27.08.2013

Pädophilie-Debatte: Stoppt die Empörungskultur!

Von Sabine Beppler-Spahl

Die Diskussion über Pädophilie hat hysterische und inquisitorische Züge angenommen. Wir sollten den Mut aufbringen, wieder rational über das Thema zu sprechen. Dabei können wir auch vom liberalen Klima der 1970er Jahren lernen. Ein Kommentar von Sabine Beppler-Spahl.

Die jüngste Pädophilie-Debatte gibt Anlass zum Nachdenken. Damit meine ich nicht die Äußerungen des grünen Spitzenpolitikers Daniel Cohn-Bendits, der in einem Buch aus dem Jahr 1975 von seinen vermeintlich erotischen Erfahrungen mit Kleinkindern in einem Frankfurter Kinderladen geschwafelt haben soll. Interessant ist vielmehr, was wir im Zuge dieses neuen „Skandals“ über die damalige Diskussion erfahren. Anders als heute war die Gesellschaft der 1970er Jahre offensichtlich noch nicht von einer Pädophilen-Panik ergriffen. Denn von einer Panik zu sprechen ist keine Übertreibung. Wie sonst ist es zu bezeichnen, wenn etwa die FDP-Politikerin Dagmar Döring in vorauseilender Vorsicht von ihrer Bundestagskandidatur zurücktreten muss, nur weil sie vor dreißig Jahren, als 19 Jährige (!), einen Aufsatz über einvernehmlichen Sex mit Kindern geschrieben hat, der ihre heutige Meinung nicht widerspiegelt? [1]

Was also war in den 1970er Jahren los? Die scheinbare Sorglosigkeit, mit der das Thema behandelt wurde, erscheint uns heute unbegreiflich. Wie ist es zu erklären, dass 1977 in Frankreich eine Petition ans Parlament gereicht wurde, in dem die Entkriminalisierung von drei Personen gefordert wurde, die wegen „einvernehmlichem“ Sex mit 13 und 14 Jährigen angeklagt worden waren? Die Unterzeichner der Petition waren keine verkappten Kinderschänder oder Berufsprovokateure, sondern die führenden Intellektuellen ihrer Zeit. Zu den Unterzeichnenden gehörten die Philosophen Jaques Derrida, Michel Foucault, André Glucksmann, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir sowie zahlreiche Ärzte und Kinderpsychologen. [2]

Der Umgang mit dem Thema Pädophilie mag in den 1970er Jahren zu unbesorgt gewesen sein, doch heute hat das Thema hysterische Züge angenommen.“

Wenn wir der Petition von 1977 etwas abgewinnen können, dann, dass die damaligen Unterzeichner keine Angst vor Tabus hatten und Debatten über Fragen der gesellschaftlichen Moral nicht scheuten. Sie beklagten eine Diskrepanz zwischen dem drohenden Strafmaß und der eigentlichen Handlung der drei Männer. Besonders die Tatsache, dass zwei der Beschuldigten bereits seit vielen Jahren in Untersuchungshaft ausharren mussten, bevor es zum Prozess kam, wurde von ihnen als Skandal empfunden.

Es war ihr gutes Recht, die herrschende Moral – und das darauf basierende Strafrecht - zu hinterfragen. Gegen ihre Forderung, einvernehmlicher Sex mit „unter 15- Jährigen“ solle straffrei sein, gibt es freilich einiges einzuwenden. Der wichtigste Einwand ist, dass Kinder nicht wie Erwachsene behandelt werden können und wir deswegen nicht von „Einvernehmen“ sprechen können (Das Lolita-Missverständnis).

Dennoch bringt und brachte die offene Auseinandersetzung mit diesem Thema wichtige Fragen zum Ausdruck. Interessant ist, dass viele von ihnen bis heute nicht geklärt sind, obwohl Einigkeit in der Ablehnung der Pädophilie besteht. Eine dieser noch immer umstrittenen Fragen ist, wo die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein verläuft. Eine andere ist, was wir Kindern zumuten dürfen und sollten. So fordern manche bis heute in vollem Ernst ein Wahlrecht für Kinder. Das Argument, wir müssten Kindern „auf Augenhöhe“ begegnen ist durchaus hoffähig und manche Eltern bezeichnen ihre eigenen Töchter und Söhne sogar als „ihre besten Freunde“.

Wie konnte das Zurechtrücken einer Schieflage in der Debatte über Pädophilie zu einer derartigen Überreaktion führen?“

Der Umgang mit dem Thema Pädophilie mag in den 1970er Jahren zu unbesorgt gewesen sein, doch heute hat das Thema hysterische Züge angenommen. Es gibt kaum ein Thema, das die Emotionen höher schlagen lässt und bei dem die Grenzen des Rationalen immer wieder gesprengt werden. Als z.B. im vergangenen Jahr ein Krankenpfleger der Charité von einer 16 Jährigen fälschlicherweise des Missbrauchs bezichtigt wurde, galt seine Schuld bereits als ausgemachte Sache, bevor es überhaupt zu einer ordentlichen Anzeige gekommen war. Der vermeintliche Täter war wochenlang einer regelrechten Hetzkampagne ausgeliefert. [3]

Jede Äußerung über Pädophilie, die nicht in die Richtung einer scharfen Verurteilung geht, wird mit fast inquisitorischem Eifer geahndet. Das sehen wir am Beispiel der zurückgetretenen FDP-Politikerin. Was ist mit dem Recht einer jungen Frau auf Meinungsfindung und freie Meinungsäußerung?

Weil die Debatte über Kindesmissbrauch bei uns einen inquisitorischen Charakter hat, wagt es auch niemand, Lobbygruppen wie z.B. die Hamburger Organisation Innocence in Danger [4] in ihre Schranken zu verweisen. Mit unseriösen Zahlen („jedes vierte Kind wird in Deutschland Opfer einer sexuellen Gewalttat“) wird Eltern und Kindern Angst vor anderen Erwachsenen eingejagt und Misstrauen geschürt. Lehrer und Erzieher müssen damit rechnen, jederzeit Beschuldigungen ausgesetzt zu sein. Hinter jedem Unbekannten, so die Botschaft, steckt ein potentieller Kinderschänder. Ausgerechnet die selbsternannte Sittenwächterin und ehemalige Leiterin der Organisation, Stephanie zu Guttenberg, sagte einmal, sie wolle „eine gewisse Empörungskultur pflegen“ [5]. Genügt das nicht, um uns allen das Gruseln zu lehren?

Vielleicht werden spätere Generationen mit ebenso viel Erstaunen auf unsere Zeit zurückblicken, wie wir auf die 1970er Jahre. Wie konnte das Zurechtrücken einer Schieflage in der Debatte über Pädophilie zu einer derartigen Überreaktion führen? Wir müssen nicht mit den Intellektuellen der 1970er Jahre übereinstimmen, aber etwas von ihrem Mut täte gut.

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