16.10.2014

Schottland, Jugoslawien und das Ende der Nationen

Analyse von Tara McCormack

Das Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands und der Zerfall Jugoslawien in den 1990er-Jahren scheinen auf den ersten Blick wenig miteinander gemein zu haben. Die Politologin Tara McCormack zeigt aber, dass der Nationalstaat quer durch Europa auf der Kippe steht

In ihrem sehr einflussreichen Buch Neue und Alte Kriege (im Original 1998 erschienen) stellt Mary Kaldor die Frage, inwieweit es überhaupt praktisch relevant gewesen wäre, ob Jugoslawien oder Bosnien der international anerkannte Staat war 1. Die Nachwirkungen des schottischen Referendums bieten uns heute die Gelegenheit zur Rückschau auf den Zusammenbruch Jugoslawiens. Dadurch kann man einige Parallelen zwischen dieser bitterer Aufspaltung und der gegenwärtigen Lage in einigen europäischen Ländern aufzeigen.

„Der Verfall Jugoslawiens und das Referendum über die schottische Unabhängigkeit folgen dem gleichen politischen Trend“

Ein absurder Vergleich? Natürlich ist ein Kriegsausbruch in Großbritannien höchst unwahrscheinlich, aber der Verfall Jugoslawiens und das Referendum über die schottische Unabhängigkeit folgen dem gleichen politischen Trend: nicht, wie viele meinem, einem Wiedererstarken des Nationalismus, sondern der Erosion des Zentralstaats. Darüber hinaus wirft die aktuelle Debatte über die Unabhängigkeit Schottlands ein Schlaglicht auf die fehlerhaften Annahmen, die seit dem Ende des Kalten Krieges in der westlichen Politik vorherrschen.

Der Untergang Jugoslawiens

Zwei Geschichtsversionen verbreiteten sich während des Zusammenbruchs Jugoslawiens. Die erste Ansicht, wonach die Auflösung Jugoslawiens auf den Ausbruch lange zurückliegender ethnischer Feindseligkeiten zurückzuführen sei, die durch den Kalten Krieges hindurch unterdrückt wurden, verflüchtigte sich bald. Die zweite Ansicht hingegen stieg zum Glaubenssatz liberaler Gelehrter, Politiker und Journalisten auf: Demzufolge führten die Serben im ehemaligen Jugoslawien naziartige Aktionen gegen Nicht-Serben durch.

Die Vorstellung, dass die Ereignisse in Jugoslawien mit dem Holocausts vergleichbar seien,  avancierte damals zur Cause célèbre westlicher Liberaler, Intellektueller und Staaten schlechthin. In der verwirrenden Zeit nach dem Kalten Krieg ließ sich damit eine klare moralische Position beziehen. 2 Widerspruch war nicht erlaubt. In dem Moment, als der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali den Bosnienkrieg unter Verweis auf viel schlimmere Konflikte als „Reiche-Leute-Krieg“ bezeichnete, verlor er sein Amt.   

Der Bürgerkrieg kann nur vor der Hintergrund der inneren Erosion Jugoslawiens verstanden werden, die mit dem Tod des langjährigen Präsidenten Marshall Tito begann. Jugoslawien spielte im Kalten Krieg eine besondere, privilegierte Rolle. Nachdem Stalin das Land 1948 aus dem Kominform geworfen hatte, beschloss der Westen, Jugoslawien über Wasser zu halten und ihm eine Schlüsselrolle in der westlichen Sicherheitspolitik zuzuweisen. In den 1960er- und 1970er-Jahren schienen die Jugoslawen über das Beste beider Blöcke zu verfügen: Zu Hause eine sozialistische Wirtschaft und einen Reisepass, mit dem sie überall auf der Welt willkommen waren. Während sich ihre Nachbarn im Ostblock nach einer Plastiktüte sehnten, konnten Jugoslawen eine Einkaufstour in Triest unternehmen.

„Die wohlhabenden und industrialisierteren Teilstaaten Kroatien und Slowenien klagten über den bundesweiten Finanzausgleich an ärmere Länder“

Die guten alten Zeiten waren in den 1980er-Jahren vorbei. Soziale, wirtschaftliche und politische Probleme nahmen zu. Das höchst komplizierte föderale System knirschte zusehends. Die wohlhabenden und industrialisierteren Teilstaaten Kroatien und Slowenien klagten über den bundesweiten Finanzausgleich an ärmere Länder wie Bosnien und Mazedonien. Serbien, dessen zwei Regionen Kosovo und Vojvodina weitgehende Autonomie gewährt wurde, fühlte sich politisch amputiert, als eine wachsende Zahl Serben den Kosovo verließ.

