01.05.2006

„Muslimische Identität“ und das explosive Vermächtnis des Multikulturalismus

Kommentar von Julian Namé

Julian Namé über öffentlich akzeptierte und nicht akzeptierte Identitäten.

„Die Darstellung des Propheten Mohammed in der Hölle ist eine barbarische Beleidigung des islamischen Glaubens, noch schlimmer als die ‚Satanischen Verse‘ von Salman Rushdie.“


Nein, dies ist kein weiterer provokativer Kommentar über das Spektakel um die dänischen Mohammed-Karikaturen. Das obige Zitat stammt aus dem Jahr 2001, als Adel Smith, Präsident der Moslemischen Union Italiens, zur Zerstörung eines kostbaren spätmittelalterlichen Freskos in der San-Petronio-Basilika in Bologna aufrief. Das von Giovanni da Modena gemalte Fresko zeigt den nackten Mohammed, der in der Hölle von Dämonen gefoltert wird. Obwohl das Kunstwerk nicht zerstört wurde, sorgte Smith mit seiner Bemerkung für Spannungen zwischen den in Italien lebenden Christen und Moslems. [1] Dieses Beispiel verdeutlicht, wie sinnlos es ist, den Streit um die Mohammed-Karikaturen damit erklären zu wollen, dass etwas im Staate Dänemark faul sei. Die Kontroverse ist ein Problem von größerer, europaweiter Dimension. Wie ist dieses „dänische“ Drama zu verstehen?


Nelly van Doorn-Harder, Professorin der Theologie an der US-amerikanischen Valparaiso University, kommt zu einem interessanten Schluss. Sie schreibt: „Die Diskussion konzentriert sich zu sehr auf die muslimische Perspektive und die sich hieraus ergebende Empfindlichkeit. Nur wenige Menschen verstehen, dass die Angelegenheit ihren Ursprung in der Führungskrise der muslimischen Gemeinden in Europa hat. Hier kämpfen radikale Imame um religiösen Einfluss (…) Moslems, die eine neue Identität suchen, werden zum Spielball radikaler muslimischer Gruppen. Der Karikaturenkrieg, der eigentlich auf Dänemark hätte begrenzt werden können, wurde zu einer internationalen Episode.“ [2]
Doorn-Harders Ansatz ist interessant, lässt aber viele Fragen offen. Dass Imame ständig versuchen, ihre religiöse Autorität zu stärken sowie die Zahl ihrer Anhänger zu erhöhen, kann nicht überraschen. Erstaunlich ist jedoch, dass die Führer der muslimischen Gemeinden in Europa, wie Adel Smith in Italien oder Abu-Laban in Dänemark, glauben, sie könnten ihren religiösen und moralischen Einfluss innerhalb der ganzen Gesellschaft durch die Polarisierung der öffentlichen Meinung in der Identitätsfrage stärken. Warum fühlen sich die Führer der muslimischen Gemeinden in Europa zu diesem Schritt gedrängt? Ein neues Buch, das gerade erst ins Deutsche übersetzt wurde, versucht, diese Frage zu beantworten. Das Buch von Jytte Klausen trägt den Titel Europas muslimische Eliten: Wer sie sind und was sie wollen und basiert auf Recherchen und 300 detaillierten Interviews. In den vergangenen fünf Jahren befragte sie ausgewählte muslimische Führungspersönlichkeiten wie Parlamentsabgeordnete, Stadträte, Ärzte und Ingenieure, Professoren, Anwälte und Sozialarbeiter, kleine Unternehmer, Übersetzer und Aktivisten aus muslimischen Gemeinschaften in Schweden, Dänemark, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und Deutschland.


