die Fortsetzung eines proeuropäischen Blairismus mit anderen Mitteln sein.“(6) Ein wenig undemokratisch, aber was soll’s.

Der Guardian meinte, es mache gar nichts aus, dass Ashton nie gewählt wurde, denn „Freunde sagen, Ashton habe nie ihre Lancashire-Wurzeln vergessen. Ihr Titel – Lady Ashton of Upholland – zeige ihre Wertschätzung für den Ort, an dem sie aufgewachsen ist“. Dieses reaktionäre Argument ist das gleiche, mit dem man die Vererbung der Adelstitel begründet, die Mac Shanes Labour-Regierung im gleichen Jahr abgeschafft hatte: nämlich die Betonung der „Wurzeln“ und eben nicht das demokratische Mandat oder die politische Position. „Cathy ist durch und durch ein Mädel Lancashires, ein Produkt der nordwestlichen Sozialdemokratie“, sagte Mac Shane dem Guardian.(7) Daniel Hannan, britischer Europaparlamentarier und eine Kapazität des rechten Parteiflügels der Tories, legte schnell dar, wie selbst ernannte Linksliberale ihre fortschrittliche Vergangenheit hinter sich gelassen haben. „Jedes Kapitel der Geschichte [Ashtons] negiert das demokratische Prinzip. Jede Seite strotzt nur so von willkürlicher Regierungsführung … Wer einem derartigen System widerspricht, ist kein Anti-Europäer, sondern ein Demokrat. Jeder, der für repräsentative Regierungen ist, sollte zornig darüber sein, dass eine lebenslange Quangokratin in geheimer Sitzung für einen Posten vorgeschlagen worden ist, der durch einen Vertag, über den wir nie abstimmen durften, geschaffen wurde“, schrieb er, ebenfalls für den

Guardian. „Lagen die Väter der britischen Demokratie falsch? Geht es uns nun besser, wo eine sich selbst verewigende Regierung existiert? Was für Dummköpfe müssen unsere Väter doch gewesen sein, sollte das stimmen.“(8)

Vor acht Jahren fanden sich in einem Schloss im belgischen Laeken die Führer Europas zusammen, um eine Deklaration, „Europa am Scheideweg“, zu verlautbaren. Sie beschlossen den Text, der, über den Umweg der gescheiterten europäischen „Verfassung“, am Ende in den Lissabonner Vertag mündete. Zu dieser Zeit leistete man noch Lippenkenntnisse darüber, dass die neu zu schaffenden EU-Institutionen demokratische Rechenschaft erforderten. Die Deklaration Laekens sagte: „[Die Wähler] haben häufig das Gefühl, dass europäische Angelegenheiten zu oft außerhalb ihres Blickwinkels erledigt werden, und sie wollen mehr demokratische Kontrolle.“(9) Als der damalige Premierminister Tony Blair kurz darauf vor dem britischen Parlament sprach, sagte er: „Nun haben wir auch die Gelegenheit, die europäischen Institutionen einer größeren öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen“.(10) Wie anders sich doch die Realität heute gestaltet.
Mia Doornaert, eine Expertin im belgischen Außenministerium – und keine Euroskeptikerin –, bezeichnete den Prozess der Nominierung von Van Rompuy und Ashton als „beklagenswert“: „Er war ohne Transparenz, ein Kuhhandel unter Regierungen, ohne dass auch irgendwer wusste, wer eigentlich der Kandidat war“, schrieb sie.(11) Die frühere lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga, eine der öffentlichen Kandidaten für die Präsidentschaft (und gerade deshalb chancenlos), verglich die Prozeduren mit denen der Sowjetunion. Sie warf der Europäischen Union vor, „in Dunkelheit und hinter verschlossenen Türen“ zu agieren: „Die Europäische Union sollte aufhören, sich wie die frühere Sowjetunion zu gebärden.“(12)

