25.02.2010

Eine animalische Idee

Essay von Josie Appleton

Warum es moralisch richtig ist, Tiere für menschliche Zwecke zu gebrauchen.

Kürzlich gingen in London sowohl Gegner als auch Befürworter von Tierversuchen auf die Straße. Die einen argumentieren, dass Tierversuche nötig seien, um menschliches Leben zu retten; die anderen vertraten die Auffassung, dass das Leben von Tieren mit menschlichem Leben gleichwertig sei. Eine solche Polarisierung ist typisch für viele Diskussionen. Offenkundig ist dabei, dass das Tierrechts-Lager seit Jahren die moralische Überlegenheit beansprucht. Begründet wird diese mit der Behauptung, dass es reiner „Speziesismus“ sei, menschliches Wohl über das von Mäusen, Katzen oder Affen zu stellen.

Der Tierrechts-Aktivist Peter Singer definiert Speziesismus als „eine einseitige Voreingenommenheit gegenüber den Interessen der eigenen Art, die gegen die Mitglieder einer anderen Art (Spezies) gerichtet ist“. (1) Die Vertreter dieser Denkweise definieren den Kampf gegen den Speziesismus als eine Fortsetzung des Kampfs für die Gleichheit aller Menschen. Wie wir einst andere Menschen aufgrund ihrer Rasse oder ihres Geschlechts entmenschlicht hätten, heißt es, so betrachteten wir offensichtlich noch immer Tiere als minderwertig. Die Argumentation läuft darauf hinaus, dass Speziesismus, Rassismus und Sexismus allesamt Beispiele von „ausgrenzenden Haltungen“ seien.

In seinem Buch The Conquest of Speciesism (Das politische Tier: Der Sieg über den Speziesismus) verweist Richard Ryder darauf, dass Aristoteles der Meinung war, dass Tiere „zum Wohl des Menschen“ existieren, und er dabei ebenfalls auf Sklaven und Frauen abschätzig herabschaute. (2) Kein Zufall, sagt Ryder. Ihm zufolge ist man entweder fürsorglich und erkennt den Wert anderer Lebewesen an, oder man ist selbstsüchtig und denkt nur an sich selbst. Er behauptet, es gebe einen Zusammenhang zwischen der Fürsorge für Tiere und der Fürsorge für Menschen, und führt eine Studie an, nach der die Gegner von Tierrechten bevorzugt männlich seien, Abtreibung ablehnten, etwas gegen Homosexuelle hätten und rassistische Vorurteile erkennen ließen. Eine Studie unter US-Studenten kam zu dem Schluss, dass Befürworter von Tierversuchen unter den Studenten bevorzugt männlich, maskulin im Denken, konservativ und weniger mitfühlend seien. (3)

Als diese Argumente zuerst in den frühen 70er-Jahren vorgebracht wurden, erachtete man sie als verrückten Unsinn und beleidigend. Amerika hatte gerade den schwarzen Bürgern das Wahlrecht zugestanden, nationale Befreiungskämpfe entbrannten überall auf der Welt, und Frauen verbrannten ihre BHs. Die Gleichheit aller Menschen hatte Vorrang. Niemandem lag etwas daran, die Lebensbedingungen der Gorillas im westafrikanischen Dschungel zu verbessern. Heute aber hat die Vorstellung von einem Speziesismus offenbar an Respekt und Beachtung gewonnen und macht sich in einigen Berufsgruppen breit. Der Sozialarbeiter David B. Wolf meint, dass seine Kollegen über ihre Haltung zum Speziesismus nachdenken sollten. Sozialarbeit ziele, so Wolf, darauf ab, das Wohlergehen der Menschen zu fördern und ihnen dabei zu helfen, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Darüber hinaus fordert er, das Thema Speziesismus in die Reflexion über das Selbstverständnis seines Berufes aufzunehmen. (4) Eine schwedische Pädagogin kritisiert indes in einem Artikel die „repressiven Mensch-über-Tier-Strukturen“ in den Schulen und entdeckt Speziesismus in Schulbüchern und bei Schulausflügen. Sie fordert, diese Vorurteile durch „Mitgefühl und Respekt vor dem anderen, im weitesten Sinne des Wortes“, zu ersetzen. (5) Ein Kulturwissenschaftler verlangt eine „anti-speziesistische Ausrichtung“ der Literatur- und Kunstrezeption. Analog einer Geschichtsrezeption aus der Sicht der Unterdrückten solle man die „bildenden Künste aus dem Blickwinkel der Tiere, die uns aus den Nischen der Wirklichkeit oder vom Schoß ihrer Besitzer aus ansehen“, betrachten. (6)