Die Autorin schreibt in einem klaren und prägnanten Stil und gelangt schnell zu ihrer Kernaussage: „Mein signifikantester Befund ist, dass die gegenwärtige politische Elite – gewählte Vertreter mit muslimischem Hintergrund sowie Leiter muslimischer Vereinigungen und Gruppen – aus Immigranten besteht. Dabei handelt es sich in der Regel nicht um die Nachkommen von Arbeitsmigranten, die durch Akkulturation an europäische Normen und Sprachen in die Führungsetagen der Politik aufgestiegen sind. Einigen ist dies zwar gelungen, aber die meisten sind als junge Erwachsene gekommen – als politisch erfahrene Aktivisten, als Studenten, die einen europäischen Hochschulabschluss anstreben, oder als politisch verfolgte Flüchtlinge.“
Dies ist in der Tat ein sehr neuer Aspekt. Klausens Ergebnisse zeigen, dass drei Viertel der heutigen muslimischen Führungspersönlichkeiten in Europa Einwanderer der ersten Generation sind. Dies widerspricht dem verbreiteten Glauben, diese Personen seien aus europäischen Bildungsprogrammen bzw. dem europäischen System der Wohlfahrtsstaaten hervorgegangen. Die Autorin betont ferner, dass die meisten von ihnen aus Mittelklassefamilien stammen und ihr politisches Engagement in Europa auf vorhergehenden Erfahrungen und somit auf grundlegenden Kontinuitäten aufbaut.


Klausen richtet ihren Blick auf die politischen und sozialen Aktivitäten dieser Führungspersonen. Sie betont, dass die meisten von ihnen bereits in den 80er- und 90er-Jahren in europäischen Gruppenstrukturen, in Vereinen und Räten, organisiert waren. Die Strategie dieser Organisationen war es, die Zusammenarbeit aller muslimischen Gruppierungen innerhalb neuer nationaler Dachverbände zu stärken. Die zumeist nationalen Verbände nahmen je nach den spezifischen legalen, religiösen, sozialen und kulturellen Bedingungen im jeweiligen europäischen Land unterschiedliche organisatorische Formen an. Sie wurden wie im Falle des Muslim Council in Großbritannien (MCB, gegründet 1996) entweder ehemaligen Räten beziehungsweise religiösen Vereinen nachempfunden, oder es handelt sich um Dachverbände verschiedener Vereine, wie im Falle des Conseil Français du Culte Musulman (CFCM, gegründet 2002).
 

„Eine ‚muslimische Identität‘ kann heutzutage soziale Anerkennung, moralische Autorität und sogar bestimmte Privilegien mit sich bringen.“



Diese neuen muslimischen Organisationen sind etwas ganz anderes als die früheren Zuwandererorganisationen, die von Gastarbeitern in den 60er- und 70er-Jahren gegründet wurden. Klausen schreibt: „Die Entwicklung von glaubensbasierten Dachverbänden oder Räten auf nationaler Ebene ist ein neues Phänomen. Der zentrale Unterschied zu existierenden Organisationen besteht in der Ausrichtung der neuen Verbände auf nationale politische Partizipation und ihre integrativen Bemühungen. Allerdings lässt sich auch ein psychologischer Unterschied feststellen. Die Wahrnehmung, dass ‚uns auch Rechte zustehen‘, ersetzt die bescheideneren Erwartungen der frühen Zuwanderergruppen.“
Die Organisationen spiegeln eine neue Form des Selbstbewusstseins wider. Dies wird vor allem in einem Interview deutlich, das die Autorin mit Nadeem Elyas führte, dem Präsidenten des Zentralrates der Muslime in Deutschland (ZMD, gegründet 1994). Elyas beschrieb, wie muslimische Einwanderer in den 90er-Jahren „ein neues Selbstverständnis“ entwickelten: „Wir möchten unsere Identität als Muslime in Deutschland, als deutsche Muslime, bewahren… Die Gesellschaft kann uns nicht vorschreiben, welche Teile des Islams akzeptabel sind und welche nicht. Dieser Schritt muss von uns kommen.“ [3] Moslem zu sein, bedeutet für Elyas demnach, das Recht auf eine muslimische Identität zu haben. Aus diesem Grund nennt sich selbst Ayaan Hirsi Ali, die den kontroversen zehnminütigen Film „Submission“ gemeinsam mit dem mittlerweile ermordeten Filmregisseur Theo van Gogh drehte, eine „ex-moslemische Moslemin“. Eine „muslimische Identität“ kann heutzutage soziale Anerkennung, moralische Autorität und sogar bestimmte Privilegien mit sich bringen. Damit hat sich die Situation im Vergleich zu früher deutlich verändert, und es stellt sich die Frage, wie es zu einer solchen Veränderung kommen konnte.


