01.03.2002

Mehr Sex durch Terror und Angst

Analyse von Brendan O’Neill

Erwartet uns ein neuer Hedonismus? Nach dem 11. September sollen Menschen mehr Alkohol trinken, mehr Rauchen und gar mehr Sex haben. Doch Schlussfolgerungen über eine veränderte Moral findet Brendan O'Neill absurd.

Essen Sie gerne Anti-Terror-Burger? Oder hatten Sie zuletzt spontanen Apokalypsen-Sex? Seit den Terroranschlägen vom 11. September beobachten Kommentatoren, Statistiker und Gesundheitsexperten, dass die Menschen mehr Junk Food und Alkohol konsumieren, länger in Kneipen und Discos herumhängen, sich öfter auf sexuelle Abenteuer einlassen und sich im Allgemeinen leichtsinnig und rücksichtslos verhalten. Dies sei ein Zeichen dafür, dass die Menschen nicht so ängstlich seien wie angenommen.

Lee Bockhorn vom US-Magazin The Weekly Standard schrieb am 10. Dezember 2001, die neue Rücksichtslosigkeit zeige, dass „der Durchschnitts-Amerikaner die Katastrophe mit Hedonismus kompensiert“. „Die Menschen trinken, rauchen, essen und haben mehr Sex seit dem 11. September.“ Der neue Hedonismus mag zwar Unmengen von Alkohol, Tabak und Pizzas involvieren, dennoch fragte sich Bockhorn „ob dies wirklich die gesündeste Restauration für die armen Seelen ist, um den Anforderungen der Stunde gewachsen zu sein“.

Ist dieser neue Hedonismus ein Schlag ins Gesicht der 11.-September-Ängste? Ist er Beleg dafür, dass wir in der Lage sind, unsere Milzbrand-Ängste zu überwinden, indem wir eine anderen Art des weißen Pulvers konsumieren? Klar ist, dass die Menschen nicht mehr unter dem direkten und unmittelbaren Schock stehen, der sie noch am 11. September und in den Tagen danach panisch werden ließ. Der positive und mutige Wunsch der Menschen weiterzumachen bedeutet, dass wir uns nicht in Höhlen verkriechen, um uns vor der großen, schlechten Welt zu verstecken.

Dies bedeutet aber nicht im Umkehrschluss, dass die Kultur der Angst an Stärke verloren hat um einem neuen positiven Hedonismus gewichen ist. Im Gegenteil: Die steigende Rücksichtslosigkeit sieht mehr aus wie die Kehrseite der Angst – ein weiterer Ausdruck des ängstlichen Klimas, das seit dem 11. September global geworden ist.

Die Anzeichen für das Entstehen eines neuen Hedonismus sind überzeugend: Die New York Times berichtete am 5. Dezember, es habe einen Anstieg der Kneipenbesuche in den letzten drei Monaten gegeben und dass mehr Menschen in Kneipen gehen, länger bleiben und härtere Getränke konsumieren: „Seit dem 1. Oktober gehen mehr härtere Getränke über die Theke“, berichtete ein Sprecher des New York Regency Hotels. “Cocktails, Manhattans, Wein, Wodka auf Eis und Martinis – nicht die aromatischen Martinis, sondern das harte Zeug“. Gemäß einiger New Yorker Bars waren die Umsätze im November 2001 um 25 Prozent höher als im November des Vorjahres – ein Indiz für immer mehr „bewusst herbeigeführte Trunkenheit“. Dieses Phänomen beobachtet man nicht nur in den USA – die London Times veröffentlichte eine Serie von Interviews mit Menschen, die in der City von London im Finanzbereich arbeiten – mit ähnlichen Ergebnissen.

Gleiches gilt für das Thema „Rauchen“: Eine Untersuchung der amerikanischen Krebs-Gesellschaft und der Firma GlaxoSmithKline zeigte, dass ein Drittel der amerikanischen Raucher „mehr Zigaretten als vor dem 11.September“ gekauft hatten und dass fünf Prozent der ehemaligen Raucher seit den Terroranschläge rückfällig geworden waren.

“Terror-Sex ist seit dem 11. September ein Mittel geworden, um sich sagen zu können: Ich lebe noch, ich funktioniere, ich bin wirklich da.“

„Können Sie auch nicht mehr die Finger von der ‚Cheese Casserole‘ und den Chips lassen?“ fragte die Washington Post am 20. November. „Das geht nicht nur Ihnen so ... in mehr als 30.000 Supermärkten im ganzen Land sind die Verkäufe von Lebensmitteln, die glücklich machen, in die Höhe geschossen.“ Seit dem 11. September sei der Verkauf von Oreos (eine der beliebtesten amerikanischen Süßigkeiten) um 18 Prozent gestiegen, der von Gefrierpizzas um acht Prozent, von Maccaronis und Käse um sieben Prozent und von Kuchen, Donuts und Salzgebäck um vier Prozent.

