01.03.2010
Arbeitslos? Ab zum Therapeuten!
Essay von Brendan O’Neill
Obwohl sich immer mehr Menschen in die Schlangen vor den Arbeitsämtern einreihen, gibt es bis jetzt keinerlei Aufstände, Streiks und Demonstrationen gegen die Massenarbeitslosigkeit.
Neulich erhielt ich eine E-Mail von einer Gruppe namens „Redundancy Survival“ („Arbeitslosigkeit überleben“), in der mir ein E-Book zum Kauf angeboten wurde, das mir helfen solle, mit einer eventuell eintretenden Arbeitslosigkeit umzugehen. Es richte sich „an den normalen Arbeitnehmer, dem gesagt wird, dass seine Arbeitsstelle nicht mehr existiert“ und der womöglich „durch mangelnde Unterstützung unter Schock und Depressionen“ stehe. In der Mail wurde ein Arbeitsloser zitiert: „Ich wusste nicht, was ich als Erstes machen sollte, und ich habe mich gefühlt wie ein Kaninchen vor der Schlange.“ Um ein ähnliches Schicksal zu vermeiden, so endete die Mail, solle ich einen Teil meines Geldes für dieses therapeutische E-Book ausgeben.
Diese E-Mail fasst perfekt die heute vorherrschende seltsame und gedämpfte Reaktion auf drohende Arbeitsplatzverluste und Massenarbeitslosigkeit zusammen. Im April war die Arbeitslosigkeit in Großbritannien bereits auf ein Zwölf-Jahres-Hoch gestiegen (2,261 Millionen), und die Drei-Millionen-Grenze wird wohl bald erreicht werden. Die Arbeitslosenquote erhöhte sich in den ersten zwölf Monaten der aktuellen Rezession um 30 Prozent. Dennoch gibt es keinerlei Massenaufstände und keine Protestmärsche für den Erhalt von Arbeitsplätzen. Was es gibt, sind einzelne Individuen, die sich wie „Kaninchen vor der Schlange“ fühlen und denen die üblichen Verdächtigen der Therapieindustrie Unterstützung angedeihen lassen, um persönlich mit ihrer Situation fertig zu werden.
Wenn in der Vergangenheit Arbeitnehmer ihren Job verloren haben oder sich mit Lohnkürzungen konfrontiert sahen, wurden Versammlungen einberufen, um gemeinsam Widerstand zu organisieren. Heute erhalten sie stattdessen Ratschläge, wie sie diese Probleme in individualisierter Form bewältigen sollen. In früheren Wirtschaftskrisen waren die Menschen weniger daran interessiert, wie sie die „Entlassung überstehen“ können, sondern mehr daran, Möglichkeiten zu finden, diese rückgängig zu machen. Doch die Dinge haben sich enorm verändert. Die Wahrheit ist, dass Arbeitslosigkeit heute nicht mehr als ein Thema angesehen wird, auf das politisch zu reagieren wäre. Sicherlich ist sie weiterhin ein ernstes Problem für Einzelpersonen und Familien, und viele Menschen müssen neue Wege finden, um über die Runden zu kommen, und ihre Hoffnungen und Erwartungen zügeln. Aber sie ist kein Thema mehr, das die Leute in einem Kollektiv zusammenschweißt, in dem sie bewusst und gezielt ihren Ärger zum Ausdruck bringen können. Hat die Furcht vor Arbeitslosigkeit und vor den daraus resultierenden Unruhen die Politik im 20. Jahrhundert noch entscheidend geprägt, so sind heute Erwerbstätigkeit, Löhne und Lebensstandards keine Themen mehr, die politische Aktionen auslösen.
