01.03.2010
Europas Außenpolitik in Atemnot?
Rezension von Julian Namé
Eine Buchrezension.
In seiner hervorragenden Abhandlung Die Europäische Union als globaler Akteur. Eine Einführung gelingt es Stefan Fröhlich, das Netz von Außenbeziehungen der Gemeinschaft in seiner gesamten Bandbreite zu präsentieren – und dies trotz der Inkohärenz der Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Denn im Grunde genommen gibt es keine einheitliche europäische Außenpolitik. Aktuelle Beispiele dafür sind Europas chaotische Reaktion auf die Georgienkrise 2008, die mehrmaligen Debakel bezüglich der europäischen Produktion der A400M-Militärflugzeuge oder die offizielle Rückkehr Frankreichs in die Nato-Kommandostruktur, die wichtige Fragen bezüglich der Entwicklung einer einheitlichen europäischen Außenpolitik aufwirft. Die oft euphemistisch “capability-expectation gap” genannte Schwierigkeit Europas, innerhalb der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einen einheitlichen politischen Willen zu generieren, gilt seit Langem als entscheidendes Manko.
Defizite und Schwächen der GASP werden besonders deutlich, wenn man die kleinen und mittleren Staaten in der EU betrachtet. Diese verfügen laut Fröhlich mehrheitlich gar nicht über die entsprechenden Ressourcen für eine über das regionale Umfeld hinaus gerichtete globale Außenpolitik. Ihr Interesse an einer Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik zur Wahrung eigener Ambitionen und Mitspracherechte ist deswegen entsprechend groß. Oft sind es die Differenzen unter den drei „Großen“ (Frankreich, Großbritannien und Deutschland), die eine gemeinsame Stimme in der Außen- und Sicherheitspolitik erschweren. Die außenpolitischen Handlungsspielräume Frankreichs und Großbritanniens haben sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts de facto verringert, weshalb ihr Interesse an einer außenpolitischen Zusammenarbeit gestiegen ist. Einzig die Bundesrepublik weicht von diesem Grundmuster ab, da sich ihr Handlungsspielraum nach der Wiedervereinigung vergrößert hat.
Erschwerend hinzu kommt die institutionelle Konfiguration der GASP, die weder eindeutig regierungsübergreifend noch supranational ausgerichtet ist. Verantwortlichkeiten in den Außenbeziehungen sind nach wie vor zwischen den verschiedenen Ebenen aufgeteilt: zwischen den Mitgliedstaaten mit ihrer nationalen Außenpolitik und der Union; zwischen Rat und Kommission; zwischen dem ersten Pfeiler (Außenhandels- und Entwicklungshilfepolitik mit 128 EU Delegationen in 123 Ländern sowie in internationalen Organisationen wie der WTO oder OECD), dem zweiten Pfeiler (diplomatische und militärische Aktivitäten) und dem dritten Pfeiler (innere Sicherheit und Justiz mit grenzüberschreitendem Charakter). Je nach Politikfeld spielen die Kommission, die Ratspräsidentschaft, die „Hohen Repräsentanten“ der GASP oder auch die Europäische Zentralbank (EZB) eine entscheidende Rolle. Aufgrund der Vielzahl der Akteure und der überlappenden Zuständigkeiten im Mehr-Ebenen-System der GASP ist die Zurechenbarkeit daher außerordentlich schwierig.
Fröhlich betont, wie wichtig die herausragende Wirtschaftskraft der EU für deren weitere Entwicklung als Zivilmacht mit entsprechender „soft power“ wäre. Erstens sei der Binnenmarkt ein entscheidender Magnet für die Nachbarschaft der Union und darüber hinaus ein wirtschaftlicher Machtfaktor im globalen Rahmen. Zweitens könne die Perspektive einer Teilnahme am Binnenmarkt den von der EU gesetzten Anreizen für wirtschaftliche Strukturreformen (Deregulierung, Privatisierung) größeres Gewicht verleihen. Drittens sei die EU im Bereich der Normsetzung bei Harmonisierung ihrer eigenen Binnenmarktregeln in der Lage, einen wesentlich größeren Einfluss in entsprechenden internationalen Regulierungsgremien auszuüben und die weltweite Verbreitung von EU-Standards im Sinne eines wirksamen Multilateralismus zu fördern. Viertens sei eine zuverlässige Energieversorgung für die EU (z.B. über die Ukraine) von großer wirtschaftlicher, außenpolitischer und strategischer Bedeutung. Fünftens könne die in der Lissabon-Strategie angeregte Förderung von Informations- und Kommunikationstechnologie ein Schlüssel für ein größeres Gewicht der EU sein, besonders in der Frage der Nutzung des zivilen europäischen Satellitennavigationssystems Galileo für militärische Zwecke sowie im Ausbau der Anwendungsbereiche des Systems für engere Kooperationen mit anderen außenpolitischen Akteuren. Sechstens biete das mit der Lissabon-Strategie gleichsam verbundene Ziel der Vollendung des Binnenmarktes ganz konkrete Perspektiven für die Außen- und Sicherheitspolitik der Union im Bereich der Rüstungspolitik. Die Möglichkeit der Öffnung nationaler Rüstungsmärkte könne jedenfalls die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrien erhöhen und den Ausbau der militärischen Kapazitäten der Union im Rahmen der ESVP forcieren.