Aber das Thema, über das am meisten in Zusammenhang mit dem neuen Hedonismus gesprochen wird, ist der im Time Magazine vom 23. September so benannte „Apokalypsen-Sex“ – der spontane und gedankenlose Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern seit dem 11. September. Ein Mann aus New York erzählte gegenüber Time Magazine von einem Katastrophen-Rendezvous mit einer Frau, die er zuvor in der U-Bahn getroffen hatte: „Das einzige Gesprächsthema war der Angriff auf das World Trade Centre und wie froh wir waren, noch am Leben zu sein.“ Oder, wie eine befragte Person der amerikanischen Online-Publikation Salon mitteilte: “Terror-Sex ist seit dem 11. September ein Mittel geworden, um sich sagen zu können: Ich lebe noch, ich funktioniere, ich bin wirklich da“.

Ist dies wirklich der Siegeszug des Spontan-Sex in unserer von Safer Sex besessenen Welt? Es mag anekdotische Beweise geben, dass junge Singles in New York Katastrophen-Rendezvous haben, aber diese repräsentieren kaum eine profunde Veränderung unserer Moralvorstellungen. Sogar Vergleiche zu den sexuellen Stelldicheins während des Zweiten Weltkrieges wurden gezogen. Aber anzunehmen, dass diese wenigen apokalyptischen Sexualabenteuer mit dem Zusammenbruch der moralischen Zurückhaltung in der westlichen Welt zu Beginn des Weltkrieges zu vergleichen sind, ist absurd.

Schließlich wurde auch noch der Anstieg im Lippenstiftverkauf festgestellt. Amerikanische Make-Up-Produzenten behaupten, die Verkäufe seien um 10 bis 12 Prozent höher als vor dem 11.September. „Nicht nur, dass die Frauen mehr Lippenstifte kaufen – sie wenden sich von den nichtssagenden, unauffälligen Farben ab und kaufen mehr grelle Farben: starke Rots, tiefe Weinrots und Blaus.“

Wie ist die steigende Rücksichtslosigkeit, die anwachsende Lust auf gedankenloses Leben und reuelosen Konsum zu erklären? Manche Kommentatoren haben bereits darauf hingewiesen, dass die Berichte über den um sich greifenden neuen Hedonismus stark übertrieben sind. Seit dem 11. September hätten bei weitem nicht alle Amerikaner (oder Europäer) sich dem Konsum von Fast Food, wilden Sexorgien, Alkohol- und Rauchexzessen sowie feuerroten Lippenstiften hingegeben. „Es ist gefährlich, zu viel in die Anekdoten hineinzulesen“ mahnte der Weekly Standard, um dann anzufügen, einige der Trend könnten sehr positive Aspekte haben: Wenn selbst das Öffnen eines Briefes gefährlich ist, dann kann das zusätzliche Glas Wein vielleicht ganz gut wirken.“

Der neue Hedonismus sagt uns vor allem etwas über die westliche Psyche nach dem 11. September – aber was er uns sagt, ist wohl kaum als positiv zu bezeichnen. Die Terroranschläge auf New York und Washington hatten vor allem zur Folge, dass das bereits existierende Gefühl der Angst und der Unsicherheit im Westen noch verstärkt wurde. In den letzten zehn Jahren ist es im Westen sehr populär geworden, sich ständig mit den Risiken des modernen Lebens zu befassen – angefangen beim Rinderwahn und der Maul-und-Klauenseuche in Europa über Schießereien in Schulen und der Straßenkriminalität in den USA.

In den letzten zehn Jahren ist es sehr populär geworden, sich ständig mit den Risiken des modernen Lebens zu befassen.

Bedenkt man das Ausmaß der Zerstörung und die schockierenden Todeszahlen, ist es nicht überraschend, dass der 11. September schnell der Fokus der Unsicherheiten der westlichen Gesellschaften wurde. So schrieb Sp!ked-Herausgeber Mick Hume in der London Times bereits eine Woche nach den Anschlägen, sie hätten „Amerika und die westliche Welt in einer sehr viel sagenden Hinsicht vereint: Sie haben die Kultur der Angst globalisiert... Die Terroranschläge hatten deswegen ein so großen Einfluss auf das öffentliche Bewusstsein, weil sie die bereits existierende und verankerte Kultur der Angst noch verstärkten“.

