01.03.2010
Wer oder was prägt unsere Kinder?
Essay von Helene Guldberg
Menschen sind keine genetischen oder pädagogischen Abziehbilder. Sie schaffen und verändern unsere Kultur. Von Helene Guldberg
Kürzlich wurde das Buch The Nurture Assumption: Why Children Turn Out The Way They Do (Ist Erziehung sinnlos? Warum Kinder so werden, wie sie sind) von Ruth Rich Harris neu aufgelegt. Es trifft immer noch einen Nerv und bietet eine willkommene Abwechslung zu den schrillen Stimmen, die uns über „richtige Erziehung“ aufklären möchten. Die dem Werk zugrunde liegende „evolutionäre Theorie“ und Sozialpsychologie, mit denen erklärt werden soll, warum wir zu dem werden, was wir sind, lassen allerdings zu wünschen übrig. „Einer der Gründe, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe, ist, weil ich Eltern ein wenig von dem Druck nehmen wollte, dem sie durch die professionellen Erziehungsberater ausgesetzt sind“, schreibt Harris. „Die Annahme, alles habe etwas mit sozialer Prägung zu tun, hat Kinder zu Objekten intensiver Ängste gemacht. Eltern sorgen sich darüber, das Falsche zu tun, und fürchten, ein zu harscher Ton oder Blick könne die Chancen des Kindes für immer beeinträchtigen.“ Ratgeber, so Harris, schafften es irgendwie immer, Eltern die Freude an der Erziehung zu nehmen und daraus einen anstrengenden Job zu machen.
„Wenn man gelegentlich aus der Haut fährt und sein Kind schlägt, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass ihm dadurch ein bleibender Schaden zugefügt wird“, fährt die Autorin fort. Das bedeute jedoch nicht, dass es egal sei, ob man zu seinem Kind regelmäßig boshaft sei, denn dann riskiere man, das Verhältnis zu seinem Kind nachhaltig zu stören – möglicherweise für den Rest des Lebens. Doch auch ein solches Verhalten werde das Verhältnis des Kindes zu anderen Erwachsenen nicht nachhaltig prägen, schreibt Harris. Akribisch widerlegt sie die Behauptung zahlreicher Akademiker und Experten, Kinder würden durch ihre frühen familiären Bedingungen geprägt: „Die Experten irren sich: Elterliche Erziehung bestimmt nicht, wie ein Kind später wird.“
Ein Großteil der Belege für den Einfluss verschiedener Erziehungsstile auf den späteren Charakter von Kindern basiert auf Korrelationsuntersuchungen. Harris zeigt, dass viele der hieraus abgeleiteten Behauptungen weit überzogen sind. Forscher sammelten häufig eine Menge Daten über die Studienteilnehmer. Wenn sie beispielsweise fünf Paramater zur häuslichen Umgebung sammeln und fünf Paramater, wie die Kinder später sind, könnten diese Paramater in 25 verschiedenen Kombinationen miteinander verbunden werden – und somit 25 verschiedene Korrelationen geben. Wie Harris hervorhebt, ist es wahrscheinlich, dass allein aus Gründen des Zufalls zwei dieser Faktoren statistisch signifikant ausfielen. Aber auch wenn keine der Faktoren statistisch signifikant sei, bräuchten die Forscher nur die Daten noch weiter zu unterteilen. Betrachte man etwa Mädchen und Jungen unterschiedlich, erhielte man sofort die doppelte Zahl an Korrelationen. Damit habe man dann 50 Möglichkeiten, um die eigene These zu belegen. Auch zwischen Müttern und Vätern zu unterscheiden, könne sich in diesem Fall lohnen, um die eigene Vorstellung zu belegen.
Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise bietet die staatlich finanzierte Studie des britischen „Institute for Education“. Die englische Zeitung Daily Mail schrieb, die Studie zeige, dass „Kinder eine größere Chance hätten, ausgeglichene Erwachsene zu werden, wenn ihre Eltern auf konsequente Disziplin achteten“.1 Die Autoren der Studie wollten die bestimmenden Faktoren „guter Erziehung“ finden. Sie kamen zu dem Schluss, dass „die psychische Gesundheit der Mutter, das Stillen sowie das soziale Netzwerk die entscheidenden Faktoren“ seien, um elterliche Erziehungsfähigkeiten zu stärken.2 Auf welcher Grundlage kamen sie zu diesen Schlussfolgerungen? Die Forscher betrachteten eine ganze Reihe von Faktoren sowie die „Qualität der Mutter-Kind-Interaktion“. Berücksichtigt wurden u.a.: der Familienstand der Mutter, die Zufriedenheit der Mutter mit ihrer Ehe, das Familieneinkommen, das Stillen, die Einstellung zum Stillen, die Einstellung zur Kinderbetreuung, die Qualität der mütterlichen Fürsorge, die die Mutter in ihrer eigenen Kindheit erhalten hatte, das Auftreten postnataler Depressionen, das Alter der Mutter bei der Geburt, der Bildungsstand der Mutter etc. Um die Mutter-Kind-Interaktion zu beurteilen, wurden die „Menge an Wärme“ sowie die „erzieherische und bildende Kommunikation“ gemessen, die eine Mutter beim Vorlesen eines Bilderbuchs mit ihrem Kind im Alter von erst einem und dann mit fünf Jahren zum Ausdruck brachte. Natürlich konnten die Forscher einige „statistisch signifikante Korrelationen“ aufzeigen. Bei so vielen möglichen Korrelationen wäre allerdings alles andere erstaunlich gewesen.