Neben diesen Schwierigkeiten lebte die Diskussion über das historische Trauma des Landes wieder auf: Bücher und Theaterstücke, die das – unter Tito tabuisierte – Geschehen während der deutschen Besatzung thematisierten, wurden wieder veröffentlicht. Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor Jugoslawien dann fast über Nacht seine privilegierte Position gegenüber westlichen Kreditgebern und in der Sicherheitspolitik. Mit einem Mal war Jugoslawien zu einem beliebigen Balkanland mit wirtschaftlichen und politischen Problemen degradiert. Nach dem Kalten Krieg hatte das Land seine Rolle in der Welt ausgespielt. Slowenien und Kroatien nahmen dies zum Anlass, sich des störend gewordenen Dinosauriers des Kalten Krieges zu entledigen, um eine Zukunft in der Europäischen Gemeinschaft anzustreben. 3

Jugoslawien ist überall

Im Vergleich zu Großbritannien werden genau diese schleichende Erosion des Zentralstaates und der Gnadenstoß des endenden Kalten Krieges interessant. Nicht weitverbreiteter Nationalismus, sondern eine allmähliche Schwächung des Zentralstaates rief den Zusammenbruch hervor. Zwar fokussierte sich die Weltöffentlichkeit auf Jugoslawien, als dort die blutigen Bürgerkriege stattfanden, es war aber nicht der einzige europäische Staat, in dem der Zentralstaat erodierte. Das Ende des Kalten Krieges führte zu Auflösungserscheinungen in anderen europäischen Ländern, deren jeweiliges nationales Projekt nicht mehr auf das Interesse und die Loyalität ihrer Bürger zählen konnte. Dazu zählen Staaten wie Italien, Spanien oder Belgien. Wie Zaki Laïdi zu Recht betont, schien sich mit dem Ende des Kalten Krieges und dem damit zusammenhängenden Verschwinden eines gemeinsamen Feindes die Sinnstiftung vieler Nationen erschöpft zu haben. Westliche Staaten gerieten in eine Existenzkrise: Ohne die verbindende Erzählung des Kalten Krieges mussten sie nun ihre Existenzberechtigung aus sich selbst heraus finden.

„Die separatistischen Bewegungen bedeuten nichts anderes als die Rückkehr zu provinziellen Identitäten, deren Hauptanliegen das Hochlebenlassen von Volkstänzen zu sein scheint“

Genau dieser Trend spitzt sich heute in Spanien, Italien, Großbritannien und anderen Ländern zu. Obwohl führende Politiker versuchen, sie mit aufregenden, neuen, innovativen Vokabeln zu schmücken, markieren diese separatistischen Bewegungen das Ende und nicht den Anfang von etwas Neuem. Diese Bewegungen bedeuten nichts anderes als die Rückkehr zu provinziellen Identitäten, deren Hauptanliegen das Hochlebenlassen von Volkstänzen und regionalen Kunstprojekten zu sein scheint. Dabei ziehen die umtriebigen Separatisten die Kraft für ihre Unabhängigkeitsphantasien aus der Erschöpfung nationalstaatlicher Visionen und die Unfähigkeit der nationalstaatlichen Eliten, sich für eine nationale Idee einzusetzen. Beim schottisches Referendum zeigte sich dies ganz deutlich am Versagen des britischen Establishments, den Unabhängigkeitsträumen der Scottish National Party (SNP) eine positive Vision entgegenzustellen.

Kosmopoliten gegen Nationalisten

Der jugoslawische Konflikt hatte in Wahrheit viel banalere Ursachen als die populären Nazivergleiche suggerieren. Im Wesentlichen war es der Verfall eines Landes in Form mehrere Einzelkonflikte. Es ging immer darum, wem welches Land gehört und wohin welche Bürger. Der Zusammenbruch des bestehenden Föderalstaates gestaltete sich kompliziert. Jugoslawien bestand aus einem komplexen System von sich überlappenden politischen Rechten und Teilstaatszugehörigkeiten. Ganz abgesehen von der unheilbaren Wirtschaft, die in Schulden versunken war. Darüber hinaus wünschten Minderheiten – Serben in Kroatien und Serben und Kroaten in Bosnien – im Falle einer Aufsplitterung im Hauptstaat zu bleiben.   

