03.05.2013

Missbrauch: Gefangen im ewigen Teufelskreis?

Von Frank Furedi

Müssen die Opfer von Kindesmissbrauch zwangsläufig ihr ganzes Leben lang unter den Folgen dieses Verbrechens leiden, fragt der Soziologe Frank Furedi. Laut Forschung nicht, aber die fatalistischen Vorurteile über Pädophilie erschweren eine differenzierte und nüchterne Debatte.

Bereits die Art und Weise, wie über Missbrauchsskandale berichtet wird – hochdramatisch und emotional aufgeladen – fordert uns regelrecht dazu heraus, nicht teilnahmslos zu bleiben. Dies konnte man Anfang des Jahres in England verfolgen, als nach dem Tod des ehemaligen BBC- und Top-of-the-Pops-Moderators Jimmy Savile zahllose Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs in der Öffentlichkeit laut wurden. Oder im deutschsprachigen Raum zuletzt im Zusammenhang mit dem Missbrauchsfall des sogenannten „Inzestvaters“ Josef Fritzl, der seine Tochter Elisabeth jahrzehntelang in einem Kellerverlies gefangen hielt und vergewaltigte. Die Darstellungsweise solcher Missbrauchsfälle führt zu der Vorstellung, dass sich der durch Kindesmissbrauch entstandene Schaden komplett von allen anderen Formen des Leidens unterscheidet. Metaphern wie „gezeichnet fürs Leben“ oder „lebenslang geschädigt“ drücken die Meinung aus, dass Missbrauchsopfer buchstäblich zu einer lebenslangen Strafe schmerzvollen Leidens verurteilt wären. Die ständig wiederholte Behauptung, dass ein einziger Akt des Missbrauchs lebenslange Konsequenzen haben könnte, wird selten hinterfragt.

„ Eine moralische Verurteilung sollte nicht mit einer medizinischen Diagnose verwechselt werden“

Dennoch sind die Auswirkungen von Missbrauch auf Kinder oder Erwachsene alles andere als harmlos. Traumatische Erlebnisse psychischer Art unterscheiden sich von physischen darin, wie die Einzelnen auf so einen Schmerz reagieren. Der Weg, den sie wählen, um damit umzugehen, beeinflusst wesentlich die Schwere des emotionalen Schadens. Und diese Reaktionen werden unvermeidlich vom vorherrschenden Bedeutungs- und Wertesystem unserer Gesellschaft vermittelt. Kulturelle und gesellschaftliche Kontexte beeinflussen unsere Erwartung darüber, wie wir mit einem schmerzvollen Trauma umgehen sollen. Die Art und Weise, wie Missbrauchsfolgen in der Gesellschaft diskutiert werden, hat eine signifikante Auswirkung darauf, wie sie der Einzelne verarbeitet.

Seit den achtziger Jahren zielten fast alle Forschungen zu Kindesmissbrauch darauf ab, den Grad des erlittenen Schadens zu ermitteln. Andere Auswirkungen sowie die Frage, warum manche Kinder scheinbar besser mit dem Schmerz umgehen können als andere, wurden daher kaum untersucht. Forscher und Psychologen, die die vorherrschende Meinung über Kindesmissbrauch in Frage stellten, wurden teilweise wie Angehörige der indischen Kaste der „Unberührbaren“ behandelt. Dies geschah auch 1999, als das US-Repräsentantenhaus eine Resolution verabschiedete, die eine Untersuchung in einer Fachzeitschrift teilweise verurteilte, in der die Langzeitschäden durch Kindesmissbrauch in Frage gestellt wurden.

Gegenstand der Resolution war ein Artikel von Bruce Rind, Philip Tromovitch und Robert Bauserman. Die drei Psychologen hinterfragten einige Behauptungen über sexuellen Kindesmissbrauch, besonders die, dass die Menschen psychologisch fürs Leben gezeichnet wären. Zur Strafe wurden sie von der amerikanischen Christlichen Koalition und von republikanischen Moralaposteln attackiert. Die American Psychological Association (APA), deren Zeitschrift den Artikel von Rind, Tromovitch und Bauserman veröffentlichte, kam ebenfalls unter Beschuss. Unter diesem massiven Druck ging die APA in die Defensive und kündigte an, dass in Zukunft alle Beiträge zu sensiblen Themen sorgsamer auf „Beeinträchtigung öffentlicher Interessen“ geprüft werden sollten.

