01.09.1999

Mehrweg am Ende – Naturkost im Einwegkarton

Analyse von Gunnar Sohn

Der Projekt Mehrwegsystem läuft in diesem Jahr aus und hat keine Zukunft. Gunnar Sohn beschreibt, wie Naturkosthersteller vor zu hohen Kosten, schwieriger Logistik, neuen Umweltbelastungen und schließlich vor dem Verbraucher kapitulieren.

Rapunzel träumte vom Mehrweg. Genau wie die Zwergenwiese, der Ziegenhof oder der Rosengarten. Die verträumten Namen stehen für die wichtigsten bundesdeutschen Hersteller von Naturkost. Alle verkünden hehre Botschaften über ökologischen Landbau, gesunde Ernährung und umweltgerechten Konsum. So werden wir von den Rapunzels dieser Welt ermahnt, unsere Wurst im Supermarkt nur mit der berühmten Tupperware-Dose zu kaufen. Frühmorgens bringen wir artig die Backware im Jutebeutel nach Hause, um nicht Ärger mit den umweltbewegten Nachbarn zu bekommen. Daß Bioläden die ökologischen Erzeugnisse in Mehrweggläsern anbieten, gebietet der vorauseilende ökologische Gehorsam. Es müssen schon mephistophelische Mächte am Werk sein, die in der Naturkostbranche das Ende der Mehrwegherrlichkeit kolportieren.

“Der ökologische Anspruch und das gute Gewissen müssen genügen, um Käufer in die Bioläden zu treiben”

Eines hatten die Ökochonder nicht bedacht: Mehrwegsysteme sollten hohe Rücklaufquoten erreichen und sind nur bei kurzen Vertriebswegen ökologisch sinnvoll. Daran ist die Naturkostindustrie gescheitert. Käufer von Brotaufstrichen, Nußmusen oder Gemüse-Gläschen müssen sich umstellen. In diesem Jahr läuft das Mehrwegsystem aus. Daß das mit großen Hoffnungen gestartete brancheneigene Projekt zur Müllvermeidung nicht funktionierte, hat eine ganze Reihe von Gründen. Einer der wichtigsten: Um bei der Rücklaufquote nochmals zuzulegen, hätten die Hersteller weitere Millionen investieren müssen, resümiert der Naturkostverband in einer Pressemitteilung. Millionenausgaben zugunsten der Umwelt, das geht den Ökofunktionären zu weit. Wo kämen die Müslianhänger denn hin, wie Coca Cola oder Bierbrauereien auch noch Geld in moderne Abfüllanlagen, Rücknahmelogistik und intelligente Verpackungen zu investieren. Der ökologische Anspruch und das gute Gewissen müssen genügen, um Käufer in die Bioläden zu treiben. Wer ökologisch korrekt einkaufen will, steht über diesen Dingen.

Umweltexperten sehen das etwas kritischer. Die Organisation des Mehrwegsystems der Naturkostfirmen war von Anfang an dilettantisch. Es standen bundesweit kaum Spülstationen zur Verfügung. Es gab keine standardisierten Kästen, häufig wurde überhaupt kein Pfand erhoben und es gab keine dezentrale Erfassung der Gläser. “An den Verbrauchern hat es nicht gelegen”, bestätigte Hans-Josef Brzukalla, der mit seiner Arbeitsgemeinschaft für Abfallvermeidung (Afa) für den Aufbau des Mehrwegsystems verantwortlich war. Die Rücklaufquote der Gläser erreicht nach Angaben der Afa nur 50 Prozent. Nach Meinung der Naturkostbranche ist die erreichte Quote ökologisch völlig unzureichend. Das zeigt ein einfaches Rechenexempel. Wenn von tausend Gläsern im ersten Rücklauf nur 500 zurückkommen, so ist bei gleichbleibender Schwundquote nach wenigen Umläufen nur noch ein Glas übrig. Aus Mehrweg wird Einweg. Von den 40 bis 50 Umläufen, die häufig von Mehrweganbietern in der Öffentlichkeit verbreitet werden, lag man weit entfernt. Um schmutzige und ökologisch ausgeschleckte Honiggläser wieder keimfrei sauber zu bekommen, mußten Rapunzel-LKW bis zu 800 Kilometer zurücklegen. Diesel und Rußpartikel im Dienst für die Umwelt. Einige hundert Kilometer Transportweg hatten die Brummis dann noch vor sich, um wieder zum Abfüllbetrieb zu gelangen.

