05.03.2010

Angst vor der eigenen Courage

Analyse von Alexander Horn

Noch bedrohlicher als die Wirtschaftskrise ist die Rat- und Orientierungslosigkeit der Eliten.

In der gegenwärtigen Krise jagt ein wirtschaftlicher Negativrekord den nächsten. Erstmals seit 60 Jahren wird die Weltwirtschaft nicht mehr wachsen. Finanzspritzen und Konjunkturprogramme belasten die Staatsfinanzen so sehr, dass viele Länder vor dem Staatsbankrott stehen. Die Handlungsspielräume der noch etwas besser aufgestellten Länder wie etwa Deutschland werden ebenfalls immer kleiner. Erst Ende März musste der britische Regierungschef Gordon Brown einsehen, dass ein weiteres Konjunkturprogramm in Großbritannien nicht finanzierbar ist, da das Haushaltsdefizit die Kreditwürdigkeit des britischen Staates infrage stellen könnte. [1] Investoren hatten zuvor britische Staatsanleihen verschmäht. [3]

Die Krise wird auch die politischen Verhältnisse kräftig durchrütteln. Absehbar ist bereits, dass die G8-Runden durch die G20 abgelöst werden. China, mit Währungsreserven von 2000 Milliarden US-Dollar weltgrößter Gläubiger und wichtigster Finanzier des US-amerikanischen Schuldenberges, stellt eine Ablösung des US-Dollars als internationale Reservewährung zur Diskussion. [3] Die gegenseitigen Abhängigkeiten in der Weltwirtschaft sind jedoch so groß, dass auch Peking kein Interesse daran hat, das gegenwärtige Arrangement grundsätzlich infrage zu stellen. US-Außenministerin Hillary Clinton ermahnte im Februar die chinesische Regierung, auch im eigenen Interesse weiterhin in US-Staatsanleihen zu investieren, um die eigenen Exporte in die USA nicht zu gefährden. „Wir müssen mehr Schulden aufnehmen. Es wäre nicht im Interesse Chinas, wenn wir unsere Wirtschaft nicht wieder in Gang bekommen.“ Die gegenwärtigen Realitäten anerkennend fügte sie abschließend hinzu: „Wir werden zusammen aufstehen oder untergehen.“ [4]

Besorgniserregend ist vor dem Hintergrund des massiven weltwirtschaftlichen Einbruchs und des Wankens des weltpolitischen Rahmens die geistige und moralische Verfassung der Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft. Nicht nur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fällt auf, dass die Politik offenbar jede Orientierung verloren hat und sich auf einer „ordnungspolitischen Geisterfahrt“ befindet. Die Bezeichnung der gegenwärtigen Krise als Finanz- und Wirtschaftskrise wird schon längst ihrer realen Bedeutung nicht mehr gerecht. Es ist vor allem die tiefe Orientierungs- und Perspektivlosigkeit in Politik und Wirtschaft, die maßgeblich für die Krise verantwortlich ist und deren Ausgang wesentlich beeinflussen wird.

Noch vor der Krise hatte der CDU-Wirtschaftsexperte Friedrich Merz gewarnt, dass es aufgrund der negativen Haltung der Politik, die sich bisweilen in offener Abscheu gegenüber der Marktwirtschaft äußert, „auf Dauer zu einem Dissens zwischen den weit verbreiteten Überzeugungen und Befürchtungen einer Bevölkerung und den Entscheidungen der politisch Verantwortlichen“ komme. [5] Auch Deutschlands bestverdienender Manager, der Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, problematisierte schon 2006 in seinem Buch Anders ist besser die in Wirtschaft und Politik grassierende Ablehnung des Marktes: „Der Kapitalismus … steckt in einer heftigen Krise. Es sind nicht mehr nur irgendwelche Außenseiter, die sich als notorische Kritiker des Kapitalismus hervortun. Gestandene Manager wie der Chef der Investmentfirma Goldman Sachs und etablierte Medien wie das Wall Street Journal“ übernähmen diese Aufgabe inzwischen. [6] Im Zuge der jetzigen Krise haben sich nun die Schleusen vollständig geöffnet. Von der Regierungskanzel wird inzwischen so nachhaltig gegen den Kapitalismus, den Neoliberalismus und die von ihm beförderte „Gier“ gewettert, dass sich die Linke und Attac nach einem neuen Geschäftsmodell umsehen müssen. Peter Wahl, Mitbegründer von Attac Deutschland, meinte lapidar: „Unsere Positionen sind Mainstream geworden, und da stellt sich die Frage: Sollen wir jetzt einfach radikaler werden?“ [7] Es scheint fast so, als hätten die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft gänzlich die Nerven verloren.

