01.07.2000

ORTNERS ODYSSEEN

Von Helmut Ortner

Tempo, Tempo. Von Helmut Ortner

Wir Deutschen haben es eilig. Der amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine hat für seine “Landkarte der Zeit” das Lebenstempo in mehr als dreißig Ländern verglichen. Die Ergebnisse sind interessant: nicht die fleißigen Japaner, nicht die schnellen Amerikaner, auch nicht die wendigen Holländer liegen vorn; nein, das höchste Tempo hat das Uhrenland Schweiz, danach folgt – erstaunlich – Irland und an dritter Stelle Deutschland.
Dem Terror der Uhr scheint niemand zu entkommen. Keine Zeit, sagt der Chef zu seinen Angestellten, der Verkäufer zum Kunden, der Vater zur Familie. Zeitfresser stecken überall: In Dauertelefonaten, in Warteschlangen, in Verkehrsstaus. Fast eine Stunde, so haben Experten errechnet, sitzt jeder erwerbstätige Deutsche täglich im Stau. Das sind – nur mal am Rande – drei Jahre seines Lebens. Viereinhalb Monate wartet er vor roten Ampeln. Was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss. Verlorene Zeit?
Was Rousseau einmal über die Erziehung gesagt hat – nämlich dass es dabei nicht darauf ankomme, Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren –, gilt leider nicht für den Menschen von heute. Wir alle sind dem Tempo-Wahn verfallen. Wer kennt das nicht: “Ich rufe dich an, wenn ich Zeit habe…”, hören wir hier, und “... wir sollten uns wirklich mal wieder sehen”, sagt man uns dort.
Mütter hetzen fortwährend zwischen Schule, Kindergarten, Klavierlehrerin hin und her, selbstverständlich neben Job und Haushalt – Männer sind ohnehin im Karriere-Dauerstress. Nur nicht anhalten, immer vorne sein. Nur wer vorne ist, ist auch oben.
Die neuen dynamischen Leistungsträger haben sich längst an das Tempo gewöhnt. All die Groß-, Klein- und Möchtegern-Manager, die in täglich 18 Arbeitsstunden ihren Schreibtisch nicht leer bekommen, von einem Meeting zum nächsten unterwegs sind, immerfort neue Termine in ihre digitalen Timeplaner eintragen, rund um die Uhr über Handy erreichbar sind: “Zeit ist Geld” heißt ihr Leitmotto. Dabei wissen schlaue Menschen, dass jeder Versuch, mit einem Ordnungssystem Zeit zu gewinnen, die Zeitknappheit nicht minimiert, sondern im Gegenteil nur zu noch mehr Terminen führt. Schöne, neue Arbeitswelt.
“Die Zeit, sie ist das wichtigste aller Luxusgüter”, sagt Hans Magnus Enzensberger. So, wie es aussieht, der einzige Luxus, den sich die topverdienenden rastlosen Leistungsträger nicht mehr leisten können.

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