Fröhlichs Ausführungen werden besonders interessant, da er ein scheinbares Paradox in der Entwicklung der GASP und ESVP aufdeckt: „Nach jedem Rückschlag, nach jeder Sinnkrise der Gemeinschaft in der GASP folgen neue Impulse durch ihre Mitglieder in Richtung einer weiteren Vergemeinschaftung, in jüngster Zeit vor allem in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auf die Konflikte in Bosnien und Kosovo folgten erstmalig das offene Eingeständnis der Unzulänglichkeit und Schwäche der eigenen Militärkapazitäten und der Anstoß für das Projekt der ESVP durch das britisch-französische Signal von Saint Malo. Der Irakkrieg paralysierte vorübergehend die GASP durch den in zahlreichen Metropolen der Mitgliedstaaten praktizierten Unilateralismus. Gleichzeitig gelang es der EU aber, das Instrumentarium für internationales Krisenmanagement zu verbessern und zur Anwendung zu bringen – so in den mit zivilen wie militärischen Mitteln geführten Einsätzen in Bosnien-Herzegowina (EUPM), Mazedonien (‚Concordia‘; ‚Proxima‘) oder im Kongo (‚Artemis‘) in den Jahren 2003 und 2004. Nur neun Monate nach Ende des Krieges im Irak verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten in Brüssel die erste Europäische Sicherheitsstrategie (ESS).“
Dies ist zwar sehr gut beobachtet, erklärt aber leider nicht die Dynamik dieses scheinbaren Paradoxons. Woher kommen diese Impulse, wenn gerade im Bereich der GASP und ESVP ein gemeinsamer politischer Wille fehlt? Fröhlichs Versuch, diese neue Dynamik innerhalb des traditionellen Schemas „Neo-Realisten vs. Institutionalisten“ zu präsentieren, scheitert, weil beide Schulen theoretisch überholt sind. Aus der Sicht der Neo-Realisten bleibt der Nationalstaat der entscheidende Akteur in der Außenpolitik. Internationale Beziehungen sind nur Machtverhältnisse zwischen Staaten, die ihre nationale Souveränität gegenüber anderen verteidigen. Aber die jüngste Entwicklung der GASP und ESVP ist von einer freiwilligen Kompetenzabtretung gekennzeichnet. Hier wird Macht ausgeübt ohne klare Zurechenbarkeit. Ein trauriges Beispiel hierfür ist der Verlauf der europäischen Präsenz im Kosovo, das trotz seiner Unabhängigkeit de facto ein EU-Protektorat ist. Andererseits sehen die Institutionalisten diese Impulse als Ergebnis und Konsequenz des europäischen Integrationsprozesses selbst. Aus dieser Sichtweise werden die verschiedenen Institutionen der GASP und ESVP zwar durch politische Vereinbarungen der Mitgliedstaaten geschaffen, diese werden aber, wie auch Fröhlich schreibt, in ihrem Handeln durch Verhaltensnormen und Verfahrensvorschriften solchen Restriktionen unterworfen, dass ihre Handlungsoptionen und Interessen quasi von allein vorgegeben sind. Hier werden politische Entscheidungen als rein technische Verfahren gesehen. Notwendige Debatten bleiben aus, und die Entstehung einer breiten und engagierten europäischen Öffentlichkeit wird im Keim erstickt.
Stefan Fröhlich: Die Europäische Union als globaler Akteur: Eine Einführung, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, 305 S., EUR 24,90