03.12.2009

Messen ohne Sinn und Verstand

Kommentar von Sabine Beppler-Spahl

Wenn Bildung alles sein soll, bleibt sie notgedrungen auf der Strecke. Eine polemische Erwiderung auf die nicht enden wollende Instrumentalisierung des Bildungsbegriffs.

1. Messen, zählen, vergleichen: Die Zahlenspiele der OECD dienen einer Pädagogik der Hitliste, des nationalen und globalen Konkurrierens, ohne dass dadurch irgendetwas besser würde.

Das schlechte Abschneiden Deutschlands bei verschiedenen internationalen Studien zur Leistungsfähigkeit des Bildungswesens hat im Wesentlichen zu zwei Reaktionen geführt. Einige bezweifelten ihre wissenschaftliche Dignität, zumindest in Details. Die meisten nahmen das Urteil aber willig an und begrüßten das plötzliche Interesse an Bildungsfragen, das, so die einhellige Meinung, der Sache selber nur gut tun könne. Keiner fragte nach, was das Über-einen-Kamm-Scheren aller Fünfzehnjährigen bei Pisa oder der kürzlich von der OECD errechnete Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt über die individuelle Lebenswirklichkeit und nationale Gegebenheiten aussagt. Wenn hier Mexiko besser abschneidet als Deutschland, sollte die Messlatte im Interesse der mexikanischen Kinder und der deutschen Reformdebatte weggestellt werden.
Wie oder ob überhaupt irgendein Zusammenhang zwischen guter oder schlechter, viel oder wenig Bildung mit den angeblichen Zielen der Bildungsforscher und Bildungsgläubigen besteht oder hergestellt werden kann, ist völlig unklar. Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung dank zukunftsweisender Innovationen und Ausschöpfung aller noch brachliegenden Begabungsreserven im Großen – soziale Teilhabe und Gerechtigkeit jenseits aller Schranken, die Herkunft und Geld errichtet haben im Einzelfall –, all das soll ein effizienteres und weiter ausgebautes Bildungssystem verwirklichen.


2. Warnung vor den Lobbyisten des pädagogisch-sozialen Komplexes: Anders als behauptet gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen Bildungsinvestitionen und der wirtschaftlichen Dynamik einer Volkswirtschaft.

Zum 60. Jahrestag der Währungsreform beschwor Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht nur die Vision der „Bildungsrepublik Deutschland“, sie behauptete auch: „Wohlstand für alle heißt heute: Bildung für alle!“ Sie spiegelte damit den verbreiteten Glauben, mehr Bildung wirke sich auf zukünftiges Wachstum und den Wohlstand aller aus. Die Verlängerung der Schulzeit, die Erhöhung der Abiturienten- und Studentenquoten und die Verpflichtung zur Fortbildung in jeder Lebenslage sind die scheinbar logische Konsequenz. Da muss man es dann bedenklich finden, wenn nur zehn Prozent der momentan in Kurzarbeit befindlichen deutschen Arbeitnehmer an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, wie es wohl ihre Pflicht wäre, oder wenn – auch das meldet die OECD – nur 2,5 Prozent der 30- bis 39-jährigen Berufstätigen zu diesem Zweck Hochschulen besuchen. In Finnland, Schweden und Australien tun das angeblich 13 Prozent.
Handfeste Belege für den Zusammenhang von Bildung, Wohlstand und Wachstum findet aber weder der Wirtschaftshistoriker noch der Ökonom mit Blick auf die Gegenwart. Die Schweiz, eines der reichsten Länder überhaupt, investierte viele Jahre sehr wenig in höhere Bildung. Erst neuerdings erhöhte sich die Zahl der Schulabgänger, die ein Universitätsstudium aufnehmen, auf 15 Prozent – noch vor fünf Jahren waren es nur halb so viele. Südkorea galt und gilt vielen als Musterbeispiel, da das Land seit den 60er-Jahren einen Schwerpunkt auf Bildung gelegt hat und sich seither parallel dazu eines deutlichen Wirtschaftswachstums erfreut. Der Vergleich zu anderen Ländern, die ebenfalls große Bildungsanstrengungen gemacht haben, ohne davon zu profitieren, zeigt aber, dass es keinen direkten Zusammenhang von Bildung und Ökonomie gibt. Ägypten hat seit 1970 die Zahl der Kinder auf weiterführenden Schulen und die Zahl der Studenten verdoppelt, „verbesserte“ sich aber auf der Liste der ärmsten Länder der Welt so gut wie gar nicht. Unter den zahllosen Faktoren, die Wirtschaftswachstum und Wohlstand begünstigen, ist Bildung einer der unwichtigsten. Etwas anderes behaupten nur die Lobbyisten, die das Bildungssystem, der pädagogisch-soziale Komplex, so gut hervorbringt wie jede andere Industrie.


