09.10.2013

Mindestlöhne: Die Scheindebatte geht weiter

Von Alexander Horn

Mindestlöhne taugen nicht zur Armutsbekämpfung. Die Politik muss sich um ein besseres Investitionsklima und Rahmenbedingungen für mehr Wirtschafts- wachstum sorgen. Dann können die Unternehmen gut bezahlte Jobs schaffen, meint Novo-Wirtschaftsressortleiter Alexander Horn.

Mit der Diskussion um die Regulierung der Lohnuntergrenzen sind inzwischen viele traurige Details über die in Deutschland üblichen Löhne aufgedeckt worden. In Brandenburg wurden die von einem Pizza-Service gezahlten Stundenlöhne von 1,59 bis 2,72 Euro sogar gerichtlich als sittenwidrig eingestuft. Friseure verdienten in Thüringen – das allerdings ganz legal – bis vor kurzem noch 3,81 Euro laut Tarifvertrag. Noch vor einem Jahr gab es in Deutschland viele Tarifverträge mit Einstiegslöhnen von weniger als 6,50 Euro, so zum Beispiel im Konditorhandwerk in Bayern (5,26 Euro) oder im Fleischerhandwerk in Sachsen (6 Euro). Diese Situation ist beschämend. Jeder sollte von seiner Arbeit vernünftig leben können.

Der wirkliche Skandal ist dennoch das seit Jahren andauernde politische Gerangel über die Einführung von Mindestlöhnen. Deren zu erwartende flächendeckende Einführung wird an der bitteren Realität extrem niedriger Verdienste für einen sehr großen Teil der Beschäftigten nichts ändern. Im Gegenteil: Die Diskussion ist vielmehr ein moralischer Blitzableiter, mit dem sich die Parteien ein „sozial gerechtes“ Image verschaffen und gleichzeitig einer Auseinandersetzung über die eigentlichen Ursachen des insgesamt niedrigen Lohnniveaus in Deutschland vermeiden können.

Kürzlich hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Kernargumente der Befürworter und der Gegner von Mindestlöhnen kritisch hinterfragt. [1] Dabei wurden neuere wissenschaftliche Forschungen sowie empirische Untersuchungen über die Auswirkungen der bereits eingeführten Mindestlöhne in verschiedenen Branchen berücksichtigt. Die behaupteten Arbeitsplatzverluste durch höhere Löhne sind demnach nicht eingetreten. Auch bei Einführung von Mindestlöhnen von 8,50 bis 10 Euro, die gegenwärtig diskutiert werden, erwarten die Wissenschaftler keinen nennenswerten Effekt. Gleiches gilt auch für die wesentlichen Argumente der Befürworter von Mindestlöhnen: Weder führen diese zu mehr sozialer Gerechtigkeit, noch tragen sie merklich zur Armutsbekämpfung bei. Die Bezieher von Niedriglöhnen würden einmal vor allem in Haushalten leben, die über weitere Einkünfte verfügen. Anderseits werden niedrige Löhne oft über Hartz IV aufgestockt. Das zeigt im Übrigen, dass die diskutierten Mindestlöhne kaum über den Regelsätzen für Hartz IV liegen und schon im Ansatz nicht geeignet sind, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Die Forscher kommen dementsprechend zu dem ernüchternden Fazit: „Ein Mindestlohn reduziert also weder signifikant die Armut noch die Einkommensunterschiede insgesamt, selbst wenn er hoch angesetzt wird.“ [2]

Der Tunnelblick, mit dem über die Niedriglöhne diskutiert wird, blendet die gesamtwirtschaftliche Lage vollkommen aus. Jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland verdient heute weniger als 9,54 Euro pro Stunde. [3] Immerhin ein Fünftel der Vollzeitbeschäftigten kommt nicht mal auf einen Brutto-Stundenlohn von 11,50 Euro. [4] Der Kreis derjenigen Arbeitnehmer, die auch ohne Mindestlohn selbst oder gar mit Familie kaum über die Runden kommen, ist viel größer als der Kreis derjenigen, die vermeintlich von Mindestlöhnen profitieren könnten. Das ist keine Überraschung, denn getrieben von der hohen Arbeitslosigkeit in den letzten beiden Jahrzehnten, stagnieren die Reallöhne in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre. Seit dem Jahr 2000 sind sie sogar um 1,8 Prozent gesunken. [5] Trotz der seit 2005 rückläufigen Arbeitslosigkeit sind immerhin noch drei Millionen Menschen arbeitslos, 3,8 Millionen gelten als unterbeschäftigt. Seit drei Jahren hat sich die Arbeitslosigkeit auf diesem Niveau eingependelt und inzwischen steigt sie wieder. In einigen ostdeutschen Bundesländern und in Bremen sind noch immer mehr als zehn Prozent der Menschen ohne Job.

