04.03.2015

Meinungsfreiheit: Hört auf zu heulen

Kommentar von Brendan O’Neill

Schwule schicken Schwulenaktivisten hasserfüllte Tweets, weil die sich für die Meinungsfreiheit einsetzen. Schuld daran ist die Vermischung des Politischen mit dem Privaten. Dadurch wird Kritik als persönlicher Angriff wahrgenommen, meint Brendan O’Neill

War je ein Mob von Meckerern leichter reizbar als der, der den bekannten Homosexuellenaktivisten Peter Tatchell kürzlich mit Hohn überschüttet hat? Auf Twitter, wo diese Menschen leben, bombardieren selbsterklärte Schwule und Transvestiten Tatchell, der als einer der wichtigsten Köpfe der britischen Lesben- und Schwulenbewegung des 20. Jahrhunderts gilt, mit Beleidigungen und sogar Todesdrohungen. Er hat über 40 Jahre auf der Straße allen Widrigkeiten zum Trotz für ihre Freiheit gekämpft, für eine Gesellschaft, in der sie frei leben und sprechen können. Und wie sieht ihr Dank aus? Sie fantasieren bei Twitter über seine Ermordung, weil er ein „scheiß Parasit“ sein soll.

Tatchells Verbrechen bestand in den Augen der politisch korrekten Gedankenpolizei darin, seine Unterschrift unter einen in der sozialliberalen britischen Zeitung Observer veröffentlichen Brief gesetzt zu haben. [1] Der Brief forderte mehr Meinungsfreiheit in englischen Universitäten. Mehrere Studentenvereinigungen hatten „hurenphoben“ (weil sie eine Abneigung gegenüber der Sexindustrie hegen) oder „transphoben“ (weil sie nicht glauben, dass Männer nach einer Geschlechtsoperation echte Frauen sind) Feministen an den Unis den Mund verboten. Daraufhin verurteilten die Verfasser des Briefes den Einsatz der sogenannten „No Platform“-Politik, „um die Äußerung feministischer Argumente zu verhindern“. Es sei „illiberal und undemokratisch“, Menschen den Mund zu verbieten, bloß weil man nicht ihrer Meinung ist.

Die Reaktion ist so ironisch, dass es wehtut. Transsexuelle Aktivisten und deren „Verbündete“ – Leute, die ihnen bei Twitter folgen – rasteten aus. Der Brief sei ein nicht hinnehmbarer Angriff auf ihre Gefühle. Sie verfolgten jeden, der ihn unterschrieben hatte. Sie brachten also ihre Wut über einen Brief, der sie illiberal nannte, zum Ausdruck, indem sie sich illiberal verhielten. Auf zwei Unterzeichner hatten sie es dabei besonders abgesehen: Die in Großbritannien durch zahlreiche TV- und Radioauftritte bekannte Althistorikerin Mary Beard, die sagte, dass sie sich von den Freiheits-Allergikern derart niedergemacht fühlte, dass sie zu Bett ging; und Tatchell, der mit 5000 Tweets bombardiert wurde. Viele davon waren Beleidigungen, einige waren Drohungen.

Wie lässt sich diese Schimpftirade gegen jemanden erklären, den ich als Großvater der Schwulenrechte beschreiben würde, müsste ich mir nicht um die Online-Beschimpfungswelle Sorgen machen, die ich für einen so geschlechtsspezifischen Titel ernten könnte? Warum sind die Menschen so schrecklich dünnhäutig? Ich glaube, das liegt an der Identitätspolitik. Ich denke, je mehr wir das Persönliche politisch machen, je stärker wir unseren gesellschaftlichen und politischen Standpunkt darüber definieren, was wir in der Hose haben oder welche Farbe unsere Haut hat, desto mehr erfahren wir jede Kritik unserer Ansichten als einen Angriff auf unsere Persönlichkeit, auf unsere Seele, unsere Daseinsberechtigung. Das Problem ist hier die beängstigende Verbindung des Biologischen mit dem Politischen, die Verknüpfung unseres zufälligen Geschlechts, unserer Ethnie oder Sexualität mit unserer politischen Identität. Das geschieht in einem Ausmaß, dass die Debatte an sich als eine Form des Hasses oder als eine „Phobie“ wahrgenommen wird.

