17.10.2011

Wie die Burka zu einem Symbol der Freiheit wurde

Analyse von Josie Appleton

Zur modernen Karriere eines überkommenen Kleidungsstückes.

In einer Rede, in der er das Verbot islamischer Ganzkörperverhüllungen verteidigte, lamentierte Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy darüber, dass die Burka muslimische Frauen vom gesellschaftlichen Leben „isoliere“ und sie ihrer Persönlichkeit „beraube“. Seitdem aber das Verbot am 11. April 2011 in Kraft trat, sind Dutzende dieser angeblich „unterdrückten“ Frauen auf die Straße gegangen, um energischen Protest anzumelden. Am 11. April demonstrierten mehrere dieser Frauen vor der Kathedrale Notre Dame und vor anderen Pariser Monumenten der französischen Republik. Einige Wochen später posierte eine junge verhüllte Frau vor der französischen Nationalversammlung, um mit ihrem Protest eine Geldstrafe zu provozieren.

Nach Aussagen des französischen Innenministers sind „27 oder 28“ Frauen bislang für das Tragen der Ganzkörperverhüllung bestraft worden. Nicht alle davon sind saudi-arabische Touristinnen oder unterwürfige muslimische Ehefrauen – eine Frau, die z.B. in Nizza mit einer Geldstrafe belegt wurde, war eine Konvertitin und zugleich Alleinerziehende. Diese Strafen riefen spontane Handgemenge und Unterstützungsbekundungen für die betroffenen Frauen hervor. Eine Lehrerin einer muslimischen Privatschule in Toulouse wurde festgehalten und mit einer Geldstrafe von über 150 Euro bestraft, weil sie einen Nikab trug. Als ein Techniker anfing, diese Szene zu filmen, wurde er sofort verhaftet – was eine spontane Demo auf den Plan rief, die vor der Polizeistation seine Freilassung forderte.

Nun ist auch eine neue Front an Schulen eröffnet worden, wo Kopftuch tragende Frauen gegen ihren Ausschluss von Klassenfahrten, auf die sie ihre Kinder begleiten wollten, protestieren. Diese Mütter tragen ein einfaches Kopftuch statt eines Nikabs; doch immer mehr Schulen meinen, dass sie aufgrund des Kopftuches „ungeeignet“ seien, Schüler zu begleiten und als „Repräsentantinnen“ der Schule zu wirken. Am 2. Mai 2011, so die Zeitung Le Monde, versammelte sich eine Gruppe von Müttern außerhalb einer Schule in Montreuil, und zwar „nicht, um eine religiöse Sache zu verteidigen“. Es gehe, so die resoluten Damen, um einen Kampf „gegen Ungerechtigkeit“.

Es fällt auf, dass diese Proteste unter dem Banner republikanischer Werte, etwa der „Freiheit“, aber auch der „Gleichheit“, firmieren. Eine prominente muslimische Organisation, die gegen die Burka protestiert, nennt sich ausdrücklich „Hände weg von meiner Verfassung“. Die Mütter, die ihr Recht verteidigen, auf Klassenfahrten ihr Kopftuch zu tragen, nennen sich „Alle Mütter sind gleich“ (Mamans Toutes Egales). Bei der Konfrontation zwischen Polizisten und verhüllten Frauen handelt es sich, so scheint es, um einen Kampf um öffentliche Freiheiten.

Aus Sicht einer Engländerin wie ich es bin, sind das in der Tat komische Szenen. Es gibt in England keine Gesetzgebung, die den Schleier verbietet, und während Lehrerinnen unbehelligt das Kopftuch tragen können, tragen Mütter (und viele Angestellte) den Nikab, ohne gleich schief angeschaut zu werden. Es ist diese seltsame Strenge, die im rigiden Verbot des Schleiers liegt (in einem Land mit der größten muslimischen Bevölkerung in Europa), die eine islamische Kopfbedeckung zu einem freiheitlichen Thema ersten Ranges erhoben hat.

Der französische Kampf gegen Kopftücher begann 2004 mit einem Kopftuchverbot an Schulen. Wie der französische Soziologe Olivier Roy hervorhebt, konzentrierte man sich ganz besonders auf das islamische Kopftuch, das angeblich Probleme verursacht, die ein indischer Turban oder eine jüdische Kippa nicht verursachen. Das hatte weniger mit dem Kopftuch an sich zu tun. Vielmehr hat es etwas damit zu tun, wie das Kopftuch zu einem Emblem für den französischen Staat avancierte. Es wurde zu einer Art „antirepublikanischem Symbol“. Politiker aller Parteien reihten sich ein, um das Kopftuchverbot zu unterstützen. Salbungsvoll meinten sie, das neue Gesetz etabliere die „Beständigkeit unserer Werte“. Das Kopftuchverbot sei „konstitutiv für unsere kollektive Geschichte“, ein „prinzipieller Faktor der Moral und der spirituellen Einheit unserer Nation“, ein „Gründungsprinzip unserer Republik“ und so weiter. Das Kopftuch zu unterdrücken wurde zu einem höchst republikanischen Akt. Auf diese Weise konnten Politiker großartige Bekenntnisse zur Unterstützung dieser Prinzipien abgeben.

