01.11.2006
Neues aus Paranoialand
Analyse von Matthias Heitmann
Matthias Heitmann über die gefährliche Angst vor Opern und nicht funktionierenden Bomben.
Erinnern Sie sich noch? März 2001: In Afghanistan zerstören die radikal-islamischen Taliban die berühmten Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan. Die Sprengung der aus vorislamischer Zeit stammenden Statuen löste weltweit heftige Kritik aus, und die UN-Kulturorganisation UNESCO entsandte einen Sondergesandten nach Kabul, um das Regime zum Umdenken zu bewegen. Vergebens. Die Taliban argumentierten, die buddhistischen Statuen richteten sich gegen den Islam, weshalb deren Sprengung nur konsequent sei.
September des Jahres 2006: In Deutschlandwird die Mozart-Oper „Idomeneo“ vom Spielplan der Deutschen Staatsoper gestrichen. Dieser Schritt löste international heftige Kritik aus. Vergebens. Kirsten Harms, die Intendantin der Berliner Oper, argumentierte auf Basis staatlicher sowie polizeilicher Sicherheitsempfehlungen, einige Szenen der Oper könnten als gegen den Islam gerichtet verstanden werden, weshalb ihre Absetzung nur konsequent sei.
Wenn man sich diese Parallele auf der Zunge zergehen lässt, drängt sich der Eindruck auf, die Taliban oder deren Helfershelfer hätten mittlerweile in Deutschland die geistige und politische Führerschaft übernommen. Aber keine Sorge, wir werden weiterhin von einer christlich-sozialdemokratischen Koalition regiert.
Wirklich kein Grund zur Sorge? Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sprach sich kürzlich für die Entwicklung eines „deutschen Islam“ aus. Er hatte eine nationale Islamkonferenz einberufen, in der neben gemäßigten muslimischen Vertretern auch Hardliner mit am Tisch saßen und über die künftige stärkere Einbeziehung des Islam in die deutsche religiöse und soziale Wertegemeinschaft diskutiert wurde. Zuvor war schon der deutsche Papst wegen in der islamischen Welt auf Unmut gestoßener Rezitationen zurückgerudert, um die Vermutung, er habe den Propheten Mohammed kritisieren wollen, im Keime zu ersticken. Bereits im Frühjahr dieses Jahres hatten in europäischen Medien kursierenden Mohammed-Karikaturen in der islamischen Welt eine Welle der Empörung und in Europa eine Welle von Selbstzensurforderungen ausgelöst, um unsere muslimischen Weltmitbürger nicht zu provozieren. Da passt es gut ins Bild, dass gerade eine „Bibel in gerechter Sprache“ herausgekommen ist, deren neue Übersetzung sich von feministischen und befreiungstheologischen Interessengruppen leiten ließ und nun niemanden mehr kränken soll.[1] Haben wir eigentlich mittlerweile vollends den Verstand und den eigenen Stolz verloren?
Vielfach wurde in den letzten Wochen der richtige Umgang mit dem Islam diskutiert. Politiker aller Parteien echauffierten sich über die Entscheidung, die Aufführung der Mozart-Oper „Idomeneo“ vorübergehend vom Spielplan zu nehmen, und griffen die Intendantin der Berliner Oper persönlich an, sie würde aus Angst vor Islamisten in die Knie gehen. Die angegriffene Kirsten Harms verwies darauf, dass sie ihre Entscheidung nicht auf eigene Faust, sondern auf eindringliches Zuraten des Berliner Innensenators getroffen habe, der natürlich tags darauf davon nichts mehr wissen wollte. Man sollte die Intendantin dafür kritisieren, eine Kulturbürokratin ohne Rückgrat zu sein, die nur allzu geflissentlich auf Einflüsterungen von außerhalb des Kulturbetriebes reagierte, bereitwillig vor den Paranoiastrategen brav zu Kreuze kroch und damit letztlich die Autonomie der Kultur gefährdete. Ihr aber vorzuwerfen, sie sei vor Islamisten in die Knie gegangen, während sich der Rest der deutschen Gesellschaft inbrünstig gegen die Aufweichung demokratischer und freiheitlicher Standards zur Wehr setze, ist bestenfalls heuchlerisch. Der Fall ist anders gelagert: Kirsten Harms hat das Vorsorgeprinzip sowie die Risikoscheu, die die Politik seit Jahren entscheidend prägen, obrigkeitshörig und eins zu eins auf ihren Zuständigkeitsbereich angewandt. Wenn sie willfährig vor irgendetwas in die Knie gegangen ist, dann vor der westlichen Politik der Angst.