Der Begriff Speziesismus ist noch nicht in den allgemeinen Wortschatz eingedrungen, vielleicht auch deswegen, weil es ein halber Zungenbrecher ist. Aber die Denkweise hinter dem Begriff – dass es verwerflich sei, den Menschen über das Tier zu stellen – ist mittlerweile Mainstream. Eine entschiedene Verteidigung von Tierversuchen ist in der öffentlichen Debatte sehr selten geworden. Ein britischer Gesetzentwurf zum Tierschutz verlangt von Haustierbesitzern, die „Rechte der Tiere auf Privatsphäre“ zu achten und sie „angemessen zu stimulieren“. Verboten ist „Verstümmelung“, worunter das Kupieren des Schwanzes oder das Färben von Fischen fällt. Unsere alltägliche Beziehung zu Tieren wird so infrage gestellt. ASAB (eine US-amerikanische Vereinigung zur Erforschung von Tierverhalten) rät Schulen davon ab, Haustiere zu halten, da dies offensichtlich die Bedürfnisse der Kindererziehung über das Wohlergehen von Tieren stelle. Und wenn sie gar nicht darauf verzichten können, dann sollte das Zusammensein der Kinder mit den Tieren kontrolliert und auf ein Minimum reduziert werden, wobei die Bedürfnisse der Tiere absoluten Vorrang haben müssten. (7)

Natürlich sind wir fast alle Speziesisten: Wir essen Tiere, aber keine Menschen; wir kaufen Haustiere und sperren sie in Käfige; wir akzeptieren Tierversuche, um menschliches Leben zu retten. Aber diese selbstverständliche Unterscheidung zwischen Mensch und Tier wird zunehmend moralisch infrage gestellt. Es ist an der Zeit, dass wir eine stärker menschenzentrierte Moral entwerfen, um unser praktisches Handeln und Urteilen auch intellektuell zu untermauern.

Gleichheit von Mensch und Tier

Tierrechtsaktivisten verzerren die Beziehung zwischen Mensch und Tier. Tatsächlich entwickelte sich die Vorstellung einer Menschheitsfamilie auf der Basis einzigartiger menschlicher Besonderheit. In der Aufklärung, als sich die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen formierte, begründete man die Gleichbehandlung aller Menschen damit, dass wir vernunftbegabte, unserer selbst bewusste Wesen sind. Immanuel Kant begründete die Forderung nach Achtung der Mitmenschen mit unserer Selbstbestimmtheit: Der Mensch ist sich seiner selbst bewusst, also darf man ihn nicht als Mittel zum Zweck missbrauchen. Im Gegensatz dazu, so Kant, sind sich „Tiere ihrer selbst nicht bewusst und existieren nur als Mittel zum Zweck. Und dieser Zweck ist der Mensch.“ (8) Da Tiere nicht ihr eigener Zweck sind, können wir Menschen sie als Mittel zu unserem Zweck benutzen.

Das Aufblühen des menschlichen Selbstbewusstseins ging Hand in Hand mit der Abgrenzung vom Tier. Es waren die Zeiten unwürdiger Lebensumstände, in denen sich Menschen den Tieren besonders nahe fühlten. Im alten Ägypten mumifizierte man Katzen und Hunde, weil man an deren Fortleben nach dem Tod glaubte, und ägyptische Götter hatten Tierköpfe. Jüngere Gesellschaften hatten oft tierische Totems und betrachteten Mensch und Tier als durch die Reinkarnation miteinander verwoben. Tiere sah man als verantwortungsfähige Akteure. Einige Gesellschaften brachten Tiere vor Gericht, und sie beteten zu Fischen, doch wieder in die Flüsse zurückzukehren. Das Gefühl der Verbundenheit mit den Tieren fand sich in Gesellschaften, die den Launen der Natur ausgesetzt waren. Diese Umstände brachten nicht gerade brüderliche Zuneigung und Verbundenheit hervor. Einige Stämme nannten sich selbst „Die Menschen“, was implizierte, dass Außenstehende nicht als ebenso „menschlich“ angesehen wurden und straflos getötet werden konnten (obwohl es gleichzeitig möglicherweise verboten war, ein Schwein zum Verzehr zu töten).

