01.03.2010

Hey Sie, wollen Sie ein „E“ kaufen?

Essay von Christina Rempe

Der Verzicht auf deklarationspflichtige Zusatzstoffe ist nicht mehr als Augenwischerei.

„Da ist Zitronensäure drin. Klingt harmlos, ist aber E330, ein chemisch hergestellter Zusatzstoff. Das greift die Zähne an und erleichtert die Aufnahme von Schwermetallen“, antwortete Deutschlands lautester Verbraucherschützer Thilo Bode Ende 2007 auf die Frage der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, was denn eigentlich das Problem der im Supermarkt angebotenen Lebensmittel sei.1 Fruchthaltigen Erfrischungsgetränken, Mövenpick-Konfitüren, ja sogar dem Dijon-Senf werde die kritische Substanz zugesetzt. Dass die naturgemäß in Konfitüre enthaltenen Früchte ohnehin Zitronensäure liefern und Senf ohne die antioxidativ wirkende Säure nach dem Öffnen sehr schnell unansehnlich braun würde, interessiert Herrn Bode nicht. Schließlich weiß er, dass er mit plakativen, oberflächlich verkürzten Zusammenhängen deutlich mehr Aufmerksamkeit gewinnen kann als mit einer differenzierten Betrachtungsweise. Im weiteren Verlauf des Interviews wies er den Ausweg aus dem undurchschaubaren Angebot zusatzstoffverseuchter Lebensmittel: Es müsse eine neue Lebensmittelkategorie „ohne Zusatzstoffe“ eingeführt werden, sonst sei es heute nämlich gar nicht mehr möglich, Zusatzstoffe zu meiden. Ob sich die Industrie nun ausgerechnet von Foodwatcher Bode hat inspirieren lassen, ist fraglich. Tatsächlich finden sich aber in der Supermarktregalen zunehmend Produkte, bei denen augenscheinlich auf synthetisch hergestellte Zusatzstoffe verzichtet wird: „Ohne künstliche Geschmacksverstärker“, „Frei von künstlichen Emulgatoren“, „Ohne künstliche Farbstoffe“ informieren die Etiketten.

Rund 15 Prozent der in den Jahren 2008 und 2009 neu auf den Markt gebrachten Lebensmittel setzen auf den Verzicht von Zusatzstoffen.2 „Clean Labeling“ nennt sich der neue Trend, der dem Wunsch der Verbraucher nach mehr Natürlichkeit selbst im Convenience-Sortiment folgt. Eine Idee, die sich letztlich selbst widerspricht und gleichzeitig die Frage aufwirft, was eigentlich gerade die Zusatzstoffe zum Verursacher allen kulinarischen Übels macht. Lässt sich doch das Ziel einer gesunden Ernährungsweise längst nicht auf den Verzicht einzelner Stoffe reduzieren, sondern bedarf einer Betrachtung des Gesamten. Zumal die Verwendung von Zusatzstoffen in vorbildlicher Weise geregelt ist: Sie müssen nicht nur auf verpackter, sondern auch bei loser Ware angeben werden. Die Pflicht, Zusatzstoffe namentlich oder mit der verdächtigen „E“-Nummer und in Verbindung mit ihrem technologischen Nutzen zu benennen, macht sie von den übrigen Zutaten leicht unterscheidbar. Auf Süßungsmittel muss sogar außerhalb des Zutatenverzeichnisses hingewiesen werden.

Ein Rückblick auf den Fortschritt

Soweit der Begriff des Zusatzstoffes nach seiner Zweckbestimmung definiert wird, sind die Zusatzstoffe keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. So wird von den Ägyptern berichtet, dass sie schon 3500 v. Chr. Farbstoffe benutzten, um Lebensmittel optisch attraktiver zu machen. Bei den alten Griechen war eine stark salzhaltige, fermentierte Fischsoße mit Namen Garon als Speisezutat und zur Haltbarmachung von Lebensmitteln verbreitet. Schwefeldioxid wurde „zum Austreiben böser Geiser“ verwendet. Dabei war die Giftigkeit manches zugesetzten Stoffes damals nicht einmal umstritten. So wurden Lähmungserscheinungen und Koliken nach dem Genuss von Wein im 15. Jahrhundert klar dem ihm zur Aufbesserung zugesetzten Bleizucker zugeschrieben. Noch mit Beginn des Industriezeitalters wurden die durch Zusatzstoffe erzielten Erfolge bei der Lebensmittelverarbeitung so hoch bewertet, dass damit einhergehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen nur wenig Beachtung geschenkt wurde, selbstverständlich auch in Ermangelung geeigneter Bewertungsverfahren.