Die Entpolitisierung der Arbeitslosigkeit lässt sich an verschiedenen Ereignissen der letzten Zeit ablesen. Tim Black berichtete Ende Juni auf Sp!ked von der Lindsey-Ölraffinerie in Nord- Lincolnshire, wo die Belegschaft einen Streik gegen die Entlassung von 647 ihrer Kollegen organisierte. Arbeiter aus dem ganzen Land schlossen sich aus Solidarität dem Streik an. Der Protest fiel auf, weil er für die heutige Zeit so ungewöhnlich war. Die Sky-Reporterin Lindsey spottete angesichts der streikenden Arbeiter: „Sie sahen aus, als stammten sie aus den 80er-Jahren.“ In einem Punkt lag sie tatsächlich richtig: Ernsthafte Arbeitskämpfe sind so selten geworden, dass sie für viele Menschen den Anschein einer archaischen Kuriosität erwecken. In der Tat ist der Mangel an politischer Unruhe angesichts des Stellenabbaus so frappierend, dass, als die Rezession begann, sich auf den Lebensstandard der Menschen auszuwirken, die Führer der großen Unternehmen sich offen damit brüsten konnten, wie loyal sich ihre Angestellten angesichts der durchgesetzten Lohn- und Arbeitszeitverkürzungen verhielten. Auch John Cridland, der stellvertretende Generaldirektor des britischen Arbeitgeberverbandes CBI, sprach davon, man könne „eine Revolution in den industriellen Beziehungen“ beobachten: „Wir haben gesehen, wie Arbeitnehmer mit ihren Arbeitgebern zusammengearbeitet haben, um unter diesen Umständen zu retten, was zu retten war.“ Wo es in der Vergangenheit Widerstand von Arbeitern gegenüber ihren Chefs gegeben habe, herrsche heute, so Cridland, eine „Gemeinsamkeit von Interessen“ vor.1
Laut einer Befragung des CBI von mehr als 300 Arbeitgebern will mehr als die Hälfte von ihnen in den nächsten zwölf zwölf Monaten Löhne und Gehälter einfrieren. 30 Prozent haben bereits einen Einstellungsstopp verhängt, und viele planen Arbeitszeitverkürzungen oder Entlassungen. Das von Cridland herausgestellte „neu gewonnene Verständnis zwischen Mitarbeitern und ihren Vorgesetzten“ bedeutet auch, dass die meisten Arbeiter nicht gegen diese Einschnitte vorgehen, sondern, wie es in einem Zeitungsbericht hieß, „die verzweifelten Mitarbeiter lieber Arbeitszeitkürzungen und niedrigeren Lohnzahlungen zustimmen, als das Risiko eines Jobverlustes einzugehen“.2 British Airways hat seine Mitarbeiter aufgefordert, einen Monat lang unentgeltlich zu arbeiten. Andere Firmen wollen, dass ihre Angestellten ähnliche Opfer bringen.3 Inzwischen sieht die britische Regierung die neuen Arbeitslosen nicht mehr als eine potenzielle politische Bedrohung, sondern behandelt sie wie traurige und verletzliche Individuen: Sie plant, Rezessionsopfern eine kostenfreie Therapie anzubieten, um eine kollektive Depression und eine Angst-Epidemie abzuwenden. Jedoch ist es nicht die Angst vor Protestmärschen oder Generalstreiks, die die Herrschenden umtreibt, sondern ihre Sorge, eine Vielzahl von Menschen könnte psychische Krankheiten erleiden.4
Eine wichtige Ursache für die weitgehend konfliktfreie und schleichende Transformation der industriellen Beziehungen ist die Einbürgerung der Arbeitslosigkeit als ein fast schon naturgegebenes Phänomen. In den letzten Jahrzehnten, vor allem in den 80er-Jahren, wurde die Arbeitslosigkeit von einem politischen Problem – dem Einzelnen wurde das Recht verweigert, sich seinen Lohn zu verdienen – zu einem Thema mentaler oder körperlicher Gesundheit umdefiniert. Arbeitslosigkeit hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung in eine Art „subjektiven Gefühlszustand“ verwandelt, und langsam, aber sicher hat die Bezeichnung „arbeitsunfähig“ das Wort „arbeitslos“ ersetzt. Der Begriff „arbeitsunfähig“ erweckt den Eindruck, das eigentliche Problem liege beim Einzelnen, und seine Arbeitsunfähigkeit sei somit sein persönliches Verschulden und nicht das der Gesellschaft, die es nicht schafft, für reichlich gewinnbringende Arbeit zu sorgen.
