20.09.2011

Armes Europa, arme Medien!

Kommentar von Matthias Heitmann

Novo-Artikel von damals, heute wieder aktuell, ausgewählt von Matthias Heitmann.

Bio-Grenzen dichtmachen! Europa den Europäern!

Es geht ein Gespenst um in Europa, das Gespenst der biologischen Überfremdung des Kontinents durch den ungezügelten Zuzug fremder Tiere und Pflanzen. In der April-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science beschrieben Wolfgang Nentwig von der Universität Bern und Kollegen in ihrem Artikel „Will Threat of Biological Invasions Unite the European Union?“ die Hoffnung, dass der uneinige Kontinent durch gezielte gemeinsame Aktionen gegen gebietsfremde Arten, die in den letzten Jahrhunderten eingewandert seien, vielleicht zu sich selbst und damit zur lang ersehnten europäischen Einheit finden könnte.

Nach Angaben des EU-Forschungsprogramms Daisie (Delivering Alien Invasive Species In Europe) seien rund 11.000 Tier- und Pflanzenarten nach Europa eingewandert und richteten erhebliche Schäden an, die auf mindestens 10 Milliarden Euro jährlich zu beziffern seien, wahrscheinlich aber um ein Vielfaches höher lägen. Die Forscher fordern die Einrichtung einer gesamteuropäischen Kontrollinstanz, die die unerwünschten Einwanderer, die meistens als blinde Passagiere des globalen Welthandels eingeschleppt werden, erfassen und ein unter den Mitgliedsländern abgestimmtes Vorgehen steuern solle.

Die Forderung der Forscher ist sinnbildlich für den geistigen Zustand Europas und die Verzahnung irrationaler Ängste mit ökologistisch-naturalistischem und ahistorischem Gedankengut: Wenn der Grad an Bedrohungsempfinden einer Bevölkerung ihren inneren Zusammenhalt stärken würde, dürften die Europäer sich eigentlich nicht über mangelnde Geschlossenheit beklagen können. Tatsächlich geht aber mit der irrationalen Angstkultur eine zunehmend zusammenhalt- und orientierungslose Gesellschaft einher.

Dass den „Schäden“, die durch die „Bio-Invasion“ entstehen, um ein Vielfaches größere Vorteile gegenüberstehen, kann in diesem Denken keinen Raum einnehmen. Man kann nur froh sein, dass diese europäische Kontrollinstanz zur Verhütung der biologischen Überfremdung in der Vergangenheit nicht existierte, denn ihr wären so gut wie all unsere Grundnahrungsmittel zum Opfer gefallen: Kartoffeln, Mais, Reis, Weizen, Roggen, Tomaten, Gurken, Kohl- sowie zahlreiche Zwiebel- und Laucharten sind allesamt exterritoriale Fremdlinge, die in der ur-europäischen Flora nicht vorkamen.

Was aber noch viel zentraler erscheint: Ein vor biologischer Überfremdung geschützter Kontinent könnte kein Personal stellen, das die Artenvielfalt kontrolliert, schließlich stammt das Europa wie kein anderes Lebewesen prägende Geschöpf, wissenschaftlich als „homo sapiens“ bezeichnet, aus Afrika. (mh)

>„Die Artenvielfalt in Deutschland wird zunehmen“, Interview mit Prof. Josef H. Reichholf in: Novo77 (7–8 2005)
>Matthias Heitmann: „Politik im Namen des Hasen“ in: Novo76 (5–6 2005)

EUnuchen-Sprech: Frauen und Männer raus!

Wenn Sie künftig eine Dame oder einen Herrn in Polizeiuniform eine „Polizistin“ oder einen „Polizist“ nennen, könnte dies eine Klage wegen Sexismus nach sich ziehen. Die EU-Parlamentsverwaltung hat eine 16-seitige Broschüre mit dem Titel „Geschlechtergerechter Sprachgebrauch beim Europäischen Parlament“ veröffentlicht. So soll „eine einseitige Wortwahl … vermieden werden, die als diskriminierend oder herabsetzend ausgelegt werden kann, weil sie die Überlegenheit eines Geschlechts gegenüber dem anderen impliziert. Das Geschlecht einer Person ist in den meisten Zusammenhängen nicht relevant oder sollte es nicht sein.“ Die Broschüre empfiehlt weiterhin, die Wörter „er“ und „sie“ in Texten generell zu vermeiden. Aus „Fahrern“ wird „fahrendes Personal“, aus „Polizisten“ werden „Polizeikräfte“ und aus „Lehrern“ „Lehrkräfte“. Begriffe wie „Fachmann“, „Seemann“ oder „Staatsmann“ sollen ebenfalls aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Das Satiremagazin Titanic bewies diesbezüglich große Weitsicht, als es vor einiger Zeit die amtierende deutsche Bundeskanzlerin als „das Merkel“ bezeichnete. Aber wir können noch weiter gehen: „Die Bundesrepublik“ als Staatsform gehörte dann ebenso abgeschafft wie sexistische Landesentitäten wie „die Schweiz“ oder „la France“ – ja sogar „die Europäische Union“ gehört an „das“ Pranger.