Die Wende kam schließlich im 20. Jahrhundert mit der Entwicklung moderner Analysetechniken, die es ermöglichten, die Verwertung einzelner Stoffe im Körper hinsichtlich toxikologischer Gesichtspunkte zu beurteilen. Ein Verbot des Zusatzes bestimmter Stoffe, damals sogenannter Fremdstoffe, formulierte erstmals das Lebensmittelgesetz von 1958. Den Begriff des Zusatzstoffes prägte schließlich das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz von 1974.3

Zusatzstoff: ein Wort, viele Missverständnisse

Ein unglücklich gewählter Begriff, der zu Fehlinterpretationen verleitet, wie sich heute zeigt. Noch unglücklicher ist die Wahl des Klassifizierungssystems anhand sogenannter E-Nummern, die an sich nicht mehr aussagen, als dass ein Stoff eine umfassende Sicherheitsbewertung erfolgreich durchlaufen hat, und die ein über nationale Grenzen hinweg verständliches Kennzeichnungssystem bieten sollten. Zusatzstoffe sind Lebensmittel. Sie dürfen nicht gesundheitsschädlich sein und müssen dafür eigens ein Zulassungsverfahren durchlaufen. Ihr Einsatz muss technologisch notwendig sein und darf den Verbraucher nicht täuschen. Was aber letztlich die eine Substanz zum Zusatzstoff macht, die andere zu technologischen Zwecken zugesetzte Verbindungen wie Milchproteine hingegen zu funktionellen Additiven, die keiner spezifischen Sicherheitsbewertung bedürfen, wird in der öffentlichen Diskussion über das Für und Wider der technologisch wirksamen Stoffe gerne vergessen.

Viele Zusatzstoffe kommen sie in der Natur in weitaus höheren Konzentrationen vor. Wie auch die von Thilo Bode gerne angeführte Zitronensäure: Über 300 Milligramm sind in 100 Gramm Tomate enthalten, in derselben Menge verschiedener Zitrusfrüchte mehr als das Zehnfache. Dagegen fällt die Menge in Senf oder anderen industriell erzeugten Lebensmitteln kaum ins Gewicht. Genauso kommen Glutamate oder Benzoesäure natürlich vor, Ascorbinsäure ist auch als Zusatzstoff zugelassen, letztlich aber nichts anders als Vitamin C. Unberücksichtigt bleibt zudem, dass andere natürlich in Lebensmitteln enthaltene Stoffe oft ein weitaus höheres Potenzial zur Gesundheitsschädigung haben als synthetische Reinsubstanzen, die kontrolliert zugesetzt werden. Rhabarber enthält große Mengen an Oxalsäure, die die Nieren schädigen kann, hochmolekulare Eiweißverbindungen aus Bohnen können zu inneren Blutungen und Krämpfen mit Todesfolge führen, Kartoffeln enthalten giftiges Solanin. Niemand würde wohl auf die Idee kommen, diese traditionell verzehrten Lebensmittel aufgrund ihrer Inhaltsstoffe an den Pranger zu stellen. Jeder weiß, dass Rhabarber nur in Maßen oder besser als Kompott gegessen werden sollte und dass Bohnen und Kartoffeln durch Erhitzen genießbar werden. Ungleich größer der Unwillen gegenüber Zusatzstoffen, egal welchen Ursprungs sie sind. Denn Zusatzstoffe rauben dem Lebensmittel die Unschuld, sind Sinnbild der hochindustrialisierten Lebensmittelherstellung.