Trotz dieser verheerenden ökologischen Bilanz bedauert der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) das klägliche Scheitern des Mehrwegsystems. Das sei eine verheerende Signalwirkung für die gesamte Lebensmittelbranche. Der BUND-Vertreter Walter Jungbauer nannte diesen Schritt “ökologisch betrüblich und politisch das absolut falsche Signal”. Der Naturkosthandel hänge üblicherweise die ökologische Meßlatte sehr hoch. Wegen seines Anspruchs und des Vertrauens, das seine Kundschaft in ihn setzt, dürfe er sich deshalb im Verpackungsbereich “keine Blöße geben”, sagte Jungbauer.

Die Verpackungsindustrie sieht das anders: Logistikprobleme beim Transport der Mehrweggläser, Schäden bei der Lieferung, eine mangelnde Rückführung der Gläser, hoher Spülaufwand, lange und damit umweltbelastende Vertriebswege hätten den Mehrweggedanken insgesamt ad absurdum geführt. Ökologisch sei eine einseitige Bevorzugung von Mehrweggläsern nicht zu vertreten. So wird die Vollmilch der prominenten Biokost-Kette Demeter von der Molkerei Berchtesgardener Land schon seit längerem in Getränkekartons abgefüllt. “Grundsätzlich sind Mehrwegsysteme nur dann sinnvoll, wenn es hohe Rücklaufquoten gibt und nur kurze Transportwege anfallen. Ab wo ist das heute noch der Fall? Die Demeter-Produkte werden national vertrieben. Da kann Mehrweg niemals sinnvoll sein”, sagte Barbara Kroemer, Marketingleiterin der Berchtesgardener Molkerei. Die von Demeter gewählte Verpackung ermöglicht einen höheren Auslastungsgrad der Transportpaletten und bewirkt eine platzsparende Lagerung im Kühlregal.
Die niedersächsische Walter Lang Imkerhof GmbH stellt der Afa ein niederschmetterndes Zeugnis aus. Fruchtaufstriche, die unter dem Markenzeichen “Allos” in den Verkauf gehen, wurden in den vergangenen Jahren in den Afa-Mehrweggläsern angeboten. “Wir mußten es jedoch wegen seiner gravierenden logistischen Mängel aufgeben. Es fehlte ein einheitliches Pfandsystem mit geeigneten Pfandkisten. Der Betrieb der Spülanlagen war somit ineffizient. Den Kostenfaktor hat Allos durch ein Gutachten prüfen lassen. Dabei lag das Afa-Pfandglas rund 50 Prozent über dem Preis von Neuglas”, so Allos-Sprecherin Juliane Harnisch. Für das Abfüllen von Fruchtprodukten war das Afa-Glas völlig ungeeignet. Kleine, oft kaum sichtbare Schäden hätten immer wieder zu Reklamationen wegen Schimmelbildung oder Gärung geführt. Die Liste der Mängel ist lang. “Die Praxis sah so aus, daß ein Großteil der im Rücklauf gesammelten Afa-Gläser aus den verschiedensten Gründen im Altglascontainer landeten”, so Harnisch. Bei der Abfüllung von Fruchtaufstrichen wird Allos wegen der Probleme beim Pasteurisierungsverfahren nur noch auf Einwegbehälter zurückgreifen.

Bei kleinen Mehrweggläsern existiert ein generelles und unüberwindliches Manko. Kleine Gläser brauchen eine Mindestwandstärke, um Lebensmittel sicher transportieren zu können. Das Verhältnis von Verpackung und Inhalt fällt daher schlecht aus. Anders bei den Getränkekartons, die bei ökologisch gestrickten Grundschullehrerinnen so verpönt sind. Durch das geringe Gewicht und die raumsparende Form des Kartons können Milch, Saft oder Tomatenprodukte mit vergleichsweise geringem Aufwand in die Supermärkte geliefert werden. Ein-Liter-Kartons wiegen nur 26 Gramm, Glasflaschen demgegenüber 420 Gramm. Ein LKW transportiert bei kartonverpackter Milch 95 Prozent Produktanteil und nur 5 Prozent Verpackung. Bei Glas beträgt der Verpackungsanteil 40 Prozent und der Produktanteil magere 60 Prozent.

Ein weiterer Minuspunkt für Glas: Der Transport leerer Flaschen von der Glashütte zum Abfüller benötigt genausoviel Platz wie einer mit vollen Flaschen. Der Karton dagegen kommt flach zur Lebensmittelfirma – so passen in einen LKW rund 600.000 Stück. Hans-Jürgen Oels vom Umweltbundesamt hält es keineswegs für einen Zufall, daß der konventionelle Handel das Experiment mit den kleineren Joghurt-Gläsern stoppte: “Das hat sich nicht gerechnet und war auch ökologisch nicht toll”.