Im Zuge der kulturellen Entfaltung des antiken Griechenlands, als die Menschheit ein umfassenderes Selbst-Bewusstsein entwickelte, gerieten die Tiere ins Abseits. Die griechischen Götter waren allesamt menschlich – obwohl sie sich manchmal als Tiere verkleideten, wie in dem Mythos von Leda und dem Schwan. Hybridgestalten aus Mensch und Tier blieben in der Form des Satyr und der Meerjungfrauen erhalten. Aber sie hatten, was entscheidend war, menschliche Köpfe und Arme und bewahrten sich ihre Personalität. Theoretiker der Ethik,  wie etwa Aristoteles, waren der Meinung, dass es den Tieren an Vernunft fehle und man ihnen deswegen keine Gerechtigkeit zukommen lassen könne. Das Christentum entwickelte eine breitere Vorstellung von der Gleichheit der Menschen sowie eine klarere Unterscheidung zwischen Mensch und Tier. Wir seien alle nach Gottes Ebenbild geschaffen, so steht es in der Bibel, sogar Frauen und Sklaven, und alle verdienten das gleiche Maß an Respekt. Das Christentum kennt keine heiligen Tiere. Dies wird deutlich, als Jesus die Schweine ins Meer treibt. Aber das Christentum verstand den Unterschied zwischen Mensch und Natur als ein gottgegebenes Geschenk. „Ich habe euch alle Dinge der Welt gegeben“, sagt Gott, „alles, was sich bewegt und auf der Erde lebt, soll eure Nahrung sein.“

Die Philosophen der Aufklärung sahen die Basis des menschlichen Andersseins im Menschen selbst. Sie verfassten Essays über die angeborene „Würde des Menschen“ und die Fähigkeit des Menschen, sich selbst weiterzuentwickeln. Während die Anbetung von Fischen mit einer schwachen Naturbeherrschung einherging, entwickelte die Vorstellung menschlicher Einzigartigkeit eine Gesellschaft, die Wissenschaft, Technik und Industrie hervorbrachte. Unsere Herrschaft über die Natur sah man nicht als ein Geschenk Gottes, sondern als Werk unserer eigenen Hände.

Die Degradierung des Menschen

Wer den Menschen mit dem Tier gleichsetzt, entwertet den Menschen. Wie die Tierrechtsaktivistin und Wissenschaftlerin Paola Cavalieri bemerkt, resultieren neue Vorstellungen von den Rechten der Tiere auf einer veränderten Definition des Menschen. Dabei kommt es zu einer Verschiebung von „hochtrabenden Ansprüchen qua menschlicher Rationalität und moralischer Autonomie“ hin zu einem „erreichbareren Niveau“. (9) Laut Peter Singer ist die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, das ausschlaggebende Kriterium für moralischen Wert. Er spricht von „sentience“ (Empfindungsvermögen), während Richard Ryder den Begriff „painience“ (Schmerzempfindungsvermögen) verwendet. Die überlegenen geistigen Fähigkeiten des Menschen spielen dabei offensichtlich keine Rolle. Nach Singer habe der Mensch zwar ein Bewusstsein seiner selbst sowie die Fähigkeit, Zukunft zu planen und bedeutungsvolle Beziehungen mit anderen Menschen aufzunehmen. Dies habe aber keine Auswirkung auf die Frage der Schmerzzufügung – Schmerz sei nämlich Schmerz. (10)