Die Kofferbomben-Farce
Wie stark diese Politik der Angst mittlerweile das staatliche Denken und sicherheitspolitische Handeln prägt, darüber gibt auch der Fall der sogenannten „Kofferbomber“ Aufschluss. Zur Erinnerung: Am 31. Juli dieses Jahres hatten auf dem Kölner Hauptbahnhof zwei Männer in zwei Zügen der Deutschen Bahn Kofferbomben platziert. Sie wurden in Dortmund und Koblenz in den Zügen entdeckt; die Bomben waren jedoch so dilettantisch konstruiert, dass sie nicht hochgehen konnten. Zunächst mehrten sich die Stimmen, denen zufolge ein terroristischer Hintergrund als unwahrscheinlich galt. Auch ein gegen die Deutsche Bahn gerichteter Erpressungsversuch erschien möglich. Doch die Panikspirale war bereits in Bewegung gesetzt. Die Aufregung spitzte sich weiter zu, nachdem am 10. August in London 24 Verdächtige wegen des Verdachtes, zehn Flugzeuge auf ihrem Weg von Großbritannien in die USA in die Luft sprengen zu wollen, festgenommen worden waren. Plötzlich schien es hierzulande keine Zweifel mehr daran zu geben, dass auch die Kofferbomber von Köln terroristische Motive verfolgten. Zusammenhänge mit dem Libanonkrieg wurden konstruiert. Nun kamen auch von dort eingesickerte Gotteskrieger als potenzielle Drahtzieher in Betracht, obwohl es hierfür weder Belege noch Präzedenzfälle gab – weder Hisbollah, noch Hamas oder Dschihad wurden jemals internationale Terroraktivitäten im Al-Qaida-Stil unterstellt.[2] Nun wurden die Kofferbomber wegen Mitgliedschaft in einer inländischen terroristischen Vereinigung gesucht. Mithilfe von Videos aus Überwachungskameras konnten sie identifiziert und auch verhaftet werden.
Was zunächst wie ein schneller Fahndungserfolg aussah, entpuppte sich jedoch als Farce: Letztlich konstatierte das Bundeskriminalamt Anfang September, dass es keinem der Verdächtigen Kontakte zu irgendwelchen islamistischen Organisationen nachweisen könne. Sie stammten auch nicht aus entsprechenden Ausbildungslagern und seien daher auch nicht als „Schläfer“ einzustufen, sondern einfach nur spontan „über das Internet radikalisiert“ worden.[3] Ungeachtet dieser Einschätzung wertete der SPD-Bundestagsabgeordnete Dieter Wiefelspütz die gescheiterten Anschläge auf die Züge als eine „neue Dimension“ des islamischen Terrorismus[4] und die Attentäter als Mitglieder einer „neuen Generation von Terroristen“. Die verängstigte Staatsmaschinerie rotierte weiter: Forderungen nach Einrichtung einer Anti-Terror-Datei, nach Verschärfung von Visa-Kontrollen und Videoüberwachung öffentlicher Plätze sowie nach strikterer Kontrolle des Internets prägten die anschließende Debatte darüber, wie man – nicht stattgefunden habende – Terroranschläge künftig besser verhindern könne.
Selbstaufgabe als Sicherheitsstrategie
Präventiv den Rechtsstaat einzumotten, um ihn vor den potenziellen Gefahren einer Bewährungsprobe zu bewahren – das ist das Leitmotiv der Politik der Angst. Dabei ist es nicht so, dass Politiker dies gerne und oder gar bewusst täten. Deshalb greift es auch zu kurz, ihnen, wie im Fall der Mozart-Oper, Heuchlerei im Umgang mit der Opernintendantin vorzuwerfen. Heuchlerei setzt voraus, dass bewusst wider besseres Wissen argumentiert und gehandelt wird. Dies ist so nicht der Fall: Denn in der paranoiden westlichen Wahrnehmung dreht sich der Spieß tatsächlich um: Die Tatsache, dass mittlerweile Bombenleger auf den Plan treten, die gar keine Bomben bauen können, wird als Beispiel für die wachsende terroristische Bedrohung gewertet. Zudem scheint man sich in Berlin auch darüber einig zu sein, dass man durch die Beschneidung von Rechten und Freiheiten genau diese vor Beschädigung schützen könne.