Beruhigen Mehrwegflaschen nur das ökologische Gewissen? In der öffentlichen Diskussion um Einweg- oder Mehrwegverpackungen kann man mitunter diesen Eindruck gewinnen. Ein Flickenteppich an unterschiedlichen Meinungen, Behauptungen oder Glaubenssätzen beherrscht die Debatte. Als Beispiel für die Diktatur der ökologischen Korrektheit gilt die berühmte Kiwi-Frucht: Sie muß seit Jahren als Symbol für unsere zur Fruchtfleisch gewordenen Energieverschwendung herhalten – weil sie angeblich mit dem Flugzeug von Neuseeland zu uns transportiert wird. Eine simple Nachfrage ergibt: Die meisten Kiwis kommen aus Italien – und diejenigen, die aus Neuseeland zu uns gelangen, werden mit dem Schiff transportiert. Kiwis sind kein ökologisches Problem, genausowenig wie Getränkekartons für Milch, Säfte oder Mineralwasser. Der spätpubertäre Ökokrieger glaubt auch heute noch an die teuflische Wirkung der Einwegverpackungen, besonders wenn sie von Firmen wie Tetrapak oder Combibloc kommen. Verbundverpackungen gelten in Ökokreisen als nicht recyclingfähig.

“Das neue Recyclingverfahren ist sehr vielversprechend angelaufen und rundet das Bild des Getränkekartons als ökologisch sinnvolle Lebensmittelverpackung ab”

Mit dem Start in die Kreislaufwirtschaft hatten die Hersteller von Getränkekartons nie Schwierigkeiten. Der hohe Anteil an Zellstoffasern macht die Getränkekartons für Papierfabriken attraktiv. Die hauchdünne Schicht an Aluminium und Kunststoff läßt sich mit entsprechenden Techniken entfernen. Bislang war man in der Industrie allerdings mit dem hohen Wasserverbrauch bei der Wiederverwertung unzufrieden. Im thüringischen Rohr wurde eine technische Innovation entwickelt, die mit diesem Problem Schluß macht. Die neue Anlage trennt die Bestandteile von Milch- und Saftkartons mit einer fast 99prozentigen Sortenreinheit. “Das System ermöglicht eine ökologische Verarbeitung von Verbundverpackungen ohne Einsatz von Wasser, Hitze und Chemie”, sagte Volker Heiss, Geschäftsführer der Wertstoff-Trennungsgesellschaft in Rohr. Damit wird eine Verwertung garantiert, die die Ökobilanz des Kartons weiter verbessert. Die Anlage selektiert die einzelnen Bestandteile des Getränkekartons mechanisch. Die Verpackungen werden erst zerkleinert und dann bei Luftgeschwindigkeiten von 2.000 bis 8.000 Stundenkilometern durch blitzschnelle Rotationsbewegungen voneinander getrennt.
Derzeit können in Rohr 24.000 Tonnen Getränkekartons pro Jahr recycelt werden. Das sind rund 15 Prozent der gebrauchten Verpackungen, die im vergangenen Jahr in die Papierfabriken gingen. Nach der Erweiterung der Anlage wird die Jahreskapazität auf 60.000 Tonnen ansteigen. Für den Zellstoff aus den Kartonverpackungen, der rund 80 Prozent ausmacht, gibt es Abnehmer unter den Herstellern von Dämmstoffen und Hygieneprodukten. “Wir achten sowohl bei der Herstellung als auch beim Recycling auf einen sparsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen. Wir sind von der intelligenten Verwertungstechnik für Getränkekartons begeistert. Der Verbrauch an Wasser sinkt mit diesem Verfahren drastisch”, sagte Wolfgang Bühler von der Firma SIG Combibloc.

Ein neues Gutachten des Fraunhofer-Institutes erteilt dem Getränkekarton gegenüber Mehrwegflaschen gute Noten. Klare ökologische Vorteile des Getränkekartons im Vergleich zu Mehrweg ergeben sich beim Treibhauseffekt, bei der Verursachung von Sonderabfall und beim Versauerungspotential. “Das neue Recyclingverfahren ist sehr vielversprechend angelaufen und rundet das Bild des Getränkekartons als ökologisch sinnvolle Lebensmittelverpackung ab”, sagte Bühler. Mehrwegquoten, Zwangspfand für Einwegverpackungen, Blaue Engel für Mehrwegflaschen oder kommunale Entscheidungen gegen den Verkauf von Einweggetränken bei Großveranstaltungen seien unerträgliche Marktbarrieren. Eine andere Variante könnte graumelierte 68er Pädagogen auf die Palme bringen: Naturkost im Einwegkarton mit blauem Engel.

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