Hier gründet die Gemeinsamkeit mit anderen menschlichen Wesen (sowie Tieren) in unserem zentralen Nervensystem. Wir sind alle Teil einer „Gemeinschaft des Schmerzes“, sagt Ryder. Singer meint, dass menschliches Leben deswegen ein klein wenig mehr als das Leben des Tieres wert sei, weil wir ein geringfügig höher entwickeltes Empfindungsvermögen hätten. Wir sollten deswegen empfindsame Tiere so behandeln, wie wir geistig behinderte Menschen behandeln würden. Wieder andere sehen den Zugang zu dieser Frage im Verhalten. Untersuchungen an Primaten haben ergeben, dass sie Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe aufbauen; dass sie eine Art Gedächtnis für Ereignisse haben; dass sie imstande sind, Zweige und steiniges Material als Werkzeug zu verwenden und für unterschiedliche Gruppen unterschiedliche „Werkzeug-Kulturen“ zu entwickeln; dass sie untereinander kommunizieren und grundlegende Zeichen lernen können, um mit dem Menschen zu kommunizieren. So wird die Frage nach der moralischen Wertigkeit im Labor oder im Feldversuch entschieden, auf der Basis von kognitiven und bewusstseinsbezogenen Fähigkeiten. Der Mensch schneidet dabei besser ab, aber es ist eher ein quantitativer als ein qualitativer Unterschied. Schimpansen „haben eindeutig eine Art Selbstverständnis“, schreibt die Primatenforscherin Jane Goodall. „Die Grenze zwischen Mensch und Tier hat zunehmend an Klarheit verloren.“ (119

Wieder andere nehmen schließlich die DNA als Maßstab der moralischen Wertigkeit. Wir wissen aus wissenschaftlichen Studien, dass wir etwa 98,4 Prozent unserer DNA und einen noch größeren Anteil unserer Gene mit Schimpansen teilen. Als die jüngste Forschung zeigte, dass der Mensch eine engere evolutionäre Verwandtschaft mit Schimpansen aufweist als zuvor angenommen, wurden Rufe laut nach deren Eingliederung in die Gattung Mensch. Viele kamen zu dem Schluss, dass eine gemeinsame DNA Schimpansen zu moralisch verantwortlichen Handlungsträgern macht. „Könnte ein Schimpanse jemals des Mordes angeklagt werden?“, fragte die britische Zeitung Daily Mail. (12)

Es scheint, als wüssten wir nicht mehr, was es bedeutet, Mitglied des Menschen-Klubs zu sein, aber wir haben das Gefühl, dass nicht allzu viel dazugehört. Diese unterschiedlichen Definitionen der moralischen Wertigkeit sind völlig willkürlich. Warum sollte ein gemeinsamer genetischer Code bedeuten, dass Lebewesen von gleichem Wert sind oder dass wir sie achten sollten? Wenn irgendwelche Menschengruppen, bedingt durch historische Isolierung, eine deutlich unterschiedliche DNA hätten – sollten wir sie deswegen anders behandeln? Warum sollte die Fähigkeit des Erinnerns bedeuten, dass wir Schimpansen respektieren müssen? Die eigentliche Schubkraft hinter all diesen Argumenten ist weniger ihre logische Kohärenz, sondern eher das Verlangen, den Menschen vom Podest zu stoßen. Beobachtungen zu dem hoch stehenden Verhalten der Primaten sind mit Sticheleien gegen den Menschen durchsetzt: „Wer sind wir eigentlich, dass wir behaupten könnten, dass das Leiden eines Menschen schrecklicher ist als das Leiden eines nicht-menschlichen Wesens?“, fragt Jane Goodall in einer Schrift über das Verhalten von Schimpansen. (13) „Warum findet man überall diese menschliche Arroganz, und wo hat sie ihren Ursprung?“, fragten Roger und Deborah Fouts in einem Kapitel über den Sprachgebrauch von Primaten. (149

