25.09.2013

Natur als Ersatzreligion

Von Andreas Möller

Wir haben zwar kaum noch Naturerfahrungen aus erster Hand, aber unsere Verklärung der Natur nimmt religiöse Züge an. Und der verzichtfreie Konsum überdurchschnittlich teurer Ökoprodukte ist letztlich die Fortsetzung des Ablasshandels mit anderen Mitteln, meint Andreas Möller.

Die Widersprüchlichkeit von Lebensstilen ist keine Erfindung unserer Zeit. Reflexion setzt Überdruss voraus, braucht ihn zum Entstehen. Anders als in den Aufbaujahren der Bonner Republik nimmt die Bevölkerung eine Kosten-Nutzen-Rechnung vor. Sie bejubelt nicht jede neue Segnung der Technik, sondern will Beweise dafür, dass eine Nachtflugerlaubnis in Frankfurt, eine dritte Landebahn in München oder eine neue Bahnstrecke zwischen Stuttgart und Ulm einen Gewinn an Lebensqualität bedeutet. Anstatt dem Pauschalargument bedrohter Konkurrenzfähigkeit zu folgen, will sie wissen, ob eine weitere Vertiefung der Elbe die negativen Folgen für Obstbau und Tourismus rechtfertigt – und ob sie die letzte bleibt, oder ob sich die Schraube hin zu immer größeren, weil profitableren Containerschiffen weiterdreht.

Immer öfter wird darüber negiert, dass Landschaften Bestandteil von Lebens- und Wirtschaftsräumen sind, die sich im globalen Wettbewerb schneller als früher wandeln, und dass Teilhabe im wohlstandsbezogenen Sinne noch einen zentralen Wert der Gesellschaft wie in den Nachkriegsjahrzehnten darstellt. Die Begrenzung des Wachstums und die Sorge um die „natürlichen“ Lebensgrundlagen sind zu Formeln des Protests gegen jede Form der Veränderung geworden. Mit ihnen ist die Verlockung gewachsen, „sich mitten in der durch Globalisierung, Digitalisierung und Auflösung von Sicherheiten geprägten zweiten Moderne in Bildern einer scheinbar heilen Vergangenheit einzurichten“, wie es in einem Buch von Michael Vassiliadis heißt. 2 Es handelt von einem Kulturwandel, der weiter reicht als zu den Widerständen gegen einzelne Trassen oder gentechnische Versuchsfelder.

„Nie nahm sich das Gespräch über die Sehnsucht nach dem einfachen, „naturnahen“ Leben dabei so zwiespältig aus wie heute.“

Nie nahm sich das Gespräch über die Sehnsucht nach dem einfachen, „naturnahen“ Leben dabei so zwiespältig aus wie heute, und das nicht nur mit Blick auf die Hoffnungen, die man in vielen Ländern Europas nach der Wirtschafts- und Finanzkrise an die Rückkehr zur Industrialisierung knüpft. Anders als zur Zeit der großen Modernekritik und selbst zur Wiedervereinigung leben in Deutschland erstmals mehr Menschen in den Städten als auf dem Land. Sie teilen diesen Trend mit sieben Milliarden Menschen weltweit, die zunehmend in Agglomerationen zu Hause sind.

Während der Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft an der deutschen Bevölkerung vor einhundert Jahren noch bei vierzig Prozent lag, sind es heute weniger als zwei Prozent. Die Mehrheit der Menschen erfährt „Natur“ vor allem medial und als Freizeitvergnügen – kaum noch als notwendige Lebensgrundlage. Das Töten und Verarbeiten von Tieren ist längst der Bequemlichkeit und Abstraktheit des Kühlregals in Billigdiscountern und Biomärkten gewichen. Die moderne Natur ist eine der Harmonie und des Wohlfühlens, und sie ist zusammengesetzt aus einer Vielzahl an trügerischen Bildern.