Dieses neue Gesetz war keine Reaktion auf unangenehme Vorfälle. Wie Christian Joppke in seinem Buch Veil: Mirror of Identity, darstellt, lag die „Zahl tatsächlicher Konflikte, die sich um den Schleier drehten im Sommer 2003 bei einem 10-Jahres-Tief“. Es wurden lediglich „1256 Studenten mit Schleier in ganz Frankreich gezählt“. Der Drang, ein Verbot zu erlassen, kam aus der politischen Elite selbst, denn sie brauchte einen „Spiegel“, gegen den sie sich selbst definieren konnte. Der links angehauchte Intellektuelle Regis Debray war in der Kommission, die ein Verbot empfahl, und es sagt viel aus, dass sein 80seitiges Traktat darüber, warum der Schleier verboten werden sollte, kaum den eigentlichen Gegenstand des Verbotes erwähnte. Er beklagte hauptsächlich das Aufkommen des amerikanischen Fernsehens und des Konsums sowie den Niedergang der französischen „Marianne“, der mit der amerikanischen TV-Unterhaltung einhergehe. Der Republikanismus, so meinte er, habe „seine Seele verloren“, denn er werde zu einer bloßen „Meinung statt einer richtigen Überzeugung“. Der Republikanismus, so das traurige Resümee, schweige in Abwesenheit.

Das Bedürfnis nach einem anti-republikanischen Symbol entspringt der besonderen Natur des französischen Staates, der im Unterschied zu Großbritannien eine explizite Ideologie hat. Britische Institutionen entwickelten sich auf eine eher informelle Art. Auf diese Weise konnten alle möglichen anachronistischen Symbole und Systeme beibehielten werden (die zwar seltsam aussehen, aber trotzdem irgendwie funktionieren). Französische Institutionen wurden dagegen sehr explizit begründet und gerechtfertigt. Sie wurden in Reden gelobt und in Richtlinien festgehalten. Die „Republik“ war das, was die Gesellschaft zusammenschweißen sollte und ohne die „Republik“, so hieß es, drohe die Spaltung des Volkes.

Für zwei Jahrhunderte nach 1789 war die Katholische Kirche der große Feind der Republik. Genau das prägte die Zweiteilung, die im Herzen des politischen Lebens vorherrschte. Nun, so meint der Soziologe Roy, hat man den alten Konflikt zwischen dem Republikanismus und der Katholischen Kirche unter neuen Vorzeichen wiederbelebt. Der neue Gegner ist jetzt der Islam – besonders in Form des Kopftuches. Indem sich der Staat gegen den islamischen Schleier stellt, versucht er sich mit seinen Werte zu behaupten und sein Revier abzustecken. Obwohl Politiker das Verbot mit ihrem Gerede über Frauenrechte zu begründen versuchen, entspringt es doch der Tatsache, dass man den Schleier als eine Art Aggression empfindet. Der Schleier wird als Barriere betrachtet, die gegen die öffentliche Autorität des Staates errichtet wird – und als eine Herausforderung der säkularen Werte Frankreichs. Debray betrachtet das Kopftuchtragen als „militanten Akt“. Der frühere französische Präsident Jaques Chirac urteilte, dass der Schleier „irgend etwas Aggressives“ an sich habe. Der säkulare Staat könne solche „offensichtlichen Zeichen religiösen Konvertitentums“ nicht tolerieren.

Es scheint, als erfahre ein ärmlicher Republikanismus den Schleier als „offensichtliche“ Bedrohung seiner eigenen Existenz. Sich nicht zu einem Verbot durchzuringen wäre, so Debray, ein „Signal der Schwäche oder des Rückzugs“. Ein Verbot hingegen sei ein erstklassiger „Beweis der Stärke“. Wie Roy erkennt, hat das Verbot islamischer Verschleierung „mehr mit der Wiedereroberung verlorenen Terrains als mit der Verteidigung der staatlichen Neutralität zu tun“.