3. Bildung ist für alle da, zahlt sich ökonomisch aber nur für Einzelne aus.

Wenn es zwischen Bildung und Wirtschaftskraft eines Landes einen Zusammenhang gibt, dann geht Letztere der Ersten voraus. Wohlstand führt nämlich dazu, dass sich immer mehr Eltern höhere Bildung für ihren Nachwuchs leisten können und wegen des persönlichen Gewinns für ihre Kinder auch wollen. In Deutschland waren Abitur und Studium bis weit in die 60er-Jahre hinein einer schmalen Schicht vorbehalten, die ihre Privilegierung in sozialen Dünkel und Führungsanspruch ausmünzte.
Der Bundesrepublik ist die sprunghafte Steigerung der Abiturienten- und Studentenzahlen seit den 60er-Jahren sozial gut bekommen. Klassendünkel und elitäres Gehabe wagen sich nicht mehr an die Öffentlichkeit. Andererseits wurden Abitur und Studium durch die Bildungsexpansion als Selektionsinstrumente entwertet, ohne dass man sich aber von dem Konzept der Selektion durch Bildung verabschiedet hat. Alle schönen Reden von mehr Gerechtigkeit und individualisierter Förderung in besseren Schulen ändern nichts an der Tatsache, dass gerade ein „gerechtes“ System auf Leistungsvergleich, Konkurrenz und Auslese geeicht ist und daher ununterbrochen Sieger und Verlierer produziert.
Das klassische Notensystem wird laufend ergänzt durch weitere Mess- und Diagnoseverfahren, die immer jüngere Kinder erfassen. Dem Kindergarten ist neben dem Betreuungs- inzwischen ja auch noch eine Bildungsaufgabe zugesprochen worden, die von möglichst akademisch ausgebildeten Erziehern bewältigt werden soll. Was in der Reformrhetorik so innovativ und progressiv klingt, besonders für alle aus bildungsfremden Familien stammenden Kinder gedacht scheint, vermehrt den konstanten Druck auf alle Eltern sicherzustellen, dass ihre Sprösslinge von Anfang an zu den „Gewinnern“ zählen. So wird alles getan, um die Synapsenbildung der frühen Kindheit in die „richtigen“ Bahnen zu lenken – von Frühenglisch bis hin zur musikalischen Früherziehung wird den Kleinen alles zugemutet, was der Geldbeutel und die freie Zeit noch hergeben. Die offene Selektion nach Herkunft ist durch ein verdecktes System der Selektion ersetzt worden, bei dem diejenigen Kinder reüssieren, deren Eltern mit den neuen Spielregeln des Erfolgs am besten vertraut sind.


4. Das Konzept der Wissensgesellschaft verkennt die Realität auf dem Arbeitsmarkt und übergeht die Interessen eines Großteils der arbeitenden Bevölkerung.