Wichtig für die Beantwortung dieser Frage ist die Erkenntnis, dass all diese neuen nationalen muslimischen Organisationen noch vor 1990 gegründet wurden – also in einer Zeit, als der Multikulturalismus einen großen Aufschwung erlebte. Viele multikulturelle Organisationen unterstützten die Gründung muslimischer Organisationen und bestärkten sie darin, ihre Ansprüche innerhalb des multikulturellen Gefüges zu formulieren. Wie sich die muslimische Gemeinde selber definierte, hatte demnach tief greifende politische Implikationen. Gelang es den Organisationen, ihre Identität mit den Grundsätzen des Multikulturalismus in Einklang zu bringen, konnten sie sich Respekt, soziale Anerkennung und mit etwas Glück sogar staatliche Fördermittel sichern. Bei Nichtanpassung begegnete man ihnen hingegen mit Missbilligung oder Verachtung, und sie liefen Gefahr, ausgegrenzt zu werden. Aus diesem Grunde war die Vorstellung davon, was unter muslimischer Identität zu verstehen sei, ständigen Veränderungen unterworfen. Die Frage der Identität war stets verhandelbar.


Was auf den ersten Blick wie ein moralischer Gegensatz erscheint, entpuppt sich in Wahrheit lediglich als eine Unterscheidung aufgrund verschiedener Umstände. Es gibt keinen wirklich substanziellen Unterschied zwischen der Identitätskonstruktion eines militanten Moslems und der Identitätskonstruktion eines auf Verständigung und Versöhnung hinarbeitenden Moslems. Der Unterschied zwischen beiden liegt lediglich darin, dass die Gesellschaft die eine Form akzeptiert und die andere nicht. Mit anderen Worten: Die Art, in der militante Moslems wie Abu-Laban und Adel Smith oder etablierte Moslems wie Nasser Khader (Mitglied des dänischen Parlaments) oder Tariq Ramadan (ein führender muslimischer Philosoph) mit dem Begriff „muslimische Identität“ umgehen, ist nicht wirklich gegensätzlich. Beide Seiten spielen dasselbe Spiel. Der Ursprung dieses Spiels liegt in der Politik des die Konstruktion separater Identitäten bestärkenden Multikulturalismus, die Europa seit den 90er-Jahren entscheidend geprägt hat.


Dies erklärt noch nicht, weshalb die Veröffentlichung von zwölf Mohammed-Karikaturen im September 2005 in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten vier Monate später zu einer internationalen Krise eskalieren konnte. Rückblickend ist festzustellen, dass die Reaktionen im Mittleren Osten, Nordafrika und Indonesien stark manipuliert waren. 4 In Gaza griffen Mitglieder der Fatah-Bewegung, die die Wahl in Palästina verloren hatte, die Vertretungen der EU an, um die Hamas in Verlegenheit zu bringen. Im Libanon nutzten anti-syrische Politiker die Krise, um Damaskus zu beschuldigen, zum Brandanschlag auf die dänische Botschaft in Beirut aufgerufen zu haben. In Nigeria gerieten die Angriffe auf die christliche Minderheit im Norden des Landes sowie die Instabilität im Niger-Delta zum Symbol für das Versagen der politischen Elite des Landes.


Ein Aspekt verbindet jedoch all diese Konflikte: Sie sind Ausdruck einer im Mittleren Osten und Nordafrika weit verbreiteten Frustration sowie eines unterschwelligen Gefühls, Opfer zu sein. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Niedergang nationaler Befreiungsbewegungen kämpfen militante Moslems und Säkularisten nicht mehr gegeneinander, sondern verbünden sich auf neue Art und Weise unter dem Deckmantel nationalistischer Gefühle. Indem sie diese Art des Opferdaseins förderten, konnten Regierungen die Frustrationen der Bevölkerung besser steuern und sie somit gegen äußere Feinde in Stellung bringen.


Welche Schlussfolgerungen können wir aus alledem ziehen? Im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung ist die Tatsache, dass militante Moslems ihre Forderungen nach sozialer Anerkennung mit ihrer Identität begründen, kein Beleg für die Existenz von „Parallelgesellschaften“, sondern veranschaulicht vielmehr, wie sehr sie in unserem Zeitgeist verankert sind. Zudem wird deutlich, dass die Polarisierung der öffentlichen Debatte zur Frage der „muslimischen Identität“ zwangsläufig zu mehr Misstrauen zwischen Moslems und dem Rest der Gesellschaft führt. Dies wird eine offene und kritische Debatte weiter beeinträchtigen.

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