Paradoxerweise ist es gerade der von vielen Linken noch immer so beliebte und vehement verteidigte Sozialstaat, der systematisch die Behandlung weiter Teile der britischen Bevölkerung als krank und nicht als arbeitslos vorantrieb. Wie eine eindrucksvolle Studie zeigt, ist in den beiden letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts die Zahl der Erwerbsfähigen in Großbritannien, die staatliche Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen, exponentiell angestiegen: Erhielten im April 1981 noch 463.000 Männer im erwerbsfähigen Alter diese Rente, so waren es im April 1999 bereits 1.276.000. Zusätzlich erhielten 710.000 Frauen Rente. Insgesamt wurden also zu Beginn des neuen Jahrtausends mehr als zwei Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter als „nicht arbeitsfähig“ definiert.5 Die Autoren der Studie weisen darauf hin, dass diese Zunahme von den als arbeitsunfähig deklarierten Arbeitern nichts mit wirklichen Gesundheitsproblemen zu tun haben könne, „da sich, wie jeder wisse, der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung verbessert“ habe.6 Es ist kein Zufall, dass die Ausweitung der Kategorie „arbeitsunfähig“ seit den 80er-Jahren einherging mit dem Niedergang der Gewerkschaftsbewegung und der zunehmenden Behandlung von Arbeitslosen als bemitleidenswerte Objekte.
Diese Neudefinition von Arbeitslosigkeit hat einen enormen Einfluss darauf, wie der Mangel an Arbeitsplätzen in der Gesellschaft erfahren und verstanden wird. Viele behaupten, die Regierung treibe die Zahl der „Arbeitsunfähigen“ künstlich in die Höhe, um so die Arbeitslosenquote aufzuhübschen. Zweifellos ist an dieser Behauptung etwas dran. Tatsächlich jedoch spiegelt sich in der Neudefinition von Arbeitslosigkeit als Arbeitsunfähigkeit die grundlegende Veränderung im Machtverhältnis zwischen Arbeitnehmerorganisationen und dem Staat wider: weg von einem durch divergierende Interessen geprägten Konflikt zwischen gesellschaftlichen Gruppen hin zu einem eher therapeutischen Verhältnis zwischen Staat und einzelnen Individuen. Immer mehr Menschen werden vom Sozialstaat ermutigt, sich selbst als armselig, nutzlos und unfähig anzusehen – unfähig, ein Leben ohne finanzielle und emotionale Unterstützung führen zu können. Dementsprechend hat sich auch die Arbeitslosenpolitik in den letzten Jahren dramatisch verändert. Arbeitslosigkeit wird heute eher als individueller denn als gesellschaftlicher Makel gesehen, der zudem als nicht behebbar erscheint. Da Arbeitslosigkeit nicht mehr länger die Erwartung auf Arbeit beinhaltet und Hunderttausende als arbeitsunfähig definiert werden, finden sich immer mehr Menschen mit ihrem Schicksal ab.
