25.02.2010

Handelsware statt Entwicklungspotenzial

Essay von Norman Lewis

Die Entwertung von Patenten zu reinen Finanzwerten stellt eine Bedrohung für Forschung und Innovation dar.

The Economist veröffentlichte am 12. September 2009 einen wichtigen Artikel über einen neuen Trend: Patente mutieren zu finanziell handelbaren Vermögenswerten. Diese „Financialisation“ geistigen Eigentums entspringt dem langfristigeren Trend zu kurzsichtigem Denken. Dies hat zur Folge, dass Patente vom Gedanken der Innovation abgetrennt werden – ein bedenklicher Gezeitenwechsel in der Wahrnehmung einer einst fortschrittfreundlichen Einrichtung.

The Economist stellte heraus, dass sich die Sichtweise von Patenten bereits seit einiger Zeit in diese Richtung verändert: „Was man einmal als ein klobiges rechtliches Vermögensstück betrachtete, entwickelt sich nun zu einem handelbaren Finanzwert.“ Ich halte diesen Trend für problematisch. Er macht deutlich, wie stark die heutige risikoscheue Geschäftskultur mit ihrem Fokus auf kurzfristige und vorhersagbare Marktergebnisse die Bedeutung des Begriffs „Innovation“ verengt hat. Früher betrachtete man Patente als einen Hinweis auf fortschrittliche Erfindungen und Erneuerungen. Heute aber werden sie zum reinen Selbstzweck; sie sollen die Azsgaben von Forschung und Entwicklung (F&E) wieder hereinholen und dabei die Risiken derartiger Investitionen minimieren. Laut The Economist steht diese Entwicklung erst am Anfang. Doch sie wird immer stärker – mit einer jährlichen Wachstumsrate von 20 bis 30 Prozent. Diese Zahl wurde von Coller Capital zitiert, einem Investmentunternehmen, das Patent-Portfolios von IBM in den Bereichen Medizintechnik und Healthcare aufgekauft hat. Auch das milliardenschwere Unternehmen Intellectual Ventures hat Patente im großen Stil gekauft – 27.000, um genau zu sein. Der Patenthandel blüht und zieht immer mehr Unternehmen an.

Dass Unternehmen und öffentliche Einrichtungen Patente verkaufen, ist auf der einen Seite verständlich und auch unumgänglich. Universitäten und Erfinder sehen sich in Zeiten der Rezession und knapper Ressourcen dazu gezwungen, um zu überleben. Doch andererseits verkörpert diese Vorgehensweise, gerade in Hinblick auf finanzstarke Technologiefirmen, eine neue Phase eines kurzsichtigen Pragmatismus, der strategische Erneuerung zusehends an den Rand drückt. Wie Peter Holden von Coller bemerkt: „Zeitlich abgestimmte Patentverkäufe sind eine Methode, mit der Technologiefirmen ihre vierteljährlichen Gewinnziele erreichen.“ Doch damit rückt ein Geschäftsmodell in den Vordergrund, das mittels des Verkaufs geistigen Eigentums zwar pragmatisch verfährt, dabei aber das eigentliche Kerngeschäft, das Teil einer strategischen Unternehmenspolitik sein sollte, außer Acht lässt. Patente werden zum Selbstzweck: Sie dienen nicht mehr der Innovation, die das Unternehmen einmal angestrebt haben mag.

Sicherlich hat die gegenwärtige Rezession das längerfristige Austrocknen der Budgets für F&E beschleunigt. Die Bedeutung des Return on Investment (ROI) im Bereich Forschung und Entwicklung ist gestiegen; zugleich sind die Unternehmen zunehmend risikoavers geworden: Sie scheuen Experimente ebenso wie die Auseinandersetzung mit neuen Ideen. Stattdessen haben sie den Schwerpunkt ihres Geschäfts darauf verlagert, aus bereits existierenden und patentrechtlich gesicherten Positionen Profite zu erwirtschaften. Das hat die Bedeutung von Innovationen dramatisch reduziert. Patente spielen häufig nur noch die Rolle von Verkaufsgütern und potenziellen Einnahmequellen.