Die Vorstellung von Menschlichkeit basiert hier auf Demut. Für Richard Ryder ist dies eine generische Fähigkeit zur Fürsorge, dem weiblichen Gegenstück zum männlichen Machismo. Dann wären wohl die Anhänger des Jainismus am humansten von uns allen, da sie sich beim Gehen bei Ameisen und Pflanzen entschuldigen, wann immer sie auf diese getreten sind? Aber was für ein Menschenbild steckt wirklich dahinter? Wir bedauern, dass wir anderen Lebewesen Schmerz verursachen, aus dem Gefühl, dazu – wegen unserer Minderwertigkeit – kein Recht zu haben. Genuines Mitleid beruht im Gegensatz dazu auf einem solidarischen Gefühl: „Der Tod jedes Menschen nimmt mir etwas von meinem Wert, da ich Teil der Menschheit bin“, so schrieb sinngemäß John Donne, ein britischer Dichter des 16. Jahrhunderts. Demut ist keine Grundlage, um zwischen Menschen Gemeinsamkeit herzustellen, die sich mit Recht als Gleiche gegenüberstehen.

Wodurch sich Menschen unterscheiden

Der Mensch ist nicht bloß eine Variante des Schimpansen. Entscheidend ist nicht das Bewusstsein von unserer Welt, sondern das Bewusstsein von uns selbst. Der Mensch ist das einzige Wesen, das für sich selbst zum Objekt seiner Betrachtung wird: Er existiert nicht nur, er weiß auch, dass er existiert; er handelt nicht nur, sondern reflektiert auch sein Handeln. Man makes himself (Der Mensch macht sich selbst) lautet der Titel eines Buches über die menschliche Geschichte von dem Archäologen Gordon Childe. (15) Er stellt fest, dass biologische Evolution Eigenschaften selektiert, die für eine bestimmte Umgebung von Nutzen sind – eine widerstandsfähige Haut als Schutz, schnelle Beine, um Verfolgern zu entkommen, oder scharfe Klauen zum Töten. Der Mensch verfügt nicht nur über biologische Anpassungen. Wir entwerfen auch bewusst unsere eigenen Mittel der Anpassung, von der Kleidung hin zu Autos und Waffen. Wir sind nicht mehr nur Produkt evolutionärer Anpassung, sondern verbessern uns vielmehr selbst. Dies ist keine Frage des Ausmaßes. Es ist eine Frage der Art und Weise. Im Laufe der Zeit hat die Evolution zunehmend komplexe Spezies entwickelt, die eine zunehmende Kontrolle über und ein zunehmendes Bewusstsein von ihrer Umwelt haben – von Bakterien zu Pflanzen über Reptilien zu Primaten. Die Evolution des Menschen kann man vergleichen mit einem Flugzeug, das auf der Startbahn an Geschwindigkeit zulegt, dann aber mit Erscheinen des Homo sapiens abhebt und ganz anderen Gesetzen folgt. Wie ähnlich Schimpansen und Gorillas in ihrem Genom dem Menschen auch sein mögen, sie sind in erster Linie Kreaturen der Evolution. Eine Schimpansen-Gemeinschaft vor zwei Millionen Jahren wäre praktisch ununterscheidbar von einer heutigen.

Die menschliche Linie trennte sich vor etwa sieben Millionen Jahren von den Schimpansen, aber erst mit dem Auftauchen des modernen Menschen vor etwa 150.000 Jahren ist ein deutlicher Qualitätssprung bemerkbar. In der Übergangsphase gab es eine Vielzahl von unterschiedlichen hominiden Arten, von denen alle außer der unseren ausstarben. Unsere Evolutionslinie war gekennzeichnet von aufrechtem Gang, dem Anwachsen der Gehirnmasse sowie einer Zurückentwicklung von Kiefer und Gebiss. Unsere hominiden Vorfahren hatten einfache Werkzeuge, vor allem Faustkeile, entwickelt. Und sie wussten wahrscheinlich, wie man Feuer gebraucht, und sie bestatteten ihre Toten. Erst der anatomisch moderne Mensch entwickelte sich schnell vom Natur- zum Kulturwesen. Er erfand elaborierte Werkzeuge, wie etwa Fischhaken, spezielle Schneidegeräte, Speere, Pfeil und Bogen oder Lampen. Er brachte komplexe Kulturerscheinungen wie etwa Kunst, Geschmeide und religiöse Rituale hervor, die als Versuch des Menschen zu werten sind, sich die Welt zu erklären und die Kontrolle über sie zu gewinnen. Innerhalb weniger Zehntausend Jahre breitete sich der Mensch von Afrika in alle Welt aus und bewies damit, dass er ein „universelles Tier“ ist, das sich jedem beliebigen Klima und jeder Umgebung anpassen konnte.
Niemand weiß, was letztlich dazu führte, dass die Menschen es schafften, „von der Rollbahn abzuheben“. Einige Wissenschaftler meinen, dass eine Verfeinerung des Stimmapparates zugrunde lag, was zu einem größeren Spektrum an Sprachlauten befähigte. Zweifellos ist Bewusstsein intrinsisch sozial: Wir werden uns als Individuen unserer selbst nur dadurch bewusst, dass wir uns durch die Augen anderer sehen; wir haben Gedanken nur mittels allgemeiner Sprachsymbole. Wie Kenan Malik gezeigt hat, wären wir als bloße Einzelwesen zwar in der Lage, sinnliche Wahrnehmungen und Erfahrungen aufzunehmen, aber wir könnten diese Wahrnehmungen oder Erfahrungen niemals interpretieren oder sie mit Bedeutung füllen. (16)