Eine zweite Ursache dafür, dass Arbeitslosigkeit heute kein politisches Thema mehr ist, liegt darin, dass Arbeitslose heute seltener unter extremer Armut zu leiden haben als in der Vergangenheit. Der Sozialstaat schützt die Menschen vor den schlimmsten Folgen der wirtschaftlichen Rezession und der Arbeitslosigkeit. Heute existiert eine Vielzahl sozialer Sicherungsnetze, von denen die Menschen profitieren können: von der Arbeitslosenunterstützung und der Erwerbsunfähigkeitsrente über Sozialfonds und Steuerkredite bis hin zu staatlichen Bildungs- und Ausbildungsbeihilfen. Viele werden argumentieren, dass diese eine gute Sache sei, und tatsächlich möchte niemand von uns sehen, dass Menschen in Armut leben. Dennoch ist es wichtig zu erkennen, dass die Veränderungen des Sozialstaats in den letzten 20 Jahren nicht darauf abzielten, dem Anspruch und den Bedürfnissen der von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen Rechnung zu tragen, sondern darauf, die Misserfolge der Gesellschaft als die des Einzelnen umzudefinieren. Somit ermutigt der Sozialstaat die Menschen, ihre Erwartungen an das Leben herunterzuschrauben und sich damit abzufinden, vielleicht nie eine Langzeitanstellung zu bekommen oder ein Leben in Reichtum führen zu können, dafür aber zumindest nicht in völliger Armut leben zu müssen. Diese Entwicklung hat den sozialen Sprengstoff, der früher dem Thema Arbeitslosigkeit innewohnte, entschärft. Diejenigen, die den Sozialstaat immer noch verteidigen oder ihn gar feiern, sollten sich einmal die Frage stellen, ob es für eine Gesellschaft wirklich eine positive Lösung ist, mit umfangreichem bürokratischen wie finanziellen Aufwand Menschen dazu zu ermutigen, sich an Arbeitslosigkeit zu gewöhnen, die eigenen Erwartungen herunterzuschrauben und sich in Passivität und Larmoyanz zu ergehen.
Am deutlichsten aber zeigen sich in der Entpolitisierung der Arbeitslosigkeit die Folgen der britischen Regierungspolitik in den 80er-Jahren unter Margaret Thatcher, die viele Arbeiterorganisationen zerstörte, zumindest aber enorm schwächte. Thatchers Devise „There is no alternative“ (TINA) schlug sich auch in der Betrachtung des Problems der Arbeitslosigkeit nieder, das mehr und mehr als unveränderliches, quasi naturgegebenes Phänomen behandelt wurde. Intensiviert wurde dieser Trend durch den Kollaps des Kommunismus Ende der 80er-Jahre, der die letzten Illusionen, die Gesellschaft könne grundlegend anders und besser organisiert werden, endgültig zerstörte. An die Stelle dieser zumindest theoretischen Hoffnung rückte die Einsicht, man müsse künftig seine Erwartungen an gesellschaftliche Veränderungen dämpfen: Mehr als ein vor sich hin dümpelnder Kapitalismus, der die Menschen einigermaßen am Leben und gesund halten könne, schien unvorstellbar. Der ideologische Einfluss von TINA sowie der dieses Gefühl weiter verstärkenden Ereignisse war verheerend und verhalf einer negativen Beurteilung der politischen Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen zum Durchbruch, die heute in allen Bereichen der Gesellschaft fest verankert ist. Wenn sich heute also „verzweifelte Arbeitnehmer“ dazu bereit erklären, einen Monat lang unentgeltlich zu arbeiten, dann deswegen, weil sie die TINA-Ideologie vollends verinnerlicht haben.
Die heutige gesellschaftliche Situation erfordert eine eingehende Debatte und neue Ansätze, mit gesellschaftlichen Problemen umzugehen. Es reicht nicht aus, in jedem lokalen Streik Anzeichen für ein Wiederaufleben klassischer Arbeitermilitanz zu vermuten. Natürliche sollten wir auch heute Streikende unterstützen: Es ist aber sinnlos zu glauben, die alte Politik des Klassenkampfes könne irgendwie gerettet oder gar wiederbelebt werden. Wir müssen stattdessen über neue Wege nachdenken, um gegen Arbeitslosigkeit und sinkende Lebensstandards vorzugehen und uns gegen eine Politik zu wenden, die, anstatt Streiks niederzuschlagen oder Menschen in die Armut zu zwingen, uns in neue therapeutische Beziehungen einzubinden sucht, die darauf ausgerichtet sind, dass wir uns nur noch als nutzlose und kranke Schutzbefohlene fühlen.