Zweifellos findet die Wahrnehmung von Natur lange schon nicht mehr vorrangig durch Erfahrungen praktischer Art statt. Moderne Naturgeschichte – von Zeitschriften wie der Urania und den Büchern des Kosmos-Verlags in den zwanziger Jahren über die Dokumentation Serengeti darf nicht sterben (1959) von Bernhard Grzimek, die Filme Heinz Sielmanns und Jacques Cousteaus bis hin zur Gut-Böse-Logik in Eine unbequeme Wahrheit (2006) oder Avatar (2009) – ist die Geschichte von Visualisierung. Während in Ländern wie Japan oder den USA Erdbeben, Wirbelstürme, Waldbrände und Kälteeinbrüche allerdings noch zur Erfahrungsbasis gehören und in vielen Teilen der Welt einfache Infektionskrankheiten, Hausgeburten und Kinderkrankheiten ein lebensbedrohliches Potenzial besitzen, fehlt in Deutschland heute eine kollektive Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der Natur. Anders als es Sigmund Freud über die Libido formulierte, begehren wir in punkto Natur nicht mehr das, was wir täglich sehen: Unsere Sehnsucht gilt einer Natur, die wir uns konstruieren, an die wir uns zu erinnern glauben.

Auf diese Weise ist es möglich geworden, Verklärungen über „Ganzheitlichkeit“ oder ein „organisches“ Naturbild anzuhängen, ohne als esoterisch oder konservativ zu gelten. Denn das Geschäft mit der Natur von Ökostrom bis zu Bio-Lebensmitteln ist selbst zu einem Wirtschaftsfaktor geworden, der über jede intellektuelle und moralische Kritik erhaben ist. Magazine wie Landlust, das 2005 mit einer Auflage von weniger als einhunderttausend begann und sie inmitten rückläufiger Verkaufszahlen von Zeitungen und Zeitschriften auf über eine Million vervielfachen konnte, sind Seismographen urbaner Leserschichten, denen die Echtheit ihrer Produkte und die Freizeit im Freien mehr als alles andere am Herzen zu liegen scheinen. In diesem Kosmos, der Federn heimischer Greife und Eulenvögel oder Kastanien als Bastelzutaten für lange Herbstabende zelebriert, ist freilich alles Unbehagliche getilgt, das die Natur seit Menschengedenken für uns bereithält. Es ist die Magie der Beschaulichkeit, die offensichtlich immer mehr Menschen anspricht, eine Art Volksmusik zum Lesen, nur klüger und ästhetischer.

Auch der Landwirtschaftsverlag Münster, der mit Top Agrar die wichtigste Fachzeitschrift für Landwirte herausbringt, war vom Erfolg seiner Landlust überrascht. 3 Ursprünglich nicht mehr als ein Versuchsballon, entwickelte sich das Magazin zum verlegerischen Zugpferd mit Ausstrahlung weit in die Gesellschaft hinein, oder besser: aus dieser heraus. Landlust ist dabei nur eines von vielen Beispielen für den Rückzug in eine beschauliche grüne Nische, von der freilich niemand spricht: Immer geht es zuvorderst um Alternativen zur rein monetären Wertschöpfung, um Werte „weit außerhalb der hochtourig leerlaufenden Global-Ökonomie, die allenfalls noch Scheinblüten (und zunehmend: Panikbetriebe) ausbildet, aber keine Früchte mehr“. 4

Die Natur instrumentalisieren

Wir fürchten uns. Nicht nur vor der globalen Finanzarchitektur oder vor den Folgen einer schleichenden Rezession. Die Deutschen haben Angst vor dem Alter, um ihr von anderen bewundertes Sozialsystem. Vor allem sorgen sie sich um den Schutz und Erhalt von Natur, Umwelt und Klima und sehen die Zukunft bedroht, in der ihre Kinder und Kindeskinder aufwachsen werden. Grünes Wachstum und die Minimierung technischer Risiken heißen die Antworten auf diese Angst. Denn wir glauben daran, dass es sich dabei um eine grundsätzliche Alternative zu den bisherigen Formen des Wirtschaftens handelt.

Es ist kein Novum, dass der Wandel Ängste nach sich zieht. Nicht anders, als es die Formel des Soziologen Ulrich Beck von der Risiko-Gesellschaft besagte, sind wir eine Risiko-Wahrnehmungsgesellschaft geworden, die Züge einer Angst-Gesellschaft zeigt. Daran ist nicht die Technik schuld, der man diese Macht gern andichtet. Vielmehr war sie seit jeher ein Ventil der Menschen für den Unmut über ihre Lebenswelt, Stahl oder Beton gewordenes Sinnbild des Wandels. Nirgendwo sonst wurde die „Entzauberung der Welt“, die Max Weber 1917 als wissenschaftlichen Gegenpart zu den Kirchen und der Metaphysik eingefordert hatte, stärker mit der Technik in Verbindung gebracht. Während die Deutschen nach einem Zeitalter der Sicherheit das Abenteuer suchten und es in aufheulenden Motoren und auch im Krieg fanden, hat sich die Symbolik heute in ihr Gegenteil verkehrt: Wir denken in Kategorien der Risikovermeidung, vor allem der technischen.