Die üble Kampagne gegen die Studie beanstandete vor allem, dass die Akademiker den Konsens in Frage stellten, Kindesmissbrauch führe direkt zu psychologischen Langzeitstörungen. Sie folgerten, dass Missbrauch sich ganz unterschiedlich auf das Leben der Menschen auswirkt und „wesentlich mehr Frauen als Männer unter diesen Erlebnissen leiden“. Laut Sozialpsychologin Carol Tavris lässt die Studie ermessen, welche Faktoren manche Menschen widerstandsfähig macht, während andere ein Trauma erleiden. Sie schrieb „Wir müssen verstehen, was die meisten Leute unempfindlich macht und wie man denen helfen kann, die es nicht sind.“ [1]

Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass viele Gemeinplätze über die Auswirkungen von Missbrauch eher durch moralischen Abscheu als durch nüchterne Forschung zustande kommen. Natürlich ist es völlig legitim, ein Verhalten moralisch zu verurteilen, das in der Gesellschaft als böse gilt. Aber moralische Verurteilung sollte weder mit einer medizinischen Diagnose verwechselt werden, noch ist es eine Alternative zu Untersuchungen und dem Erkenntnisgewinn über die Sache an sich. Wir tun denen, die unter der Gewalt erwachsener Straftäter gelitten haben, keinen Gefallen, wenn wir sie auf der Verlustseite eines moralischen Dramas verbuchen.

Nicht bloß Opfer

Die Diagnose, dass Kindesmissbrauch psychologische Langzeitschäden hervorruft, wird geprägt von den aktuellen Theorien über einen „Missbrauchsteufelskeis“. Dieses Modell, das besagt, dass es eine intergenerationelle Weitergabe von Gewalt gibt, ist das unumstrittenste Thema der aktuellen Literatur über familiäre Gewalt. Die Befürworter dieser These sehen Missbrauch als generationenübergreifendes Leiden an. Die Täter wurden selbst in der Kindheit missbraucht, und in der Zukunft werden ihre Opfer dann ebenfalls straffällig. Demzufolge endet Missbrauch nicht beim Opfer, er wird sich in zukünftigen Generationen fortsetzten.

Theorien über Missbrauchsteufelskreise geben eine streng fatalistische Betrachtung des Menschen und seines Befindens wieder. Tatsachlich spricht der weit verbreitete Einfluss dieser Theorien Bände über die pessimistische Sicht der heutigen Gesellschaft auf das menschliche Potential. Zu keiner Zeit seit dem Aufkommen der Modernität wurde die Freiheit und Selbstkontrolle menschlichen Handelns so stark in Abrede gestellt wie heute. Das Missbrauchsmodell fußt auf dem Glauben, dass menschliches Handeln von mächtigen unkontrollierbaren Kräften vorherbestimmt und konditioniert ist. Diese fatalistische Weltsicht basiert auf der Vorstellung, dass ein psychologisches Trauma in der frühen Kindheit das Handeln und Verhalten einer Person für den Rest seines oder ihres Lebens formt.

Die Bedeutung, die heutzutage der Kindheit und sogar vorkindlichen Erfahrungen beigemessen wird, von denen man behauptet, sie wären grundlegend charakterformend, enthüllt eine höchst deterministische Einstellung zur Menschheit. Sie besagt, dass unsere erwachsene Existenz durch die Kindheitserfahrung vorherbestimmt ist. Anscheinend verblassen die vielen Erfahrungen, die wir als Erwachsene machen, bis zur Bedeutungslosigkeit, sobald sie mit einem Missbrauchsakt verglichen werden, den wir als Kind erlebt haben. Wie in der griechischen Tragödie erfüllen wir im Laufe unseres Lebens lediglich unser Schicksal. Die Leute werden ermutigt, sich als Opfer des Familienlebens zu betrachten, anstatt als selbstbestimmt Handelnde. Dieser Verzicht auf Selbstbestimmung bedeutet einen dramatischen Rückschritt bei der Einordnung eines Erwachsenen. Er fördert ein schwaches oder vermindertes Erwachsenen-Selbst, das sich ausdrücklich von vielen historisch idealisierten Eigenschaften des Erwachsenseins abgewendet hat: moralische Autonomie, Reife, Verantwortlichkeit.