In der Entwicklung des Menschen wurde die kulturelle Anpassung gegenüber der biologischen immer wichtiger. Wir gingen aufrecht und bekamen dadurch „freie Hand“; verloren dafür die Fähigkeit, von Ast zu Ast zu schwingen. Unser Mund verlor seine Anpassungen an schwer zu zerkleinernde Nahrung (eine kräftige Zunge und kräftige Lippen, schwere Kiefer, große Zähne) und wurde sensibel und wendig für die Sprache. Thomas von Aquin blickte aus überlegener Warte auf die „Hörner und Klauen“ und „Grobheit der Haut und die Menge von Haaren und Federn“ der Tiere herab: „Derlei geziemt sich nicht für den Menschen. Stattdessen hat er Vernunft und Hände, womit er sich Waffen und Kleidung und andere lebensnotwendige Dinge von unbegrenzter Vielfältigkeit herstellen kann.“ Die Vernunft, so Thomas von Aquin, ist „fähig, eine unbegrenzte Anzahl von Dingen auszudenken“, deswegen war es nur angemessen, dass die Hand die „Macht hat, sich eine unbegrenzte Menge an Instrumenten zu entwerfen“. (17)

Einige behaupten, dass wir im Widerspruch zu den moralischen Implikationen des Darwinismus leben. Richard Ryder sagt es so: „ Dank Darwin wurden viele der gewaltigen und vom Menschen proklamierten Unterschiede zwischen Mensch und Tier als lediglich arrogante Täuschung enttarnt. Wenn wir alle durch die Evolution verbunden sind, dann sollten wir auch moralisch verbunden sein.“ (18) In Wahrheit ist jedoch genau das Gegenteil richtig. Zunächst zeigt uns der Darwinismus erst, wie weitgehend es uns gelungen ist, aus dem Prozess der natürlichen Auslese auszusteigen, dem jedes andere Lebewesen voll und ganz unterliegt. Zweitens wurden wir tatsächlich zu unseren eigenen Göttern, indem wir herausfanden, dass wir Produkt einer Entwicklung und nicht eines göttlichen Schöpfungsaktes sind. Denn welche Spezies hat denn bisher das Geheimnis ihres Ursprungs entdeckt?

Das Überschreiten der Artengrenze

Ganz praktisch gesehen ist die moderne Gesellschaft deutlicher unterschieden vom Tier denn je. Mehr denn je leben wir unter Bedingungen, die wir selbst geschaffen haben, immun gegen natürliche Strapazen wie Hunger oder Kälte. Aber es herrscht eine seltsame Dissonanz zwischen dieser Realität und dem Bewusstsein von uns selbst. Während in der Vergangenheit die praktische Beherrschung der Realität mit einem wachsenden Bewusstsein Hand in Hand ging, sind diese jetzt voneinander getrennt. Obwohl die praktische Beherrschung der Realität voranschreitet, fehlt es ihr an der moralischen Rechtfertigung. Konsequenterweise leben wir tatsächlich in zwei Welten: eine bestehend aus dem, was wir tun, die andere bestehend aus dem, was wir rechtfertigen können. Dahinter steht der Zweifel an der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz. E.O. Wilson schrieb 1978 in seinem Buch On Human Nature (Über die menschliche Natur): „Wir haben kein besonderes Ziel. Die Spezies Mensch hat kein Ziel außerhalb seiner biologischen Natur.“ Wilson bemerkte scharfsinnig, wie solche „Evolutions-Ethik“ lediglich ein Ersatz für „die offensichtlich fatale Verkümmerung der Mythen traditioneller Religionen und ihrer säkularen Äquivalente“ ist. (19) Der Verlust des Glaubens an die Fähigkeit des Menschen, seine eigene Geschichte zu gestalten, hat die Sicht bestärkt, wir seien nur ein Nerven- und DNA-Paket.

