01.11.2005

Pillen für unterschiedliche “Rassen”?

Kommentar von Kenan Malik

Über die Forderung, Medizin dürfe nicht "farbenblind" sein.

Ein Expertenausschuss der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA gab im Juni 2005 der Arznei BiDiL eine Zulassung für die Therapie bei Herzinsuffizienz. Diese Entscheidung hat für eine große Kontroverse gesorgt, denn BiDiL ist das erste rassenspezifische Medikament. Während es bei der allgemeinen Bevölkerung unwirksam ist, konnte es bei der schwarzen Bevölkerung die Todesrate um 43 Prozent senken. So wird es nun als Medikament für Schwarze vermarktet.

Die BiDiL-Debatte behandelt eine der brisantesten Fragen in der Medizin. Spielt Rasse eine Rolle für die Medizin, oder sollte sie farbenblind sein? Das renommierte New England Journal of Medicine betont, dass „Rasse biologisch bedeutungslos” sei und dass Ärzte über die „Gefahren einer rassenspezifischen Medizin“ aufgeklärt werden müssten. Andere widersprechen. Die Psychiaterin Sally Satel glaubt, dass in der Medizin „Stereotypen oft funktionieren“. In ihrer Klinik in Washington verschreibt sie Prozac an Weiße und Schwarze in unterschiedlicher Dosierung, weil diese beiden Gruppen, wie sie sagt, Antidepressiva unterschiedlich schnell verstoffwechseln.

Wer hat also Recht? Wie so häufig, wenn es um Rasse geht, lautet die Antwort: beide und keiner. Verschiedene Populationen zeigen selbstverständlich verschiedene Krankheitsmuster. Nordeuropäer erkranken beispielsweise häufiger an Mukoviszidose als andere Gruppen. Die Tay-Sachs-Krankheit betrifft speziell aschkenasische Juden. Betablocker scheinen bei Afroamerikanern weniger wirksam zu sein als bei Menschen europäischer Abstammung.

Dennoch ist Rasse nicht unbedingt ein hilfreiches Kriterium, wenn es um Krankheiten geht. So glauben viele beispielsweise, dass die Sichelzellanämie eine Krankheit der Schwarzen ist. Es stimmt nur leider nicht. Tatsächlich ist sie eine Krankheit von Populationen, die aus Regionen stammen, in denen es viel Malaria gab oder noch gibt. Das „Sichelzellgen“ findet sich in Äquatorial-Afrika, in Teilen Südeuropas, in der südlichen Türkei, Teilen des Mittleren Ostens und in einem großen Teil Zentralindiens. Die meisten Menschen wissen jedoch nur, dass Afroamerikaner besonders darunter leiden. Und, einer verbreiteten Vorstellung von Rasse folgend, glauben sie, dass, was auf schwarze Amerikaner zutreffe, auf alle Schwarzen und nur auf Schwarze zutreffen müsse. Lediglich in der Vorstellung der Menschen ist die Sichelzellanämie eine Krankheit der Schwarzen.

Genetische Untersuchungen haben gezeigt, dass der Mensch eine verhältnismäßig homogene Spezies ist. Man stelle sich vor, ein Atomkrieg löschte den Großteil der Menschheit aus, übrig bliebe nur eine kleine Gruppe, etwa die Massai in Ostafrika. In dieser kleinen Gruppe wären fast alle genetischen Unterschiede noch vorhanden, die es heute in der Menschheit gibt. Dies verdeutlicht eine wichtige Erkenntnis von Genetikern: Rund 85 Prozent aller Unterschiede im menschlichen Genom treten zwischen Individuen ein und derselben Bevölkerungsgruppe auf. Weitere zehn Prozent sorgen für Unterscheidungen verschiedener Populationen innerhalb einer Rasse. Und nur fünf Prozent der Gesamtvariation sorgt für die Unterschiede zwischen den Rassen. Aus diesem Grunde lehnen es die meisten Wissenschaftler ab, überhaupt von Rasse zu sprechen.

Da die meisten Unterschiede also auf der Ebene des Individuums zum Tragen kommen, müssten Ärzte im Idealfall das Genom jedes Einzelnen analysieren, um mögliche gesundheitliche Probleme und die Wirksamkeit verschiedener Medikamente abschätzen zu können. Dies ist im Moment nicht machbar. Deshalb nutzen Ärzte oft als Ersatz für das individuelle Risikoprofil Indikatoren wie Rasse.

Bis vor kurzem war es sehr viel wahrscheinlicher, dass Menschen jemanden aus der Nachbarschaft heiraten als jemanden, der von weit her kommt. Folglich verzeichnen wir mit wachsender geographischer Entfernung zweier Populationen auch eine steigende Zahl genetischer Unterschiede. Isländer unterscheiden sich genetisch von Griechen, aber sie unterscheiden sich noch mehr von Nigerianern. Die Unterschiede sind gering, aber sie können medizinische Relevanz haben. Die Herkunft der Vorfahren kann daher als Hinweis auf bestimmte genetische Prädispositionen dienen. Rasse ist ein Hinweis, aber kein besonders guter. Erstens gibt es keine klaren Trennlinien zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Jede Population geht in andere über, und keine Genvariante ist ausschließlich auf eine Gruppe begrenzt. Mukoviszidose tritt bei Nordeuropäern zwar häufiger auf, ist aber nicht auf sie beschränkt. Wenn man BiDiL als Medikament für Schwarze vermarktet, läuft man Gefahr, es bei Schwarzen einzusetzen, die gar nicht darauf ansprechen, und es Nicht-Schwarzen vorzuenthalten, bei denen es wirken würde.

Zweitens sind verschiedene Genvarianten unterschiedlich zwischen Bevölkerungsgruppen verteilt. Das Verteilungsmuster der „Mukovisziodose-Gene“ ist anders als das der „Sichelzellgene“. Welche Unterschiede zwischen Populationen eine Rolle spielen, hängt von der jeweiligen Krankheit ab. Und zuletzt sind viele Unterschiede, die mit Rasse oder Ethnizität zusammen zu hängen scheinen, eher die Folge von Umweltfaktoren als von genetischen Unterschieden, oder eine Kombination von beiden.

Eine differenzierte Betrachtung zeigt also, dass die Frage, ob die Medizin „farbenblind“ sein soll, von dem spezifischen Problem abhängt, mit dem wir es zu tun haben. Es ist eine pragmatische Frage, nicht eine wissenschaftliche oder politische.

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