01.03.2010

Bildung als Multimilliardengeschäft

Rezension von Sabine Beppler-Spahl

Eine Buchbesprechung .

Seit Einsetzen der Wirtschaftskrise ist es etwas ruhiger geworden um das Mantra „Bildung, Bildung, Bildung“ der Bundesregierung. Noch im letzten Sommer hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Bildungspolitik zur Chefsache erklärt. Dies natürlich vor allem, damit der Wirtschaftstandort Deutschland gestärkt werde; denn Bildung wird als Schlüssel für Wachstum und Prosperität gesehen – und daran hat sich, trotz Wirtschaftskrise, bis heute nichts geändert. Es stellt eine Lücke in der deutschen Debatte über Bildung dar, dass niemand die postulierte einfache Formel „Mehr Investitionen in Bildung = höhere Wachstumsraten“ infrage stellt. Dabei hat Alison Wolf, Professorin für öffentliche Verwaltung am Kings College London, diese Lücke bereits vor Jahren geschlossen. Auch wenn ihr Buch Does Education Matter? für ein englisches Publikum geschrieben wurde, enthält es zahlreiche Beispiele aus Deutschland, die belegen, dass die Autorin eine internationale Spezialistin auf dem Gebiet der Bildungspolitik ist.

Ist Bildung also wichtig? Den Wert von Bildung schätzen kann nur, wer sich, wie Wolf, einen unabhängigen Blick bewahrt. Vom allgemeinen Bildungsstand hängt ab, in welcher Art von Gesellschaft wir leben: Setzt sie sich aus zivilisierten, effektiven Bürgern zusammen? Hilft sie uns, unsere Fähigkeiten weiterzuentwickeln und unsere Intelligenz zu schärfen? Ist Bildung vereinend oder spaltend? Trotz ihres klaren Bekenntnisses zur Bildung räumt Wolf mit dem verbreiteten Glauben auf, es gäbe einen direkten, unmittelbaren Zusammenhang zwischen Bildungsinvestitionen und Wirtschaftswachstum. In bester akademischer Tradition fragt sie, wo eigentlich die harten Beweise dafür seien, dass ein Mehr an Bildung (vor allem an „höherer Bildung“) wirklich die Ergebnisse liefert, die wir uns versprechen. Natürlich wirkt sich der Bildungsstand einer Gesellschaft auch auf deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aus. Undenkbar, so Wolf, ist eine moderne Volkswirtschaft, in der die meisten Menschen nicht einmal lesen, schreiben oder rechnen können. Der Umkehrschluss, dass durch mehr Investitionen in den höheren Bildungssektor die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unmittelbar weiter erhöht werden könne, ist deswegen noch lange nicht zulässig: „Diese einfache, eindimensionale Formel, die unsere Politiker so betört, … existiert so nicht“, schreibt Wolf (S.14ff).

Ein vielfach wiederholter, aber wenig begründeter Glaubensgrundsatz unserer Zeit besagt, dass die moderne Wirtschaft „wissensgesteuert“ sei und daher ganz neue Anforderungen an alle Erwerbstätigen stelle (Weiterqualifizierung, lebenslanges Lernen usw.). Länder, die nicht in ihr „Humankapital“ investierten (ein Modebegriff für die arbeitende Bevölkerung), drohten im internationalen Wettbewerb zurückzufallen. Wolf ist eine der wenigen, die es wagt, diesem Dogma zu widersprechen: „Politiker mögen denken, dass die Tätigkeit eines jeden bald von ‚Kreativität‘, ‚Ideenreichtum‘ oder ‚Wissenskapital‘ bestimmt wird und sich gegenüber früheren Tätigkeiten grundlegend abhebt: Das ist aber nicht richtig“ (S.13). Eher stimme es, dass heute ein Universitätsstudium für immer mehr Tätigkeiten vorausgesetzt wird, für die dies früher nicht nötig war. Anders ausgedrückt: Universitäten sehen sich gezwungen, ihre Studenten auf Tätigkeiten vorzubereiten, die im Grunde auf Werten wie Routine und Anpassungsfähigkeit beruhen – mit allen Konsequenzen, die dies für den akademischen Anspruch hat.