Einige Vertreter der Spezies Mensch versuchen nun, die Grenzen ihrer Spezies zu überschreiten, indem sie erneut die Verwandtschaft zu Tieren suchen. Und dies ist auch der eigentliche Inhalt von vielen der Primaten-Experimente mit Schimpansen und Gorillas. Jane Goodall beobachtete im Gombe National Park Schimpansen weniger von außen, als dass sie versuchte, eine von ihnen, gewissermaßen selbst Schimpanse zu werden, indem sie gegenüber ihren Umwerbungen und Kämpfen und Verletzungen Empathie zeigte. Goodalls Manuskripte sind gespickt mit „als ob“ und „wie wenn“, während sie menschliche Tragödien auf ihre Forschungsobjekte projiziert. Manche Primatenforscher nahmen Schimpansen mit zu sich nach Hause und behandelten sie wie Menschenkinder. Zwei Paare – Roger und Deborah Fouts und Beatrice und Allan Gardener – lebten mit Schimpansen und brachten ihnen grundlegende Zeichensprache bei. Sie gaben ihnen Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten und verhielten sich dabei mehr wie Eltern zu Kindern als wie Forscher zu Forschungsobjekten.

Hinter dieser Vernebelung der Grenzen zwischen Mensch und Tier steht ein Verlust an moralischem Bewusstsein sowie eine Abscheu gegenüber der Gattung Mensch. Man kann dies in dramatisierter Form in Grizzly Man sehen, einem Film über einen Mann, der sich zu Grizzlybären in das Hinterland Alaskas begibt, um dort mit ihnen zu leben. Tim Treadwell filmte sein Leben mit den Bären 13 Jahre lang, wobei er sie nicht nur beobachtete und bewunderte, sondern letztlich versuchte, wie sie zu sein. „Ich liebe diese Tiere!“, rief er mehrmals aus. Sie hatten alle Namen, wie etwa „Mr. Chocolate“. Er wollte ihnen auf gleicher Augenhöhe begegnen und ihren Respekt verdienen, indem er sich weigerte, Waffen bei sich zu haben. Einer seiner Freunde bemerkte dazu: „Er wollte wie ein Bär sein, zu einem wilden Tier mutieren und sich so tief in diese Identität einleben, dass er sein Menschsein aufgab.“ Das ging nicht gut. Im Oktober 2003 wurde er von seinen Freunden, die nicht wussten, dass sie seine Freunde sein sollten, aufgefressen.

Hinter Treadwells Identifikation mit den Bären lag seine Verachtung für die Welt der Menschen. Der Erzähler berichtet: „Treadwell spricht von der Welt der Menschen als etwas Fremdem. Die wilde, vor-menschliche Natur ist seine wahre Heimat.“ Treadwell empfand Mitgefühl mit einer Biene („Ich liebe diese Biene!“) und betrachtete menschliche Besucher in diesem Gebiet als Eindringlinge. Natürlich ist Treadwell ein extremes Beispiel – aber vielleicht lebte er nur die Theorie der Gleichheit von Mensch und Tier aus. Setzt man die Theorie in die Praxis um, wird ihre Jämmerlichkeit offenbar.