Die fatalistische Vorstellung, dass die Auswirkungen von Kindesmissbrauch unumkehrbar seien, hat den Status einer religiösen Wahrheit erreicht. Wer diese Vorstellung anzweifelt, riskiert es, als Ketzer beschuldigt zu werden. Und dennoch sollte die These vom Missbrauchsteufelskreis gründlich untersucht werden. Die Ansicht, dass Gewalt wieder Gewalt hervorbringt, basiert auf rückwärtsgerichteten Studien. Solche Studien beruhen oft auf dem Vergleich von aggressiven und nicht aggressiven Heranwachsenden und Männern, um zu untersuchen, ob die Aggressiven häufiger in der Jugend missbraucht wurden. Hier stellt sich etwa die Frage, welchen Status oder welche Autorität wir den Erinnerungen von Leuten beimessen sollten – letztendlich ist das, woran sich Menschen erinnern und wie sie sich erinnern, sehr oft von ihrer aktuellen Lage beeinflusst.

Missbrauch führt zu Missbrauch?

Eine weitere fundamentale Schwäche der Theorien vom Missbrauchsteufelskreis ist der Zusammenhang, der zwischen Missbrauch in der Kindheit und späteren Missbrauchshandlungen hergestellt wird. Ist es eine direkte Kausalbeziehung? War das Erleben von Gewalt in der Jugend wirklich die Ursache für nachfolgendes gewalttätiges Verhalten als Erwachsener oder haben andere Einflüsse dieses Verhalten geformt? Willkürlich eine Variable – den Missbrauch in der Kindheit – herauszugreifen und eine direkte Beziehung zwischen diesem und zukünftigen Missbrauchshandlungen herzustellen, heißt, zahllose gesellschaftliche Phänomenen zu ignorieren, die das menschliche Verhalten beeinflussen. Längsschnittstudien zu den Folgen von Kindesmissbrauch von Joan Kaufman und Edward Zigler zeigen, dass mehr als 70% aller missbrauchten Kinder das Verhalten als Erwachsene keineswegs wiederholen und die eigenen Nachkommen keineswegs misshandeln. „Das ist also eher kein unvermeidlicher Teufelskreis“, kommentierte Carol Tavris. [2]

Es spielt keine Rolle, dass die These vom Missbrauchsteufelskreis weitestgehend auf Spekulation statt auf empirischer Forschung aufbaut. Die Studie „Politics of memory“ von Ian Hacking stellt fest, dass in den ersten Zeitungsartikeln zu diesem Thema klar von einer ungeprüfte Vermutung eines Missbrauchsteufelskreises geschrieben wurde. [3]  Aber bald wurde die platte Behauptung „Missbrauch in der Kindheit führt zu Missbrauch als Erwachsener“ zu einer anerkannten Weisheit. Die schleichende Verwandlung einer spekulativen Meinung in eine „wissenschaftliche Wahrheit“ war zunehmend von dem unhinterfragten Glauben daran durchdrungen, dass die Kindheitserfahrung den Erwachsenen formt. Hacking vermutet außerdem, dass die These vom Missbrauchsteufelskreis durch den Opportunismus missbrauchender Eltern verstärkt wurde, die „zugeben, als Kind missbraucht worden zu sein“, weil „das ihr Verhalten erklärt und entschärft“. Aber vor allem ist es die gesellschaftliche Bestätigung der Theorie, dass psychische Schädigungen toxische Auswirkungen haben, die dazu beitrug, dass ein kulturelles Vorurteil zu einer kaum bezweifelten Wahrheit wurde.

Seit Hackings Studie aus dem Jahre 1995 hat sich die Überzeugung vom Vorhandensein eines Missbrauchsteufelskreises in der öffentlichen Meinung verfestigt. Wenn aber die Gesellschaft ein Vorurteil bereitwillig übernimmt, das sich als Forschung maskiert, verirrt sie sich unweigerlich. Zu viele vernünftige Menschen meinen, dass man dieses Vorurteil nicht in Frage stellen darf. Deshalb brauchen wir eine wirklich unvoreingenommene Diskussion über dieses schwierige Thema. Denn Klarheit über die Folgen von Missbrauch und seine verschiedenen Auswirkungen ist letztlich zum Besten derer, die ihn erlebt haben.

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