„Nach einem Zeitalter der Sicherheit in dem die Deutschen das Abenteuer suchten und in aufheulenden Motoren fanden, hat sich die Symbolik heute in ihr Gegenteil verkehrt: Wir denken in Kategorien der Risikovermeidung.“

Während die öffentliche Diskussion gegenwärtig die große Zukunftsverantwortlichkeit unseres Handelns betont, kann man tatsächlich von einer konservativen Revolution im Umgang mit Natur und Technik sprechen, die in Teilen der Gesellschaft stattfindet. 5 Damit ist nicht allein die um sich greifende Haltung gemeint, die Dynamisierung des Lebens durch unzählige Stereotype wie das ehrliche Handwerk und den Einklang mit der Natur infrage zu stellen. Es geht um die Salonfähigkeit „romantischer“ Gedanken wie die Sehnsucht nach Ganzheit und Vergangenheit sowie die Dauerpräsenz der Natur in der politischen Debatte. 6 Denn sich in Bilder der Natur zu flüchten, ist nicht anders als der Geschichtsboom der Gegenwart eine Folge fehlender Fortschrittsutopien, wie es der Historiker Martin Sabrow einmal ausdrückte. 7 Und es geht um die Vitalität der Idee, dass wir eine innigere Beziehung zur Natur entwickeln, weil wir aus den Fehlern der Geschichte lernen – und das sind immer solche, die wir durch unseren fatalen Glauben an die Technik und den ungezügelten Wohlstand begehen. „Rückwärts gekehrte Prophetie“ nannte dies der Philosoph Friedrich Schlegel am Beginn des 19. Jahrhunderts.

Die Natur wird immer öfter zur Projektionsfläche und muss für eine Reihe von Attributen herhalten, die nicht in ihrer Natur liegen.

Die soziale Seite der Natur

Man muss sich nicht täglich die Flüchtlinge in den Krisengebieten der Welt vor Augen führen, die Zehntausenden von Toten, die das Assad-Regime in Syrien im Frühjahr 2012 hinterlassen hat, oder die dramatische Jugendarbeitslosigkeit in Europa, um den inneren Kompass für das Verhältnis von Gut und Böse wiederzuentdecken. Nur weil es anderswo Hunger gibt, muss sich niemand mit der Massentierhaltung abfinden. Und es ist im Grunde nicht entscheidend, dass die Weltbevölkerung Jahr für Jahr um siebzig Millionen Menschen wächst, die vor allem versorgt sein wollen, während wir darüber diskutieren, auf Insellösungen der Nahrungs- und Energiewirtschaft zu setzen. Vergleiche wie diese hinken, weil sie das System von Selbstwahrnehmung und Anteilnahme auf den Kopf stellen.

Und doch muss die Frage gestellt werden, weshalb entsprechende Debatten mit einer solchen Leidenschaftlichkeit stattfinden können, obwohl wir dank der medialen Vernetzung besser denn je informiert sind, was anderswo auf der Welt passiert. Wir treffen also bewusste Entscheidungen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit monatelang auf einen Bahnhof oder die Frage der „Bürgerverträglichkeit“ von Energiemixen richten, zwischen denen – allen Unterschieden zum Trotz – eben doch ein Zusammenhang besteht. Er hat nichts mit der oft vermuteten deutschen Technikfeindlichkeit zu tun, sondern mit dem Glauben an die Rechtmäßigkeit der eigenen Mission. Und die wird mit fanatischem Eifer vertreten.

„Der Charme des Wortes Nachhaltigkeit liegt darin, dass niemand, der etwas mehr für Porree und Karotten zahlt, Öko-Strom bestellt oder Wald-Aktien kauft, Komfortabstriche in Kauf nehmen muss.“

So glauben wir beim Stichwort Nachhaltigkeit reflexartig an einen Wandel zum Guten. Ein Wort wird zur kollektiven Übersetzung für das, was man den „richtigen Weg“ nennen könnte. Genau darin liegt sein Charme: Denn niemand, der etwas mehr für Porree und Karotten zahlt, Öko-Strom bestellt oder Wald-Aktien kauft, muss Komfortabstriche in Kauf nehmen.