Seit 2004 erweist sich die französische Kopftuch-Gesetzgebung als immer interventionistischer. Die Domäne individueller Freiheiten wird weiter aus dem öffentlichen Raum zurückgedrängt. Eine Reihe von Gerichtsurteilen zu Kopftuch-Fällen in den 1990ern hatte die religiösen Freiheiten von Schülern verteidigt: Die Gerichte unterschieden zwischen staatlichen Repräsentanten (Lehrern) und Bürgern (Schüler), und sie urteilten, dass Lehrer neutral sein und keine religiöse Kleidung tragen sollten, während Schüler sich auf die „Gewissensfreiheit“ berufen könnten. (Interessant ist, dass Nicolas Sarkozy einer der wenigen Politiker war, die eine ähnliche Meinung vertraten. Er sagte, nicht der Schüler habe laizistisch, d. h. nicht-religiös, zu sein, sondern die Schule habe sich neutral zu verhalten.)

Nun aber wird die Kontrolle über die Bekleidung der Schüler auch noch auf die verhüllten Eltern ausgeweitet – und das nur aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit in Schulbussen. Um dies zu begründen, hat man muslimische Eltern in den Rang eines offiziellen Repräsentanten versetzt; deshalb sind sie ebenfalls Kleidervorschriften unterworfen.

Das 2010 beschlossene Verbot der Ganzkörperverschleierung im öffentlichen Raum, das unter Sarkozy erlassen wurde, war ein schwerer Eingriff in die Sphäre der Ausdrucksfreiheit. Im Vergleich dazu beschränkte sich das 2004 erlassene Gesetz ausdrücklich auf die Schule; es betraf noch nicht öffentliche Plätze wie Straßen oder allgemeine Versammlungsorte. Während man Schulen als Orte der Übermittlung republikanischer Werte ansehen könne, argumentierte Debray, seien Straßen öffentliche Orte der freien Debatte und des Meinungsaustausches. Es sei keine Frage, auch noch Kleidervorschriften „in der Metro, in Internetcafés oder in Supermärkten“ zu erlassen. Doch genau das ist nun geschehen. Die Gesetzgebung hat mehr und mehr Gebiete „erobert“, und der Raum für Ausdrucksfreiheit in Hinblick auf Kleidung reduziert sich auf die Privatsphäre zuhause.

Es ist in der staatlichen Verbannung der Burka angelegt, dass man es in Frankreich mit einem potenziell universellen Freiheitsthema zu tun bekommt. In Großbritannien – wo es solche Gesetzgebung nicht gibt – wird das „Recht“, ein Kopftuch zu tragen, hauptsächlich von widerborstigen Schülerinnen verteidigt, die sich gegen Schuluniformen wehren (meistens will das Mädchen ein etwas von der Schulordnung abweichendes islamisches Kleid tragen). Doch in Frankreich wird die Angelegenheit des Kopftuches nun zu einer bedeutungsvoll aufgeladenen Frage religiöser Bürgerfreiheit, die alle möglichen Konfessionen betrifft. Die Gruppe „Alle Mütter sind gleich“ sagt, dass sie für „Frauen und Männer, verschleiert oder unverschleiert“ spreche, um „in Solidarität eine grundlegende Freiheit zu verteidigen“. Es gehe darum, ein „fundamentales Prinzip“ aufrecht zu erhalten – nämlich, dass „der demokratische Staat keineswegs seinen Bürgern eine bestimmte Bekleidung auferlegen sollte“. Auf ihrer letzten Demo gesellte sich denn auch eine Anzahl von Nicht-Muslimen hinzu. Dazu gehörten auch einige örtliche Jungfeministinnen; sie betrachteten die Angelegenheit als eine wichtige Gleichheitsfrage.

Am Verbot entzünden sich auch Formen spontanen Protestes, beispielsweise „Prinzessin Hijab“, eine Graffiti-Artistin, die Frauen auf Modeplakten in der Pariser Metro mit Burkas oder Tschadors „verschleiert”, oder die „Niqabitches“, zwei junge Frauen, die Nikabs und aufreizende Unterwäsche trugen, als sie vor den für die Verbote verantwortlichen Ministerien posierten und winkten. Die zwei jungen Frauen sagten, dass sie es nicht verstünden, warum irgendwer sein Gesicht so bedecken wolle „wie Darth Vader“, doch sie verteidigten die Idee der Republik als eines „Raumes des freien Ausdrucks, in dem jeder sich aussuchen kann, wie er sich kleidet und wie er seine Religion praktiziert“. Aus ihrer Sicht repräsentiert das Verbot „ein krankhaftes Bedürfnis der Republik, Kontrolle über die Körper seiner Bürger auszuüben“, was ja jenseits seiner „legitimen“ Macht liege.

Wie die politischen Auseinandersetzungen um die Burka enden werden, ist unsicher. Es ist aber schon jetzt klar, dass die Kopftuch- und Burkaverbote keineswegs die Krise des Republikanismus zu lösen imstande sind und dass sie vielmehr eine überaus perverse Wirkung haben: Sie adeln eine archaische und einengende Kleidung zu einem Freiheitssymbol des 21. Jahrhunderts.

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