Dass der Glaube an Bildung als Schlüssel für wirtschaftlichen Erfolg so tief verankert ist, liegt daran, dass er aus Sicht des Einzelnen zunächst durchaus Sinn ergibt: Schließlich verdienen in unserer Gesellschaft, von Ausnahmen abgesehen, diejenigen, die eine längere Schul- und Universitätsausbildung hinter sich haben, besser. Doch was aus Sicht des Individuums stimmen mag, trifft nicht zwingend auf eine Gesellschaft als Ganzes zu. Vieles, so Wolf, spricht dagegen, dass ein höheres Einkommen allein durch eine höhere Qualifikation zu erklären ist. Die Einkommenshöhe für bestimmte Tätigkeiten ergibt sich letztlich aus verschiedenen wirtschaftlichen Faktoren (dazu gehört auch die Produktivität einer Gesellschaft als Ganzes). Busfahrer in Deutschland verdienen in der Regel ein Vielfaches von dem, was Busfahrer in Indien verdienen – und doch wäre es anmaßend zu behaupten, der indische Busfahrer sei schlechter qualifiziert. Vor allem ist es ein Trugschluss zu glauben, wir würden alle so viel verdienen wie die Topmanager, wenn wir nur die gleiche Bildung hätten. Je stärker die Weiterbildung und die höhere Bildung ausgeweitet werden, desto weniger Grund haben wir, dies anzunehmen, so Wolf.

Debatten über bildungspolitische Maßnahmen sind verwirrend, da allzu oft Ursache und Wirkung verwechselt werden. So dient die Tatsache, dass die Nachfrage nach Hochschulabsolventen bei Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten stetig gestiegen ist, als Beweis für höhere Anforderungen. Tatsächlich hat es jedoch, wie Wolf zeigt, in keinem der entwickelten Länder in den vergangen Jahrzehnten so dramatische Änderungen bei Arbeitsstrukturen oder Inhalten gegeben, dass diese den massiven Anstieg der Studentenzahlen erklären könnten. Vielmehr ist eine Art Eigendynamik entstanden, die Wolf als die „Tyrannei der Zahlen“ bezeichnet (S.175). Ab einer bestimmten Hochschulquote sind potenzielle Studenten gezwungen, ein Studium aufzunehmen und in den Wettbewerb um einen Universitätsabschluss einzutreten – auch wenn sie eigentlich kein akademisches Interesse haben. Der Grund: Universitätsabschlüsse dienen dem Selektionsmechanismus bei Firmen. Es geht häufig nicht um die Inhalte eines Studiums, die hier zwingend verlangt werden, sondern darum, dass bei einer Flut von Bewerbern zunächst eine Vorauswahl nach formellen Kriterien getroffen wird. Die Folge: Immer mehr Arbeitsstellen werden für Universitätsabgänger reserviert, obwohl ihr Inhalt dies nicht rechtfertigt.

Die Inflation der Abschlüsse führt nicht – auch dies unterlegt Wolf mit harten Zahlen – zu mehr Gerechtigkeit. Schulabgänger, die gute Schulleistungen erbracht haben, sich aber kein Studium leisten können, werden zusätzlich benachteiligt. Der Zugang zu Stellen oder Ausbildungsplätzen, der ihnen früher noch zustand, wird ihnen heute verwehrt. Hinzu kommt, dass die Masse der Studierenden nach wie vor aus der Mittelschicht oder aus reichen Familien stammt. Finanziert wird die „Öffnung der Universitäten“ von der Allgemeinheit – und damit zu einem Großteil durch die niedrigeren Einkommensschichten. Auch dies ein Grund, über die Richtung der Bildungspolitik neu zu reflektieren.

Regierungen tragen eine große Verantwortung für Bildung, doch sie täten nach Meinung von Wolf gut daran, sich wieder mehr auf die originären Bildungswerte zu konzentrieren. So sei es die Aufgabe des Staates, jedem Kind eine gute, solide Schulbildung anzubieten. Wolf reiht sich nicht ein in den Chor derer, die „Zugang“ zur höheren Bildung fordern – im irrigen Glauben, immer mehr formelle Bildung sei besser. Stattdessen plädiert sie dafür, die klassischen Bildungsziele wieder stärker zu berücksichtigen. Dies sind Fähigkeiten, die uns schon immer weitergebracht haben und deren Relevanz sich keinesfalls geschmälert hat: Texte lesen und verstehen oder fehlerfreies Schreiben und Rechnen. Statt immer mehr Geld in längere Bildungs- oder Ausbildungszeiten zu stecken, sollte die Qualität der Institutionen gesichert werden, die diese Aufgaben bereits übernehmen.

Bildung, so Wolf, ist ein Multimilliardengeschäft geworden, das viel zu sehr durch Wunschdenken getrieben wird. Nur wenn wir auch die unangenehmen Wahrheiten akzeptieren, können wir die Bildung fördern, die wir uns für unsere Kinder eigentlich wünschen.

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Alison Wolf: Does Education Matter?: Myths About Education and Economic Growth, Penguin Books, London 2002, 352 S.

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