Um einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Krise aus dem Weg zu gehen, da diese möglicherweise kritische Fragen über den Markt aufwerfen könnte, ist die Bereitschaft in Politik und Wirtschaft groß, Verschwörungstheorien anzuhängen. Nichts anderes ist die Fokussierung auf „gierigen Banker“, denen die Verantwortung für das ganze Desaster zugeschoben wird. Vor nicht allzu langer Zeit lag die Welt Halbgöttern wie dem US-Notenbankchef Alan Greenspan noch zu Füßen. Sie hatten es scheinbar geschafft, die Weltwirtschaft trotz wiederholter Anzeichen von Wirtschaftsschwäche auf einem fortwährenden Prosperitätspfad zu halten. Die vor allem in den USA und Großbritannien forcierte Kreditausweitung und der damit angeregte Konsum haben mindestens zehn Jahre lang einen wesentlichen Beitrag zum Wachstum der Weltwirtschaft geleistet und Schwächen, wie etwa die chronisch niedrigen Investitionen in den entwickelten Volkswirtschaften, kompensiert. Noch am ehesten lässt sich den Bankern vorwerfen, dass sie bei der Bewertung von Kreditrisiken naiv, dumm und verantwortungslos gehandelt und so das ganze Kreditgebäude zum Einsturz gebracht haben. Nicht vorwerfen kann man ihnen jedoch, dass der Kapitalismus offenbar auf die Kreditdroge angewiesen war, um weiter zu expandieren.

Bereits seit den 80er-Jahren ist die wirtschaftliche Entwicklung in allen führenden Volkswirtschaften kraft- und saftlos. Kennzeichnend sind ein kontinuierlich sinkendes Wirtschaftswachstum, schwache Investitionen und geringe Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Dies äußert sich in immer schwächer werdenden Konjunkturzyklen, in denen sich kaum mehr die für den Kapitalismus so typische krisenhafte Bereinigung des Kapitalstocks zeigt. Die von Joseph Schumpeter analysierte „schöpferische Zerstörung“, die dem Kapitalismus durch seine Krisenhaftigkeit gleichsam wieder zu neuer Dynamik verhilft, spielt seit Anfang er 80er-Jahre keine relevante Rolle mehr. Es sind also offensichtlich nicht die „in der Natur“ des Kapitalismus liegenden mehr oder weniger heftigen Wirtschaftskrisen, die gegenwärtig eine objektive Barriere für wirtschaftliches Wachstum und die Vermehrung gesellschaftlichen Reichtums darstellen.

In seiner Berliner Rede deutete Bundespräsident Horst Köhler Ende März einmal mehr an, woran der schlappe Kapitalismus tatsächlich krankt. Er verabschiedete sich – wie schon viele vor ihm – von der politischen Verantwortung, wirtschaftliches Wachstum zu fördern: „Wir können uns nicht mehr hauptsächlich auf wirtschaftliches Wachstum verlassen“, betonte er. Der Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, hatte bereits 2005 sehr deutlich darauf hingewiesen, dass es subjektive Faktoren sind, die Wachstum und wirtschaftlichen Fortschritt vereiteln: „Viele Unternehmer fliehen aus der Verantwortung, indem sie Expansionspläne begraben oder ihre Unternehmen auflösen und sich mit der Verwaltung ihres verbliebenen Vermögens beschäftigen. Viele gehen in Konkurs. Der deutsche Kapitalmarkt schwimmt in Geld, das keiner haben will. Durch die Kanäle des internationalen Finanzsystems fließen die überschüssigen Kreditmittel an ausländische Investoren, die sonstwo in der Welt neue Projekte finanzieren.“ [8]

Obwohl die Marktwirtschaft objektiv keine Barriere für Wirtschaftswachstum und sozialen Fortschritt bietet, waren die Führungseliten in den vergangenen Jahrzehnten nicht in der Lage, die sich bietenden Chancen zu nutzen. Durch die beschriebene Perspektiv- und Orientierungslosigkeit fällt es ihnen offenbar auch in der gegenwärtigen Krise nicht ein, auf die Stärken der marktwirtschaftlichen Ordnung zu vertrauen und so einen Weg aus der Krise zu finden.

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