Experten sprechen immer wieder von einem Wandel von der Industrie- über die Dienstleistungs- hin zur „Wissensgesellschaft“. Angeblich stellt die fortschreitende Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen höhere Anforderungen an die allgemeinen und spezifischen Kompetenzen aller. Das ist Wasser auf die Mühlen der Lobby, die das Bildungssystem einer Ökonomie unterwerfen will, von der man nur weiß, dass man wenig von ihr weiß, und schon gar nicht, wie sie sich in Zukunft entwickeln wird.
Zwar hat sich die Beschäftigungsstruktur in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert und wird sich weiter verändern. Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und der produzierenden Industrie sind vielfach verschwunden; Tätigkeiten in Verwaltung, Technik, im Gesundheits- und Bildungswesen haben zugenommen. Das bedeutet aber nicht, dass es in Zukunft immer weniger Jobs für Geringqualifizierte geben wird. Millionen Menschen erledigen heute und in Zukunft Arbeiten, die nicht ins Schema der „Wissensgesellschaft“ passen. Überall gibt es Tätigkeiten, für die man kaum mehr als Grundqualifikationen und die Bereitschaft zum Anpassen und Umlernen braucht. Gewiss erhob die alte DDR aus ideologischen Gründen fast jede Tätigkeit in den Rang eines Lehrberufs – man muss es ihr aber nicht nachmachen und so tun, als ließen sich Rezessionen, Konjunktureinbrüche und eine hohe Arbeitslosigkeit mit Bildungs- und Ausbildungsdefiziten erklären und durch die Verordnung von Weiterbildungsmaßnahmen sowie die Pflicht zu lebenslangem Lernen aus der Welt schaffen. Man gibt dabei den Schwarzen Peter nur an die weiter, die aktuell, etwa in der Bankenkrise, oder immer schon schlechte Karten in der Hand hatten.
Dabei gibt es viele gute Gründe, weshalb mehr Bildung auch denen nützt, die ihren Unterhalt mit wechselnden Jobs auf dem Sektor un- und angelernter Tätigkeiten verdienen. Aber diese Bildung muss andere Formen und andere Inhalte annehmen, als sie unter dem irrealen Zwang zur Mobilisierung aller Kräfte für das nationale Wirtschaftswachstum praktiziert und vermittelt werden. Bildung, inszeniert als Rennen auf der Bildungslaufbahn mit möglichst hohem Tempo und messbaren Leistungen, eine Auffassung, wie sie die Forscher der OECD unaufhörlich popularisieren, verspricht, was sie nicht halten kann: Wachstum und Gerechtigkeit.


5. Die Erhöhung der Abiturienten- und Studentenquote hat auf dem Arbeitsmarkt eine Dynamik ausgelöst, die verschwenderisch und unsozial ist.

Die Zahl der Lehrstellen, bei denen Abiturienten bevorzugt werden, oder der Positionen, für die ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorausgesetzt wird, hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Arbeitslosigkeit unter Akademikern ist weit geringer als die der Nichtakademiker – auch mit diesen Zahlen wirbt die OECD für vermehrte Bildungsanstrengungen. Man unterstellt, dass in der Wissensgesellschaft mehr Hochqualifizierte gebraucht werden, und unterschlägt, dass tatsächlich auf dem Arbeitsmarkt ein Verdrängungsprozess von oben nach unten stattgefunden hat. Abitur, Studium und alle möglichen Extrazertifikate dienen allzu oft der Selektion und sind nicht in den Anforderungen der Arbeitspositionen begründet.
So sehen sich immer mehr junge Menschen gezwungen, den Weg einer höheren und längeren Bildung zu beschreiten, obwohl sie keinerlei wissenschaftliche Interessen haben und lieber schnell in die Praxis kämen – einfach weil sie ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt bedenken müssen. Eine Folge dieser Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen und individueller Lebenszeit sind allzu viele passive und unmotivierte Schüler, Studenten und Studienabbrecher – Probleme, auf die der in Deutschland besonders radikal durchgeführte „Bologna-Prozess“ mit einer Verschulung der Studiengänge geantwortet hat. Hinzu kommt die Frage, was es für das Personal an den Universitäten selbst bedeutet, wenn es seine Energie statt in Forschung zunehmend in Unterricht, Didaktik und ins Prüfungswesen investieren muss.