Der Krieg war nicht unvermeidbar, aber was das Land letztlich in den Konflikt trieb, waren die Einflüsse von außen. Nach der gängigen Auffassung griff die internationale Gemeinschaft zu wenig und zu spät ein. In Wahrheit aber spielte die internationale Gemeinschaft (insbesondere die EG) von Anfang an eine Hauptrolle. Die internationale Gemeinschaft verweigerte sich schlich der Einsicht, dass das Aufbrechen eines bestehenden Föderalstaates entlang der föderativen Grenzen echte materielle und politische Probleme bzw. Auseinandersetzungen hervorrufen konnte. Alle Beschlüsse, Richtlinien und Pläne der EG zu Jugoslawien – von EP-Resolutionen im Jahr 1990 bis zur Badinter-Kommission – gingen davon aus, dass nur Menschen- und Minderheitenrechte auf dem Spiel standen.

„Die staatliche Souveränität erwies sich als Hindernis auf dem Weg zur schönen, neuen, kosmopolitischen Welt.“

Die eingangs erwähnte Frage Kaldors fasst die kosmopolitischen Ansichten über Jugoslawien gut zusammen. Das Hauptproblem wurde einfach ignoriert. Kiro Gligorov, der erste Präsident des unabhängigen Mazedoniens, machte daraus angeblich einen Witz: „Warum sollte ich eine Minderheit in deinem Land sein, wenn du eine Minderheit in meinem sein kannst?“
 
Die Serben begingen den Fehler, das Ende des Kalten Krieges zu unterschätzen. Vorher war den Kampf für die Aufrechterhaltung eines Staates unproblematisch. Aber die oben diskutierte Erosion des Nationalstaates kann nur vor dem Hintergrund des Denkens von Eliten verstanden werden, die die Idee des Staates überhaupt aufgaben. Nach dem Kalten Krieg wurde im UN-Sicherheitsrat und in politischen Stellungsnahmen einflussreicher Länder behauptet, dass ‚die schlechten, alten Zeiten‘ der staatlichen Souveränität der Vergangenheit angehörten. Mit dem UN-Friedensplan 4 begann eine neue Ära, in der es auf kosmopolitische Rechte für alle ankommt. In diesem Kontext erwies sich die staatliche Souveränität als Hindernis auf dem Weg zur schönen, neuen, kosmopolitischen Welt.

Vermeintlicher Nationalismus wurde zur größten Todsünde. Serben, wie heute Israelis, galten als atavistische Fahnenträger der ‚schlechten alten Zeit‘. Natürlich verbanden auch die slowenischen, kroatischen und muslimischen Eliten mit der Vorstellung, in der EG die beste Zukunftsaussichten vorzufinden, eine Art nationales Projekt. Das allerstärkste nationale Projekt überhaupt verfolgten die bosnischen Muslime mit der Bildung eines unabhängigen bosnischen Staates gegen die Totalopposition von bosnischen Serben und Kroaten. Und zwar angeblich im Namen der Menschenrechte und des Multikulturalismus. Paradoxerweise war aber Jugoslawien der eigentliche multikulturelle Staat. 

„Die Spaltung einer Nation ist nicht so einfach wie ein Umzug mit neuer Postleitzahl.“

Die jüngst erfolgte Volksabstimmung über die schottische Unabhängigkeit und die Debatten darüber führen den im Kern elitären und verlogenen Charakter des kosmopolitischen Diskurses unserer Zeit vor. Warum sollten sich Schotten oder Bürger im restlichen Großbritannien für die Grenzen ihres Landes interessieren? Aber die Leute interessieren sich – und zwar zu Recht. Die Spaltung einer Nation ist nicht so einfach wie ein Umzug mit neuer Postleitzahl. Die Nein-zur-Unabhängigkeit-Kampagne wurde dafür kritisiert, sich in ihrer Argumentation für die Union zu sehr auf die Wirtschaft beschränkt zu haben. Aber selbst der verengte ökonomische Blick (der die möglichen wirtschaftlichen Probleme eher unterschätzt hat) lässt die beträchtlichen Konsequenzen der Auflösung einer wirtschaftlich und politisch einheitlichen Nation offensichtlich werden.

Gewiss besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem aktuellen Verfall der europäischen Staaten und dem Zusammenbruch Jugoslawiens. In der Diskussion über ihre eigenen Länder würden die westlichen politischen Eliten – zum Beispiel in Großbritannien oder in Spanien – nie behaupten, dass das Fortbestehen ihrer gegenwärtigen Staaten irrelevant sei (was auch immer sie in Wahrheit darüber denken). Aber im Falle Jugoslawiens war ihnen dies völlig egal.

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