Ironischerweise ist gerade die starke Zunahme von Patentanmeldungen eines der deutlichsten Indizien für diese Dynamik. Obwohl gerade zum ersten Mal ein Rückgang der Anzahl global registrierter Patente zu verzeichnen ist, war der Beginn dieses Jahrzehnts von einem explosionsartigen Anstieg bei den Patentregistrierungen geprägt: Mehr als 442.000 Anmeldungen wurden allein 2002 in Europa und den USA registriert – fast doppelt so viele wie ein Jahrzehnt zuvor. In einer aufschlussreichen Studie zum Patentsystem in den USA stellten die Autoren Adam B. Jaffe und Josh Lerner heraus, dass dieser Anstieg der Patente eben keine Entfesselung des Erfindergeistes darstellt. (1) Sie argumentierten, dass der Anstieg von einer schlagartigen Vermehrung dubioser Patentauszeichnungen begleitet war. Diese Befunde wurden von James Bessen, einem Forscher an der Boston University’s School of Law, und Robert Hunt, einem Ökonom an der Federal Reserve Bank of Philadelphia, bestätigt: Ihnen zufolge konnten Unternehmen Ende der 90er-Jahre mehr als doppelt so viele Softwarepatente pro in Forschung und Entwicklung investiertem Dollar bekommen als zu Beginn des Jahrzehnts. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass die wachsende Zahl an Patenten den Anstieg an Ausgaben für F&E übertraf.

Die Entwicklung eines finanziell ausbeutbaren Patent-Portfolios wurde zu einer Methode, um die Risiken bei Investitionen in F&E und im Wettbewerb zu minimieren. So hat beispielsweise IBM in den 90er-Jahren über eine Milliarde Dollar jährlich mit seinemihrem Patent-Portfolio verdient, während HP seine Einnahmen aus seinem Lizenzgeschäft in weniger als drei Jahren auf über 200 Millionen Dollar vervierfachte. Microsoft, ein Unternehmen, das 1990 nur fünf Patente hatte, erwarb schnell Tausende von Patenten. So wie viele andere große Unternehmen schuf Microsoft eine neue Unternehmenseinheit, die die Technologiepositionen verkaufte oder deren Weitergabe unter der Bedingung der Beteiligung an Start-up-Unternehmen veranlasste. Das Ergebnis war ein schlagartiger Anstieg an juristischen Streitigkeiten bei Patentfragen.

Der Anstieg juristischer Querelen über Patente hat Anwälten eine Schlüsselrolle im ökonomischen Wettbewerb verschafft – sie gewinnen im Vergleich zu Unternehmern und Forschern immer mehr an Einfluss. Auf Lizenzrecht spezialisierte juristische Abteilungen haben mittlerweile schon oft ihren kleineren Rivalen stattliche Geldsummen aus aufgezwungenen Lizenzvereinbarungen abgetrotzt. Texas Instruments beispielsweise hat in den letzten Jahren fast eine Milliarde Dollar auf diese Weise eingenommen. In manchen Jahren übertrafen die Einnahmen aus dieser aggressiven juristischen Vorgehensweise die aus dem Produktverkauf. Doch nicht nur Großunternehmen mit umfangreichen Patent-Portfolios haben ihre Rechtsstreitigkeiten ausgeweitet. Eine neue Praxis des „Patent-Trittbrettfahrertums“ ist entstanden. Google beispielsweise verlautbarte, dass ein Großteil der Unternehmen, von denen sie verklagt würden, diese Klage auf frei erfundenen Patenten basierten. Derartiges Trittbrettfahrertum wird wohl weiter zunehmen, denn geistiges Eigentum unterliegt dem sich verstärkenden Trend der „Financialisation“. Zwar ist Opportunismus sicher nicht neu. Doch die steigende Nutzung von Patenten als finanzielle Vermögenswerte zeigt auf, wie weit (und schnell) der Trend zu einer kurzfristigen Instrumentalisierung in Fragen der Innovation fortgeschritten ist.

Dass dieser Trend keine Zukunftsmusik ist, sondern schon jetzt sichtbar, zeigt die Unternehmenspraxis zahlreicher Konzerne wie etwa Novartis, die große Mengen an Zeit und Geld in juristische Pirouetten investieren, um die Lebensdauer ihrer Patente zu verlängern, anstatt neue zu entwickeln. Das mag zwar kurzfristige Einnahmen erzeugen; lässt jedoch jede langfristige Strategie vermissen. Letztes Jahr erzeugten nur drei forschende Pharmazieunternehmen mehr als zehn Prozent ihrer Einnahmen aus dem Verkauf von tatsächlichen Produkten, die weniger als drei Jahre alt waren. Doch die größte Gefahr, die die Behandlung von Patenten als finanzielle Vermögensgegenstände nach sich zieht, liegt in der institutionalisierten Trennung von F&E und von Innovation. Die Betonung liegt auf dem schon Gewussten und auf der Ausbeutung des bereits Existierenden. Die Bereitschaft zu langfristig angelegten Experimenten wird man der Firmenkultur auf diesem Wege austreiben. Diesem Trend, der Entdeckungen und unerwartete Ausgänge bedroht, sollten wir widerstehen.

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