Während die Umweltbewegung früherer Jahrzehnte mit vehementer Konsumkritik einherging, feiert man den Konsum im Zeichen der Nachhaltigkeit umso ungenierter oder prangert den Abbau von Rohstoffen an, während man selbst auf jeden Zug „smarter“ Technologien vom Tablet-PC bis zum Null-Energie-Haus aufspringt. Mails enthalten Disclaimer, sie nicht auszudrucken, doch ihre Zahl nimmt zu. Konferenzen werben damit, dass sie nach den Grundsätzen eines „nachhaltigen Veranstaltungsmanagements“ und der „CO2-freien Anreise“ ausgerichtet werden, aber sie finden statt, und es werden mehr. Da uns nichts stärker zu eigen ist als der Konsum gleich welcher Art, wird unser Harmoniebedürfnis über Label richtiger und falscher Produkte und Produktionsweisen gestillt, nicht mittels Verzicht. 8 Ein solcher Lifestyle ist, flapsig gesagt, eine Fortsetzung des Ablasshandels mit anderen Mitteln.

Was indes zählt, ist das gute Gefühl, das Richtige zu tun. Und das Richtige ist immer das Einfache, Reduzierte, sei die Welt um uns herum auch schnell und komplex. Der publizistisch breit flankierte „Abschied vom Überfluss“ trägt ein Glücksversprechen in sich, das nicht zufällig dort auf Anklang trifft, wo die tägliche Entscheidungsvielfalt von der Grundschule bis zur Brotsorte als Last empfunden wird: in den Städten. 9 Dass der Stromverbrauch in Deutschland trotz höherer Kosten, sparsamerer Geräte und einem Bewusstsein für Nachhaltigkeit steigt, die Ressourcennutzung in Europa pro Kopf gerechnet viermal so hoch ist wie in Asien und fünfmal so hoch wie in Afrika, wird durch entsprechende Handlungen nicht tangiert. Der Verzicht auf Überfluss ist leicht gefordert: Wo aber beginnt er, und bei wem? Wer legt sie fest, die wahren und die falschen Bedürfnisse?

Wenn heute daher auch viel von „globaler Verantwortung“ die Rede ist, kreist die Debatte in Wahrheit stark um uns selbst. Das Dauerklagen über die Petitessen und Gewissensbisse der Wohlstandsgesellschaft rückt im Sinne von Brechts An die Nachgeborenen vielleicht nicht in die Nähe eines Verbrechens, mit dem dieser jedes Gespräch über Natur dem über Politik und Gesellschaft nach 1933 zumindest poetisch unterordnete. Doch nimmt es ein Schweigen über viele andere gesellschaftliche Probleme sehenden Auges in Kauf oder setzt sich bewusst über die Wirkungen des eigenen Tuns hinweg.

Es stimmt schon, dass die Deutschen hinsichtlich der individuellen Maßnahmen des Mülltrennens, des energetischen Ertüchtigens von Eigenheimen und des permanenten Ersetzens einer Gebrauchstechnik durch eine neuere einen Spitzenplatz einnehmen, auch wenn sie damit aufs Ganze gerechnet vielleicht ebenso energie- und ressourcenintensiv leben wie die „unfreiwillig effizienten“ Menschen in süd- oder osteuropäischen Ländern mit alten, aber voll besetzten Bussen, Großfamilien und weniger Singlehaushalten. 10 Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz sind indes längst zu einem Hauptgegenstand der EU-Gesetzgebung geworden, die eine Vielzahl der in deutsches Recht umzusetzenden Initiativen auf den Weg bringt. In den Niederlanden sind die Widerstände gegen den Ausbau von Infrastrukturen nicht geringer als in Deutschland, ist der Wachstumsbegriff in einigen Regionen ähnlich radikal in der Kritik. Auch in Österreich und der Schweiz ist der Schutz der Natur ein besonderes Gut – nicht minder in den skandinavischen Ländern.

Der grüne deutsche Pioniergeist, von dem angesichts der Energiewende – die manche als die „Reformation des 21. Jahrhunderts“ bezeichnen – wieder viel die Rede ist: Er ist immer auch der eigenen Selbsttäuschung eines durch die Geschichte ansonsten mythenscheu gewordenen Landes geschuldet, wie die frühe Loha-Bewegung in den USA und eine entsprechende Kritik am mittlerweile auch dort so wahrgenommen „Age of Ecological Anxiety“ zeigen. 11 Als es in Deutschland noch Reformhäuser gab, war „Organic Food“ in New York und Kalifornien schon schick.

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