Eine Ursache für diesen offenkundigen Realitätsverlust ist, dass offensichtlich selbst die Vertreter des deutschen Staates das Vertrauen in die eigene Gesellschaft sowie in die ihr zugrunde liegenden Werte und Rechtsnormen verloren haben (siehe dazu die weiteren Artikel zum Thema in dieser Novo-Ausgabe). Während der Staatsbürger präventiv als Quell allen Unheils betrachtet und daher dessen Überwachung und Gängelung Freiheiten sichern helfen soll, wird versucht, Zuziehende aus fremden Ländern mithilfe von Fragebögen auf ihre Integrationsfähigkeit zu überprüfen.[5] Immer stärker sieht sich der verunsicherte Staat gezwungen, die durch das eigenhändige Unterminieren der ideellen und rechtlichen Grundlagen selbst verursachte Erosion gesellschaftlicher Zusammenhänge durch eine zunehmende Regulierungswut zu flankieren, um nicht vollständig sein Sicherheitsgefühl sowie den Kontakt zu den Bürgern zu verlieren. Eigener Visionen gänzlich verlustig gegangen, richtet sich beinahe alle Politik nach dem Primat der Risikovermeidung aus. Nur so macht es Sinn, Freiheiten zu beschneiden, auch wenn man sie eigentlich verteidigen will. Nur so macht es Sinn, eine Opernaufführung abzusagen, obwohl diejenigen, die sich durch sie angegriffen fühlen sollten, sich noch nicht einmal kritisch zu Wort geäußert haben. Und nur so macht es auch Sinn, BKA-Erkenntnisse über das gänzliche Fehlen von Al-Qaida-Strukturen in Deutschland als Indiz für eine immer stärker wachsende Bedrohung zu deuten.
Religion als Politik-Ersatz
In ihrer reflexartigen Suche nach Halt und gemeinsamen Werten entwickelt die Politik der Angst immer stärkere religiöse Bezüge. Obgleich Politiker aller Couleur, um wütenden Reaktionen aus dem Weg zu gehen, gebetsmühlenartig behaupten, es gehe in der Auseinandersetzung mit dem islamischen Terrorismus nicht um den Islam, so steht dennoch die Frage der Religion permanent auf der politischen Tagesordnung. Wenn die von Schäuble öffentlich einberufene Islamkonferenz irgendetwas bewirkt hat, dann, dass sie der Annahme, in Deutschland gäbe es weitverbreitete und die Gesellschaft spaltende religiöse Konflikte, Vorschub leistete. Selbst einst unter Verwendung sozialer und politischer Begriffe geführte Debatten wie die über die Integration von Ausländern werden heute unter dem Überthema des Ausgleichs zwischen Religionsgruppen zusammengefasst und verschleiert.
Diese Entwicklung ist aus mehrerlei Hinsicht problematisch: Zum einen wird hierdurch der Einfluss von (wie auch immer gearteten) Religionsgemeinschaften gestärkt, da suggeriert wird, sie hätten als Vertreter mehr oder minder aller in Deutschland lebender Ausländer Legitimität und Auftrag, deutsche Politik entscheidend mitzuprägen. Zum anderen werden hierdurch die Folgen des Multikulturalismus – selbst Ausdruck des Relativismus und der Auflösung universalistischer und humanistischer Werte mystifiziert: Die Unfähigkeit der politischen Elite, Perspektiven aufzeigen zu können, für die es sich für Deutsche und Ausländer lohnen würde, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, wird als religiöses und mithin rational kaum zu lösendes Problem präsentiert. Zudem ist es auch historisch betrachtet eine Perversion demokratischen Rechtsverständnisses, wenn ein deutscher Innenminister sich für die Schaffung eines „deutschen Islam“ einsetzt. Offensichtlich macht die über Jahrhunderte hart erkämpfte Trennung von Staat und Kirche nur so lange Sinn, wie der säkularen Politik die eigene Orientierung nicht vollständig abhandengekommen ist. Wer hingegen nur noch Angst empfindet, der glaubt gern an den lieben Gott und schickt Stoßgebete gen Himmel. Willkommen im religiös aufgeputschten postmodernen Mittelalter! Hallo Taliban!