Vor Jahren schrieben wir in Novo zur „Feminisierung der Gesellschaft“: „Anstatt Männer wie Frauen aufzufordern, aus ihrer Lähmung herauszutreten, alte Grenzen, Vorurteile und Stereotypen zu überwinden und zu selbstbewussteren Geschöpfen zu werden, fordert die feminisierte Gesellschaft von beiden Geschlechtern, zukünftig ‚gleichberechtigt‘ die ‚Männlichkeit‘ in uns allen zu Grabe zu tragen.“ Die Brüsseler EUnuchen gehen heute noch über diese Feminisierung hinaus: Sie sehen bereits die Existenz von zwei Geschlechtern als Ursache sexueller Diskriminierung. Diagnose: eindeutig zum Abschuss freigegeben. (mh)

> Eva Balzer / Matthias Heitmann: „Von der Frauenbewegung zur ‚feminisierten Gesellschaft‘“ in: Novo45 (3–4 2000).

Blogs – die „Klowände des Internets?“

Anlässlich der Internet-Konferenz re:publica, die Anfang April in Berlin stattfand, wurde wieder viel über die Zukunft des Bloggens und des Journalismus geschrieben, diskutiert und gestritten. Interessante Einblicke gewährte das Gespräch von Michael Miersch mit Alan Poesner (Welt am Sonntag) sowie prominenten Bloggern wie Henryk M. Broder (achgut.de) und dem Mitbegründer des Perlentauchers, Thierry Chervel („Sind Blogs die ‚Klowände des Internets‘?“ in: Welt Online, 1.4.09, welt.de). In ihren Statements skizzierten sie den farcehaften Konflikt zwischen Journalisten und Bloggern, der einzig durch den Qualitätsmangel beider Genres am Leben erhalten wird. Deutlich wurde, dass Bloggen heute ein Allerweltshobby und mitnichten ein Privileg einer Informationselite darstellt: „Das Internet kam mir vor wie ein Pionierland“ (Chervel). „Das Internet ist voller Loser, Bruchpiloten und Halbanalphabeten, die sonst keine Bühne finden würden. Andererseits sind 90 Prozent der Zeitschriften, die am Kiosk ausliegen, auch Schrott“ (Broder). „Blogs sind ein selbstreferentielles Nischenphänomen, allerdings ist das auch der Print-Journalismus“ (Posener).

Posener beschrieb die hämischen Kommentare über Blogger als nicht gerechtfertigte Angstreaktionen. Schließlich könne sich nur ein großes Unternehmen Journalisten leisten, die sich zu Experten hocharbeiteten, ihnen könnten Blogger nicht das Wasser reichen. Womit er recht hätte – wenn sich Medienunternehmen tatsächlich echten Journalismus leisten würden. Zu Recht verwies Chervel auf den miserablen Zeitungsjournalismus während des Georgienkrieges und merkte an, dass „die besten Informationen in Wikipedia zu finden“ gewesen seien.

Ob dies allein darauf zurückzuführen ist, dass es, wie Chervel anmerkte, „kein Geschäftsmodell für den Journalismus“ gibt, darf allerdings bezweifelt werden. Denn das Phänomen, das viele Journalisten selbst zunehmend wie die viel gescholtenen Blogger denken und arbeiten, ist nicht erst seit den Sparmaßnahmen der Medienkonzerne zu beobachten. Tatsächlich fungierte der Verfall journalistischer Standards selbst als „Geburtshelfer“ der Blogosphäre als Hort des „demokratischen Bürgerjournalismus“. Gerade im Journalismus hat die zunehmende Perspektivlosigkeit und Lähmung der Gesellschaft deutliche Spuren hinterlassen, sowohl, was die eigene inhaltliche Positionierung, als auch, was das eigene Rollenverständnis anbelangt. Wenn Journalisten die Ansprüche an die eigene Arbeit nicht aus eigenem Antrieb heraus verteidigen, wird die Beschimpfung von Blogs als „Klowände des Internets“ hohl bleiben, und Zeitungspapier wird künftig in erster Linie an demselben stillen Örtchen Verwendung finden. (mh)

>Matthias Heitmann: „Von Heulschrecken und Leidmedien“ in: Novo99 (3–4 2009).
>Tillmann Prüfer: Klicken, klicken klicken und nicht an die Leser denken“ in: Novo97 (11–12 2008).
>George Brock: „Der Aufstieg des „Bürgerjournalismus“ in: Novo89 (7–8 2007).

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