6. Die Bildungsexpansion führt nicht zu mehr Chancengleichheit und einer gerechteren Gesellschaft.

Die Bildungsforscherin Alison Wolf hat in einer detailreichen Untersuchung für England nachgewiesen, dass die Nutznießer der Bildungsexpansion allein die sogenannten Mittelschichten sind. Eine vergleichbar genaue Prüfung der deutschen Verhältnisse fehlt – will man nicht die wiederkehrende Klage über die soziale Selektion unseres Systems, auf die man mit weiterer Expansion nach bekannten Mustern zu reagieren gedenkt, dafür nehmen. Wolf zweifelt nicht daran, dass sich viele ihrer Befunde auf Deutschland übertragen lassen. Der Trend geht überall dahin, dass künftig so gut wie alle Kinder der Mittelschicht ein Studium aufnehmen werden. In den USA haben in den 70er-Jahren Kinder aus gut situierten Familien, aber mit schlechten Schulleistungen deutlich seltener ein College besucht als Kinder aus armen Familien, aber mit überdurchschnittlichen Leistungen. Das hat sich seit den 90er-Jahren geändert. Heute entscheiden weniger Begabung und Leistung über ein Studium als die Familienherkunft. Ein Kind aus der Unterschicht muss sehr gut sein, wenn es auch nur dieselben Chancen haben soll wie ein schlechtes aus wohlhabender Familie. Solche Befunde wären noch zu ergänzen durch andere aus der Elitenforschung, die die Selektion nach Studium und Berufseintritt untersucht.
Die Durchsetzung formaler Abschlüsse als Selektionskriterium auf dem Arbeitsmarkt lag und liegt im Interesse der bildungsaffinen Schichten, die ihren Nachwuchs natürlich am erfolgreichsten durch ein System schleusen, das sie selbst entwickelt haben, personell ausstatten und bewerben. Auf der Strecke bleiben zahllose Kinder und Jugendliche, für die keine guten Lehrstellen mehr übrig sind, weil Abiturienten sie ihnen wegnehmen. Höhere Positionen werden ohnehin nur noch von Hochschulabgängern besetzt.
Ein Blick auf die Lebensläufe älterer Fach- und Führungskräfte in der Industrie zeigt, dass diese neue Blüte des Berechtigungswesens früher unbekannt war. Viele bis hinauf in die Vorstände der DAX-Unternehmen haben als Lehrlinge angefangen und waren später deshalb keine schlechteren Manager als die heutige Generation mit Jura oder BWL im Kopf.


7. Der Glaube an „Bildung für Wachstum und Gerechtigkeit“ führt zu mehr Regulierung und sozialer Steuerung. Politische Kräfte gewinnen an Einfluss, die keinerlei demokratische Legitimation besitzen.

Die Organisation von schulischer, beruflicher und universitärer Bildung war bisher Ergebnis historisch gewachsener, lokaler und nationaler Praktiken. Die Bildungssysteme Englands, Frankreichs, der USA und Deutschlands etwa unterschieden sich hinsichtlich ihres Aufbaus und ihrer Zielsetzungen deutlich.
An die Stelle von Traditionen und wenigstens teilweise demokratisch geführten Debatten über Bildung tritt heute ein von Experten formulierter Konsens. Bildung ist für sie ein Instrument, das planbar, messbar und auf ein klares Ziel hin ausgerichtet werden kann. Reformen sind nicht das Ergebnis von breiten politischen Debatten, sondern scheinbar zwingende Folgen fachkundiger Analysen, in denen plakativ eingesetzte Zahlen die Argumente liefern sollen. Wem die Instrumentalisierung von Bildung für das Wirtschaftswachstum nicht gefällt, der hört die soziale Rhetorik vielleicht lieber – und ebenso unkritisch. Man kann sich Reformen wünschen, aber bestimmt nicht solche, die in fantasieloser Engführung den Status quo durchrationalisieren und, ohne die Versprechen einlösen zu können, auch noch die letzten gemütlichen Bildungsenklaven austrocknen.

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