Die Gesundheit liegt an anderer Stelle begraben

Das ein oder andere Produkt mag durchaus zu Recht skeptisch beäugt werden: Nudeln, für deren Zubereitung nicht mehr als ein Schuss heißes Wasser notwendig ist, trockene Erbsen, für die dasselbe gilt und die dazu noch genauso grün sind wie das unbehandelte Naturprodukt. Ein rotes Pulver, das sich in Windeseile in eine sämige Soße verwandelt, die tatsächlich nicht nur optisch an Tomate erinnert. Doch erscheint die Debatte um den industriellen Einsatz von Emulgator, Geschmacksverstärker, Farbstoff und Co. emotional überladen. So ist es doch offensichtlich, dass viele Lebensmittel nur dank moderner, mitunter auch synthetisch erzeugter technologischer Zusätze das sein können, was sie sind: Produkte, die leicht zuzubereiten, lange haltbar und zudem sicher sind. Wahre Gaumenfreuden können von ihnen ebenso wenig erwartet werden wie der Traum, durch sie eine naturbelassene und gesundheitsorientierte Ernährungsweise im traditionellen Sinne fördern zu können. Dass Lebensmittel aber aufgrund ihres hohen Gehalts zugesetzter Stoffe die Gesundheit schädigen, dafür fehlt es an wissenschaftlich überzeugenden Argumenten. Zumal der Einsatz von als Zusatzstoff zugelassenen Stoffen streng reglementiert und auch limitiert ist. Viele Traditionsprodukte wie Fruchtsaft, Honig oder Butter dürfen gar keine Zusatzstoffe enthalten, in anderen dürfen sie nur zu bestimmten technologischen Zwecken eingesetzt werden. Produkte wie Diät-Konfitüre für Diabetiker, Cola oder Mayonnaise, die mehrere Wochen haltbar sind, wären ohne Zusatzstoffe gar nicht denkbar. Bei der Zulassung finden Verzehrgewohnheiten und Empfehlungen zu einer gesunden und ausgewogenen Ernährungsweise gleichermaßen Berücksichtigung. Wer sich unausgewogen und überwiegend von Industrieprodukten ernährt, dem mögen gesundheitliche Nachteile tatsächlich nicht erspart bleiben. Dass diese aber auf den Verzehr von Zusatzstoffen zurückzuführen sind, entbehrt jedweder wissenschaftlichen Grundlage. So traurig die Realität auch ist: Fehlernährung aufgrund einer unausgewogenen Nährstoffzufuhr beeinträchtigt die Gesundheit weitaus mehr als Zusatzstoffe, Pestizide oder sonstige Kontaminanten in Lebensmitteln.4

Luxussorge sucht Verantwortlichen

Gerne wird bei den meisten Diskussionen um die Ernährungsprobleme der heutigen Zeit vergessen, dass die Versorgung mit Lebensmitteln noch nie so einfach war. Gerhard Flachowsky, langjähriger Leiter des Instituts für Tierernährung in Braunschweig, sieht drei wesentliche Meilensteine in der Entwicklung der Ernährungssituation: Ging es in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg noch um die Frage, wie überhaupt der Hunger der Bevölkerung zu stillen sei, rückten in den Zeiten des Wirtschaftswunders geschmackliche Vorlieben in den Vordergrund. Seit Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts, wohl nicht zuletzt als Reaktion auf die medial ausgeschlachtete BSE-Krise, macht sich eine zunehmende Verunsicherung des Verbrauchers breit. Sind unsere Lebensmittel sicher? Und wie wurden sie erzeugt? Fragen, die durchaus berechtigt sind. In Anbetracht umfangreicher gesetzlicher Bestimmungen, amtlicher sowie betriebsinterner Kontrollen müssten sie jedoch längst nicht in dem Maße zu Verunsicherung führen, wie es aktuell der Fall ist.

Dass die Kennzeichnung einzelner Lebensmittel nicht alle gewünschten Informationen liefert und sie einige Verbraucher mitunter auch falsch verstehen, ist sicherlich zutreffend. Wer aber – wider rational begründbare Argumentationen – seinen Speiseplan möglichst frei von technologisch wirksamen Stoffen halten will, ist mit der aktuellen Situation eigentlich bestens bedient. So bedarf es schon einer gewissen Naivität zu glauben, dass industriell erzeugte Lebensmittel ohne deklarationspflichtige Zusatzstoffe tatsächlich eine Alternative wären. Schließlich muss bei gleichbleibendem Preis, vergleichbarer Qualität und Sicherheit zwangsläufig ein geeigneter Ersatz gefunden werden, sodass ein Verzicht auf viele der zugelassenen Zusatzstoffe letztlich nicht mehr als Augenwischerei ist.

Unlängst kreierte der Ernährungskritiker Udo Pollmer in einem seiner Bücher5 den denkwürdigen Begriff des „Zusatzstoff-Imitats“: hochverarbeitete Stoffe, isoliert aus Lebensmitteln, die wie Zusatzstoffe wirken, sich einer entsprechenden Kennzeichnungspflicht aber entziehen. Angesichts der aktuellen Diskussionen über imitierte Traditionsprodukte wie Käse, Wurst und Meeresfrüchte ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich Ähnliches zum Thema Zusatzstoff-Imitate entspinnt. Es ist nicht viel Fantasie notwendig, um sich vorzustellen, dass in diesem Fall eine spezielle Kennzeichnung für funktionelle Additive gefordert wird. Eine bisschen mehr Pragmatismus wäre daher sicherlich zielführender als „Clean Labels“, die in der Konsequenz zu einer wissenschaftlich nicht fundierten Diskriminierung von Zusatzstoffen führen.

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