Das Buch von Harris ist wichtig, weil es Studenten – und auch Nichtstudenten – durch das Minenfeld der Korrelationsforschung führt. Es zeigt die vielen methodologischen Tricks, die angewandt werden, um medientaugliche Ergebnisse zu erzielen. Eine Stärke des Buchs ist, dass es Eltern ermuntert, sich weniger um die Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. Die Frage, warum Kinder sich wie entwickeln, beantwortet es jedoch nur sehr unzureichend. Harris schreibt, es gebe Hunderte von Ratgebern für Eltern – Bücher, die einem sagten, was man falsch mache und was man bei der Erziehung besser machen könne. „Suchen Sie sich ein gutes aus – vielleicht hilft es Ihnen zu ergründen, warum Kinder sich zu Hause so oder so benehmen. Mein Ziel ist es jedoch zu erklären, wieso sie sich in der Welt außerhalb des Heims so oder so benehmen – die Welt also, in der sie den Rest ihres Lebens verbringen werden.“
Der theoretische Rahmen, den Harris bemüht, um zu erklären, was uns zu dem macht, was wir sind, ist allerdings so ungenau wie der Rahmen, den sie in ihrem Buch kritisiert. Es seien nicht die Eltern, die uns prägen, schreibt sie, sondern die Kombination unserer Gene und die „Gruppensozialisierung“. Harris begrüßt die Tatsache, dass es wieder akzeptabel geworden sei, unser Verhalten als durch unsere Gene beeinflusst zu verstehen. Die Umwelt habe jedoch auch einen Einfluss, sagt sie – ähnlich wie beim Gedeihen eines Korns. Sie versucht dies sogar zu beziffern: Der Umwelteinfluss mache ungefähr die Hälfte der persönlichen Charakterunterschiede aus. Ihre These baut auf der „Gruppensozialisationstheorie“ der Sozialpsychologie auf. Es geht um die zwei Schlüsselkonzepte der „Assimilation“ und „Differentialisierung“. Kinder seien durch die Gruppenzugehörigkeit „sozialisiert“. Laut Harris entwickeln Kinder ihr Benehmen, indem sie sich mit einer Gruppe identifizieren und so deren Einstellung, Verhalten, Ausdrucksweise und persönlichen Stil kopieren. Als Begründung für die Bedeutung der Gruppensozialisation greift sie auf die Evolutionstheorie zurück: Die Mitglieder anderer Gruppen zu hassen, sei Teil unserer menschlichen (schimpansenartigen) Natur.
In Wirklichkeit können wir jedoch die Komplexität des menschlichen Verhaltens nicht aufgrund von solch einfachen Regeln wie „Assimilation“ und „Differentiation“ verstehen. Diese Konzepte mögen einen Rahmen zur Erklärung mancher Prozesse geben, die unser Verhalten bestimmen. Dies wäre jedoch nur eine sehr partielle, ahistorische und wenig bedeutsame Einsicht. Harris behauptet jedoch, diese Prozesse könnten alles erklären – angefangen vom Patriotismus über den Krieg bis hin zum Schuleschwänzen oder zum Schulerfolg. Sie behauptet sogar, das Grundphänomen der Gruppenbeziehungen sei so robust und so leicht nachzuweisen, dass Sozialpsychologen wenig Grund für Zweifel bliebe: „Unsere genetische Zusammensetzung ist fast identisch mit der des Homo sapiens sapiens von vor 150.000 Jahren.“
Für mich ist die Sozialpsychologie jedoch eine der am wenigsten erhellenden Denkrichtungen der Psychologie. Die Sozialpsychologie entstand Ende des 19. Jahrhunderts und basierte auf der Angst vor und der Verachtung für die Massen – im Kontext einer Welle von Arbeiterunruhen. 1895 bezeichnete der französische Sozialpsychologe Gustave Le Bon Protestierer als aufgebrachte Mobs, bei denen die normalen psychologischen Kapazitäten unterdrückt seien und die die Irrationalitäten von Primaten auslebten. Indem also das menschliche Verhalten als „Gruppenprozess“ ohne Berücksichtigung des sozialen Kontextes beschrieben wird, wird automatisch die individuelle Subjektivität untergraben.