„Sie sind wie Mönche, die einst mit dem Kruzifix die bösen Hexen verscheuchen wollten“

Die Identitätspolitik breitet sich aus. Sie füllt die Leere, die der Niedergang der klassischen Politik der Ideen hinterlassen hat. Selbst die Parlamentswahl scheint zu Festspielen der Identitätspolitik zu mutieren. Diese Politik ist eine weniger gewalttätige Form der auf ethnischen, religiösen oder kulturellen Unterschieden basierenden Politik, die wir naserümpfend in vielen Entwicklungsländern verurteilen. Politiker reden kaum noch von „der Wählerschaft“. Stattdessen ziehen sie es vor, ihre Botschaft je nach ethnischer Herkunft, Geschlecht und Generation ihres Publikums anzupassen. Der pinkfarbene Bus, mit dem die britische Labour-Partei gezielt Frauen ansprechen will, oder das Werben ihrer konservativen Konkurrenz um die „graue Stimme“ der Senioren machen das nur allzu offensichtlich. Das Ergebnis polarisiert implizit, denn es wird angedeutet, junge Menschen hätten andere Interessen als alte, Schwarze dächten anders als Weiße und Frauen seien eine eigene Wählergruppe.

Der größten Beliebtheit kann sich die Identitätspolitik bei der Jugend erfreuen, besonders an den Universitäten. Dort finden die gefürchteten Phrasen „als Frau“, „als ein schwuler Mann“, „als Muslim“ alltäglich Verwendung. Es ist schon so weit gekommen, dass manche Studenten darauf bestehen, eine Person solle immer zuerst nach ihrer bevorzugten geschlechtlichen Ansprache gefragt werden, denn sollte man die falsche benutzen – etwa einen Mann einen „er“ nennen, wenn „er“ sich tatsächlich als „sie“ versteht – würde das seine Persönlichkeit verletzten und er bräuchte eine monatelange Therapie. Die Identitätspolitik ist von Narzissmus und dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit geprägt. Sie fördert Selbstreflexion anstatt Solidarität mit anderen, Partikularismus statt Universalismus. 1979 beobachtete der große amerikanische Denker Christopher Lasch die Entstehung dieser neuen „narzisstischen Persönlichkeit“. Betroffene können „nicht ohne ein bewunderndes Publikum leben“. Dieses Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ist heute weit verbreitet. Man erkennt es an jeder Identitätssekte, die bedingungslose Akzeptanz für ihre Terminologie und Weltanschauung fordert. Wer ihre Ideen nicht respektiert, verletzt ihren Geist und ihren Körper.

Die Zensur ist bereits in der Identitätspolitik angelegt. Wenn politischer Aktivismus nicht von natürlichen Eigenschaften oder kultureller Identität unterschieden werden kann, fühlt sich jede Kritik des politischen Aktivismus unausweichlich wie ein Angriff auf einen selbst an. Deshalb wollen vor allem politisch aktive Studenten offene Debatten unbedingt verhindern, sich an „geschützten“ Orten verstecken und versuchen, alle vom Campus fern zu halten, die sie kritisieren. Sie sind wie Mönche, die einst mit dem Kruzifix die bösen Hexen verscheuchen wollten. Die Verwandlung ihrer Intimsphäre in etwas von öffentlichem Interesse, die Politisierung ihrer Körper und ihrer sexuellen Vorlieben bedeutet letztlich, dass sie keinerlei Kritik oder Spott ertragen können.

Es ist davon auszugehen, dass die Feministen, die sich in dem öffentlichen Brief gegen die „No Platform”-Politik wehren, möglicherweise sogar Tatchell selbst, mit ihrem alten Slogan „Das Persönliche ist politisch“ unabsichtlich dabei geholfen haben, diese tyrannische Zensur im Gewand der Identitätspolitik zu nähren. Aber egal. Tatchell war nämlich früher der Befreiungspolitik verpflichtet, die Schwule dazu ermutigte, sich zu outen, zu leben und sich zu beteiligen. Heute gibt es die Identitätspolitik, die Menschen dazu einlädt, zu Hause zu bleiben, den Blick nach innen zu richten, sich zwanghaft mit dem Körper und dem Selbst auseinanderzusetzen, sich mit einem moralischen Schutzschild zu umgeben, um ihre Weltanschauung – die nichts mit der Welt zu tun hat – vor Kritik zu schützen. Wir brauchen eine neue Befreiungspolitik. Eine, die das Persönliche vom Politischen befreit und Menschen ins Gedächtnis ruft, dass die politische Debatte kein tätlicher Angriff auf dein armes, weinendes Selbst ist – sondern einfach nur die politische Debatte.

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