Miliband zeigte sich irritiert, dass sich die Medien einer „Kreml-Astrologie“ über die Frage des Ernennungsprozesses hingaben. Kreml-Astrologie war eine Bezeichnung aus den Zeiten des Kalten Krieges; es handelte sich um eine Art Kaffesatzleserei in Hinblick auf die inneren Vorgänge der totalitären sowjetischen Regierung. Der Mangel an öffentlichen demokratischen Kampagnen während der inneren Machtkämpfe hatte dazu geführt, dass westliche Beobachter sich in der Unterscheidung offensichtlich trivialer Verlautbarungen von der wirklich wichtigen politischen Dynamik versuchten. Dazu gehörten etwa die Sitzordnung oder die Entfernung von Porträts. So war es denn nun auch während des Nominierungsprozesses, als Journalisten versuchten, öffentliche Dementis der Kandidatur zu analysieren, um die wahren Absichten der Kandidaten zu erkennen.

Frederik Reinfeldt, der schwedische Premierminister und Vorsitzende während der letzten EU-Präsidentschaft Schwedens, rechtfertigte die Geheimnistuerei damit, die Politiker vor ihren eigenen Wählern schützen zu wollen. Durch die Öffentlichkeit des Ernennungsprozesses werde „den Wählern daheim bedeutet: ich bin dann mal weg nach Europa. Und kurz darauf ist man wieder zurück und sagt, ich habe euch immer noch gern“.(13) Charlemagne, Brüsseler Korrespondent des Economist, stimmte dem zu. „Das Rennen um Spitzenpositionen der EU sollte geheim und elitär verlaufen“, schrieb er.(14) „Der Grundsatz ist sicher der: Wenn die EU irgendeinen Verdienst in großen Führungskräften für diese bedeutenden Positionen sieht, dann ist die Undurchschaubarkeit der zu zahlende Preis.“ Doch nur eine Woche später betrauerte er denn doch das Ergebnis: „Die heutigen europäischen Führer haben wenig Ehrgeiz darin, die Europäische Union zu einem bedeutenden Akteur auf der Welt zu machen, zumindest nicht auf höchster Ebene … Ich fürchte, die beiden ausgewählten Kandidaten sind ein Beispiel für den kleinsten gemeinsamen Nenner. Herr Van Rompuy hatte bislang nicht eine Gelegenheit, seine Regierungskollegen herauszufordern. Lady Ashton bekam den Job nur, weil sich niemand anderer dafür fand (obwohl ihre Unterstützer darauf bestehen, dass man sie immer unterschätzte und dass sie am Ende immer triumphiert)“.(15)

Die defensive Geheimniskrämerei der Europäischen Union zeugt davon, dass sie sich als unfähig ansieht, die Öffentlichkeit zu repräsentieren, geschweige denn politische Führer mit globaler Ausstrahlung hervorzubringen. Öffentliche Debatten ermöglichen die Diskussion über die Vor- und Nachteile von wählbaren Alternativen. Sie sind strenger und unbestechlicher, sie setzen Politiker der Feuertaufe öffentlicher Meinung und Beurteilung aus. Geheime Konklaven hingegen erzeugen antipolitische Führer. Ihre engen, einseitigen und einfallslosen Aktionen beruhen keinesfalls auf einer repräsentativen Sichtweise.

Die EU ist als Institution und politische Praxis eine einzigartige Staatsform, die auf einer Kooperation nationaler Eliten beruht. Dabei schließt sie die europäische Öffentlichkeit aktiv aus. Das prägende Merkmal der europäischen Entscheidungsprozesse ist die Geheimhaltung. Dies ist verkörpert durch die geschlossenen Türen geheimer Treffen. Sein Emblem ist die auf politischen Papieren gestempelte Klassifikation „Streng vertraulich“. Der Lissabonner Vertrag ist beispielhaft für die weite Wegstrecke, die europäische Eliten bereit sind zu gehen, um die Einbeziehung des Volkes zu umgehen. Die Ernennung der Führungspersonen der EU für die vom Lissabonner Vertrag geschaffenen Spitzenpositionen zeigt, dass der europäische Entscheidungsprozess darauf zugeschnitten ist, größtmögliche Privatheit für politische Eliten und maximale Abschottung von öffentlichem Druck und öffentlicher Kontrolle zu gewährleisten. Die Behauptung, die EU „demokratisieren“ zu wollen, wurde fallengelassen. Die EU ist eine öffentlichkeitsfreie Zone.

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