Wir sind heute in der paradoxen Situation, dass wir unsere Fähigkeit zu bewusstem Handeln und Kreativität benutzen, um diese Bewusstheit und Kreativität abzuwerten. Wissenschaftler nutzen ihre Fähigkeit, die DNA zu analysieren, um zu „beweisen“, dass wir nur wenig mehr als ein Schimpanse seien. Philosophen nutzen ihre Vernunft und den Reichtum an Wissen über die Menschheitsgeschichte, um uns zu beweisen, dass der Mensch keinen besonderen ethischen Wert besitze. Künstler nutzen ihre Kreativität dazu, um menschliche Erfahrung als analoge Tier-Erfahrung zu erklären – so der britische Künstler Damien Hirst, der Fliegen und andere in Formaldehyd konservierte Tiere benutzte, um menschliche Erfahrungen von Liebe und Tod zu „erforschen“.

Es hat weitreichende Konsequenzen, wenn wir das menschliche Leben so niedrig einstufen. Zuallererst ist es demoralisierend, wenn wir uns einreden, dass unser Leben letztlich sinnlos sei. Es gibt aber auch praktische Folgen. Die Forschung an Tieren hat große Durchbrüche in der Medizin gebracht, vom Insulin hin zu Herztransplantationen und Impfstoffen. Viele von uns wären ohne diese Entdeckungen längst tot. Wenn jetzt Tierrechtsbedenken diese Forschung behindern, geschieht dies um den eigentlich nicht nötigen Preis zukünftiger Menschenleben. Mittlerweile stellt man sogar in den Schutzgebieten der Entwicklungsländer das Wohlergehen von Schimpansen und Tigern über das von ansässigen Dorfbewohnern. Der Biologe Jonathan Marks formuliert die primitiven Zahlenspiele eines Kollegen so: „Ein britischer Professor glaubt, dass es zu viele Asiaten und nicht genug Orang-Utans gibt.“ (20)

Für eine menschenzentrierte Moral

Nur eine menschenzentrierte Moral kann fruchtbare und auf Gleichheit basierende Beziehungen zwischen den Menschen herstellen. Wir sollten uns mit Respekt als bewusstseinsbegabte, rationale Wesen begegnen und nicht als DNA-Datenbanken oder als Ansammlungen von Nervenenden. Alle Versuche, Gleichheit zwischen Mensch und Tier herzustellen, gründen auf einem Verlust der moralischen Orientierung und einer heftigen Abneigung gegen den Menschen. So gesehen läuft man damit Sturm gegen alle historischen Versuche, für die Gleichheit der Menschen zu kämpfen. Darüber hinaus ist es unser Gespür für die Menschheit als große Familie, das uns lehrt, denen, die Handlungsfreiheit und Rationalität nicht in vollem Maße besitzen – wie etwa Behinderte und Kinder –, mit Liebe und Respekt zu begegnen. Solche Menschen leben in einem Netzwerk von Beziehungen und werden von ihrer Umgebung geliebt und in ihrem Wert anerkannt.

All dies bedeutet nicht, dass wir Tiere ohne Anteilnahme und Gefühl behandeln sollten. Mutwillig zugefügte Qualen sind abzulehnen, allerdings weniger wegen der zugefügten Schmerzen als wegen der niederen Beweggründe dessen, der sie zufügt. Dasselbe Maß an Schmerz wäre hingegen im Labor oder im Schlachthaus, wo ein klarer Zweck vorliegt, legitim. Die angemessene Beziehung zum Tier besteht in einer kontrollierten, bewussten Behandlung – zum jeweiligen Zweck des Metzgers, des Naturfotografen, des Dichters, des Wissenschaftlers oder des Haustierhalters. Diese Beziehungen gründen auf unseren verschiedenen Zielen und Werten und sind als solche moralischer Natur. Ein menschenzentrierter Zugang kann darin liegen, stundenlang in der Wildnis Tiere zu studieren, sie zu malen und zu bewundern – aber sie gleichzeitig in einer menschlichen Sichtweise zu betrachten, anstatt unser Menschsein hinter uns zu lassen. Wir diskutieren letztlich die Position, aus der wir die Welt betrachten. Die Bärenperspektive ist ebenso sinnlos wie die DNA als Ausgangspunkt unserer Wahrnehmung. Der Mensch ist das Maß aller Dinge: in ihm nimmt jegliche Moral ihren Anfang.

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