31.08.2010

Migration – Je mehr desto besser?

Von Sabine Beppler-Spahl

Was kann an einem geschriebenen Wort so gefährlich sein, dass sogar die Kanzlerin dem Bundesbanker vorwirft, er spalte die Gesellschaft?

Warum reden alle über das Buch von Thilo Sarrazin, ohne es gelesen zu haben? Was kann an einem geschriebenen Wort so gefährlich sein, dass sogar die Kanzlerin dem Bundesbanker vorwirft, er spalte die Gesellschaft?

„Ich analysiere einen Missstand, der Innovation in Deutschland behindert. Erst ganz spät im Buch komme ich auf das Thema Migration“, verteidigt sich Sarrazin in einem Interview der Welt am Sonntag (29.08.2010). Trotzdem: Die Vorveröffentlichung der ersten Kapitel lassen ahnen, dass es sich um ein zutiefst unbefriedigendes Werk handelt. Dem hohen Anspruch des Autors, Missständen „forschend“ nachzugehen und sie mit Hilfe harter Zahlen und Fakten zu analysieren, wird das Buch nicht gerecht. Die Folgerungen Sarrazins, dass Deutschlands Probleme durch muslimische Immigranten verursacht und verstärkt werden, klingt allzu einfach. Es ist das alte Lied, das Ausländer und Immigrantenfamilien für die sozialen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Probleme eines Landes verantwortlich macht.

Nehmen wir das von Sarrazin angesprochene Beispiel der Schule. Auch wenn nicht jeder Schulversager ausländische Wurzeln hat, so stimmt es sicher, dass überdurchschnittlich viele Berliner Schüler mit großen schulischen Problemen der von Sarrazin angesprochenen „muslimischen Herkunft“ zugeordnet werden können. Aber heißt dies, dass diese Kinder die Probleme des Schulsystems verursachen? Lassen sich die Schwierigkeiten, die Lehrer mit manchen Schülern (Sarrazins Frau ist Lehrerin) immer wieder haben, darauf zurückführen, dass diese Schüler einfach nicht anpassungs- oder ausbildungsfähig sind? Lässt sich hieraus gar eine genetische oder sonst wie angeborene Minderwertigkeit ablesen? Ich bitte Sie!

Die Wahrheit ist vielmehr, dass diese Kinder die ersten Opfer eines Schulsystems sind, das nicht weiß, für was es wirklich steht und in dem sich die Kultur der niedrigen Erwartungen seit langem breit gemacht hat. Auch ich beobachte an der Berliner „Brennpunktschule“ meiner Kinder ein ständiges Verwirrspiel darüber, was von Schülern zu erwarten ist, ob mehr oder weniger schulischer Druck das Richtige ist, ob bestimmte Werte wie Ehrgeiz oder Pünktlichkeit überhaupt vertreten und gefordert werden dürfen, ob das Lernen noch individueller sein sollte oder ob man wieder mehr Wert auf einen einheitlichen Lehrkanon setzen sollte, ob mehr Psychologen und Therapie oder mehr inhaltliche Förderung das Richtige ist usw. Das Ergebnis ist eine tiefe Verunsicherung von Lehrern, Eltern und Schülern, die sich negativ auf inhaltliche Standards auswirkt.

Sarrazins Thesen mögen besorgniserregend sein, aber die Forderungen seiner Gegner, die ihm mit Verboten und Ausschlüssen kontern, sind noch beängstigender. Dabei geht es nicht nur darum, dass es immer falsch und ein Zeichen inhaltlicher Schwäche ist, Debatten durch Verbote (gar Berufsverbote) zu unterbinden. Es geht darum, dass auch Sarrazins Gegner Immigration für ihre eigenen Zwecke missbrauchen. Immigration ist seit langem ein Thema, mit dem eine gut situierte bürgerliche Schicht ihre Toleranz und Abgrenzung gegenüber den „einfachen Menschen“ zur Schau stellt. Wer sich kosmopolitisch aufgeklärt gibt, wirbt für Multikulti als Lifestyle (aber natürlich nicht für wirklich offene Grenzen im politischen Sinne). Das hat dazu geführt, dass Immigration in den vergangenen Jahren zu einer Art „elitärer Debatte“ verkommen ist, bei der jeder Abweichler sofort als unaufgeklärter „Pleb“ abgestempelt wurde. Wenn überhaupt, hat dies die Gesellschaft gespalten. Aus Sicht derer, die, wie ich, für offene Grenzen eintreten, ist es an der Zeit, die Schwächen dieser Multikulti-Bewegung zu erkennen. Immigranten sind nicht für die sozialen Probleme in Deutschland verantwortlich, aber der Traum von der „Einheit in der Vielfalt“ kann eine ernsthafte Debatte darüber, wie wir leben wollen und welche Werte unsere Gesellschaft vertreten sollte, nicht ersetzen.

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