Der Psychologe Steven Pinker bezeichnet das Buch von Harris dennoch als Wendepunkt in der Geschichte der Psychologie. Interessante Einsichten hat es aber vielmehr auf anderen Gebieten der Psychologie gegeben – von Wissenschaftlern, die über die statische „Umwelt-versus-Erziehungs-Debatte“ hinausgegangen sind. Harris und Pinker scheinen das Ausmaß der Forschung, nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie (einem Bereich der Psychologie, der laut Harris für viel nutzloses Zeug verantwortlich ist), nicht ausreichend zu schätzen.
Bereits in den 30er-Jahren haben die berühmten Psychologen Alexander Romanowitsch Luria und Lew Semjonowitsch Wygotski in ihrem Buch Ape, Primitive Man and Child einen brauchbaren Rahmen erarbeitet, der zu erklären hilft, was uns zu Menschen macht. Demnach sind die Menschen das Produkt von drei verschiedenen Entwicklungslinien: die evolutionäre, die historische und die ontogenetische (die individuelle): „Irgendwann in der Entwicklung eines Kindes verwandelt sich dieses biologische Wesen in ein bewusstes, durch Selbsterkenntnis charakterisiertes Wesen.“ Die Anthropologie, die Paläontologie, die Primatologie, die Genetik und andere Disziplinen haben uns Einsichten in unsere evolutionäre Geschichte geliefert. Doch, wie Luria und Wygotski hervorheben, ist die Evolution unserer genetischen Zusammensetzung lediglich eine Voraussetzung für unser Menschsein.
Tatsächlich sind unsere Gene, wie Harris schreibt, mit denen des Homo sapiens sapiens, der vor rund 150.000 Jahren lebte, fast identisch. Doch hinsichtlich unseres heutigen Lebens – der Ziele, Werte, Einstellungen, des sozialen Zusammenlebens, der Intelligenz und vielem mehr – sind wir mit unseren Vorfahren nicht zu vergleichen. Um wirklich zu verstehen, was uns zu dem macht, was wir sind, müssen wir daher weit über die evolutionäre Entwicklung hinausgehen. Aufbauend auf dem Werk von Karl Marx, der bekanntlich meinte, dass Menschen ihre eigene Geschichte machen, jedoch nicht unter den von ihnen selbst gewählten Umständen, zeigten Luria und Wygotski, dass wir nicht nur das Produkt biologischer Evolution sind, sondern auch historischer Entwicklungen und Kindheitsbeziehungen. Ihr Konzept unterscheidet sich sehr von der einfachen Vorstellung einer „Gruppenzugehörigkeit“, wie sie die meisten Sozialpsychologen hervorheben.
Auf dem Gebiet der dritten Entwicklungslinie, der ontogenetischen oder individuellen, hat die Psychologie (und vor allem die Entwicklungspsychologie) die wichtigsten Fortschritte gemacht. Säuglinge sind bei der Geburt lediglich ein Bündel biologischer Reflexe. Wie Luria und Wygotski schrieben, bilden „vererbte Reaktions- oder angeborene Verhaltensmuster bei allen Tieren die erste Entwicklungsstufe für das Verhalten. Dies nennt man normalerweise Instinkt, und er dient meist der Befriedigung der Grundbedürfnisse des Organismus“.3 Doch an einem Punkt der kindlichen Entwicklung verwandelt sich das biologische in ein bewusstes, selbst reflektierendes Wesen, das in der Lage ist, an unserer kollektiven Kultur teilzunehmen.
Der Entwicklungspsychologe Michael Tomasello zeigt, dass dies erst dann möglich wird, wenn Kleinkinder Mitmenschen wie sich selbst als bewusste Wesen wahrnehmen. Diese „einzigartige, menschliche kognitive Kompetenz“ entstehe nicht auf einmal und funktioniere nicht überall gleich: „Im Gegenteil: Das menschliche Verständnis von anderen als bewusste Wesen zeigt sich zuerst im Alter von ungefähr neun Monaten. Seine wirkliche Kraft wird aber erst mit der Zeit sichtbar, wenn Kinder die kulturellen Werkzeuge anwenden, die sie durch dieses Verständnis erst erlernen können, allen voran die Sprache.“4 Luria, Wygotski und viele andere Entwicklungspsychologen haben gezeigt, dass unsere zwischenmenschlichen Beziehungen nicht nur wichtigen Entwicklungsfunktionen dienen, sondern auch Kanäle darstellen, durch die wir mit unserer kollektiven Kultur interagieren. Kultur wird nicht einfach nur passiv aufgenommen, so wie es Harris und andere moderne Sozialpsychologen durch das abstrakte Konzept der „Gruppenzugehörigkeit“ implizieren. Menschen werden weder allein durch die Natur noch durch die jeweilige Gruppe („Erziehung“) geformt. Wir sind aktive Wesen, die in ihre Umwelt eingreifen und die Fähigkeit haben, die kollektive Kultur unserer Zeit zu gestalten.