„Alle Kontrahenten in der Mindestlohndiskussion verschließen die Augen vor der Tatsache, dass Niedriglöhne vor allem das Ergebnis der gesamtwirtschaftlichen Situation sind.“

Alle Kontrahenten in der Mindestlohndiskussion verschließen die Augen vor der Tatsache, dass Niedriglöhne vor allem das Ergebnis der gesamtwirtschaftlichen Situation sind – also konkret: der geringen Wachstumsraten der letzten beiden Jahrzehnte hierzulande. Seit der Wiedervereinigung ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) durchschnittlich nur um magere 1,5 Prozent jährlich gestiegen. Das hat längst nicht gereicht, um für die in den ostdeutschen Bundesländern verlorengegangen Jobs Ersatz durch neue Arbeitsplätze zu schaffen. Angesichts der extrem hohen Arbeitslosigkeit wurde Anfang des Jahrtausends unter staatlicher Federführung mit der Agenda 2010 der Niedriglohnsektor in der heute noch bestehenden Form aufgebaut. Das Ziel bestand darin, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. [6]

Anstatt diese Gesamtsituation zu problematisieren, freuen sich gegenwärtig alle Parteien über die Stabilität der Wirtschaft, die sich trotz der Krise in Europa vergleichsweise erfolgreich durchwurstelt. Die relative Robustheit der deutschen Wirtschaft geht jedoch mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen einher. Erstens sind die insgesamt niedrigen Löhne in Deutschland die entscheidende Ursache für die relative Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Das gilt international, wie auch insbesondere im europäischen Kontext. Im Gegensatz zu den sinkenden Reallöhnen in Deutschland sind die Reallöhne in allen Euro-Ländern und im restlichen Europa in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich angestiegen. Der zweite entscheidende Faktor für die relative Wettbewerbsfähigkeit ist der im Vergleich zur früheren D-Mark wesentlich schwächere Euro. Wie sehr die deutsche Wirtschaft von einem niedrigen Wechselkurs gegenüber den Ländern außerhalb der Eurozone profitiert, zeigt sich im Vergleich zum Schweizer Franken. Vor der Einführung des Euro werteten D-Mark und Schweizer Franken gegenüber anderen Währungen in ähnlichem Maße auf. Das lag an der im internationalen Vergleich steigenden Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder. So hat der Schweizer Franken gegenüber dem US-Dollar diesen Trend bestätigt und hat seit Mitte der 1990er Jahre immerhin um 40 Prozent aufgewertet. Der Wert des Euro ist seit der Fixierung der Wechselkurse Mitte der 1990er-Jahre gegenüber dem US-Dollar weitgehend unverändert geblieben. Im Vergleich einer hypothetisch aufgewerteten D-Mark und dem tatsächlich jedoch viel niedrigen Euro-Kurs zeigt sich, dass letzterer für die deutsche Wirtschaft einen erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber allen Ländern außerhalb der Eurozone bedeutet. Der niedrig bewertete Euro und die niedrigen Löhne sind also die Grundlage, auf der sich die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren über Wasser gehalten hat.

Es ist inzwischen ein offenes, wenn auch von den politischen Parteien weitgehend ignoriertes Geheimnis, dass Deutschland von seiner wirtschaftlichen Substanz lebt. Zwar gibt es in Deutschland viele äußerst erfolgreiche Unternehmen, die sich als Weltmarktführer behaupten und auch mit wesentlich schwierigeren Rahmenbedingungen zurechtkommen würden. Das gilt jedoch nicht für die deutsche Wirtschaft insgesamt. Wesentlich für deren wirtschaftliche Substanz und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit sind die Unternehmensinvestitionen. Die Nettoinvestitionsquote, die ausdrückt wie viel die Unternehmen im Verhältnis zum BIP mehr investieren als abschreiben, ist in Deutschland schon seit den 1970er-Jahren rückläufig. Es wird also im Verhältnis zur gesamten Wirtschaftsleistung immer weniger investiert. Die Quote lag in den 1970ern noch bei zehn Prozent. Inzwischen taumelt sie in den negativen Bereich, – es wird also weniger reinvestiert als abgeschrieben.

Die Wirtschaft spricht diese Problematik inzwischen offen an. So ist für den BDI-Chef, Ulrich Grillo, der Anschub einer Investitionsoffensive eine der zentralen Aufgaben einer neuen Bundesregierung. So seien etwa die Bedingungen für energieintensive Betriebe mittlerweile dermaßen schlecht, dass die Reinvestitionen nur noch bei 85 Prozent der Abschreibungen liegen. Deutschland brauche „mehr öffentliche Investitionen und bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen“ [7] betonte er.

In diesem Sinn wäre der Politik dringend eine Horizonterweiterung zu empfehlen und die Scheindebatte über Mindestlöhne endlich zu beenden. Selbst die direkt betroffenen Arbeitnehmer werden, sofern sie durch die Einführung von Mindestlöhnen überhaupt höhere Haushaltseinkommen erreichen, nur dann nachhaltig profitieren wenn die insgesamt dürftige Lohnentwicklung umgedreht wird. Dazu fehlen in Deutschland aber offenbar seit längerem günstige Rahmenbedingungen, die die Unternehmen dazu bewegen würden stärker zu investieren und hierzulande für mehr Wachstum und gutbezahlte Jobs zu sorgen. Die Parteien sollten sich daher mit der Frage befassen, warum das so ist und welchen Anteil die Politik an dieser Entwicklung hat. Nur wenn die akute Investitionsschwäche überwunden wird, kann die Basis für insgesamt steigende Löhne geschaffen werden. Die Mindestlohndebatte lenkt von dieser simplen Realität ab und zielt auf eine technische Lösung für ein viel fundamentaleres Problem. Selbst wenn es nicht gelingen sollte, die Wettbewerbsfähigkeit über Investitionen zu gewährleisten, so würde der Mindestlohn doch nur eine oberflächliche Beruhigung des sozialen Gewissens leisten können – und den Lohnabhängigen hätte man damit lediglich einen Bärendienst erwiesen. Die Wirtschaft würde ihre Wettbewerbsfähigkeit dann auch weiterhin auf das niedrige Lohnniveau in Deutschland gründen müssen.

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