In den Wochen und Monaten nach den Anschlägen hatten viele Menschen Angst vor dem Fliegen. Die Anzahl von Fernreisen ging drastisch zurück, und bei dem kleinsten Hinweis auf einen merkwürdigen Passagier verzögerten sich die Flüge, wurden von Armeeflugzeugen eskortiert oder ganz gestrichen. Dann kam die globale Milzbrand-Panik: Auch hier genügte der kleinste Hinweis auf ein weißes Pulver, um öffentliche Gebäude zu schließen und Massenevakuierungen vorzunehmen. Angesichts der Angst vor weiteren Anschlägen peitschten die Regierungen in den USA und in Europa drakonische Anti-Terror-Gesetze durch, unter dem Vorwand, die Bürger schützen zu wollen.

Diese Reaktionen können nicht nur durch die Angriffe vom 11. September erklärt werden. Sie sind vielmehr Reaktionen auf das bereits zuvor weit verbreitete Gefühl, dass alles außer Kontrolle ist und auseinander fällt – und genau so sieht auch der „neue Hedonismus“ die Welt.

„Wenn man eine Lehre aus den Ereignissen ziehen kann, dann, dass man für den Moment leben muss, denn morgen könnten wir schon tot sein“, führte ein junger Londoner gegenüber der Times als Erklärung an, warum er in letzter Zeit öfter in der Kneipe zu sehen sei als früher. „Man muss das Leben leben“, sagte ein junger New Yorker mit einem Glas Bier in der Hand an der Theke einer New Yorker Bar. „Wer weiß, was passieren könnte und wann? Niemand weiß es“.

Diese beiden jungen Männer sprechen aus, was sich hinter dem neuen Hedonismus verbirgt – sicherlich nicht der emporgereckte Mittelfinger gegen die Angst, die die Welt seit dem 11. September auf Trab hält, sondern eher ein Gefühl, dass jeder jederzeit ein Opfer eines unvorhersehbaren Ereignisses wird. „Also was soll’s, lass uns einen trinken.“

Ähnlich ist es mit dem Apokalypse-Sex (oder auch „Armageddon Sex“, wie ihn ein UN-Mitarbeiter nannte), von dem manche behaupten, er habe New York in eine reale „Sex and the City“-TV-Serie verwandelt: Er ist mehr Produkt der Angst und der Konfusion als einer neuen Leidenschaft. Ein New Yorker, der nach dem 11. September einen solchen apokalyptischen One-Night-Stand hatte, sagte: „Menschen starben, und ich fühlte mich schuldig. Aber ich fühle mich lieber gemeinsam mit einem anderen Menschen schuldig als allein“. In Salon äußerte sich der New Yorker Schriftsteller Cole Kazdin ähnlich: Das Gute an Terror-Sex sei das Gefühl der „physischen Nähe als beste Verteidigung gegen den Tod“. Schuldgefühle, Elend und Tot – wohl kaum ein Rezept für eine positive sexuelle Erfahrung.

Für die Post-11.-September-Hedonisten sind die Gesellschaften, in denen wir leben, unvorhersehbar und beängstigend.

Dr. Peter Salovey, Professor für Psychologie an der Yale Universität, brachte es auf den Punkt: Seiner Ansicht nach haben die neuen Hedonisten den Eindruck, dass „das Leben wertvoll und die Zivilisation gefährlich ist“. Für die post-11.-September-Hedonisten sind die Gesellschaften, in denen wir leben, unvorhersehbar und beängstigend. Daher ist es das Beste, sich zu betrinken, Sex mit anderen einsamen Menschen zu haben und sich voll zu stopfen, bis einem schlecht wird. Schließlich konnte alles morgen schon vorbei sein.

Und natürlich gab es dann auch Warnungen, der neue Hedonismus sei selbst ein wenig zu hedonistisch, da er ein potenzielles Risiko für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Menschen darstelle. So warnten offizielle Stellen vor Infizierungen durch verantwortungslosen Terror-Sex ohne Kondom – ohne die Ironie dabei zu bemerken.

Kaum haben sich also die neuen Hedonisten den Ruf erkämpft, sich gegen die 11.-September-Depression zur Wehr zu setzen, schon brandmarkt man sie selbst als Opfer der Anschläge. Es scheint, es gibt tatsächlich keinerlei Ausweg aus der Angst und der Unsicherheit, der die westliche Welt dominiert.

Junk Food zu essen und sich sinnlos mit harten Getränken den Kopf zuzuhauen oder Terror-Sex nachzugehen ist vielleicht spaßiger als aus Angst vor Milzbrand die Post in die Mikrowelle zu legen und sich zu weigern, hohe Gebäude zu betreten – aber alle diese Reaktionen auf den 11. September scheinen ein Produkt des gleichen Gefühls der Verletzlichkeit zu sein. Der neue Hedonismus ist keine Abkehr dieser Ängste hin zu Spaß und Liebe, sondern nur eine andere Form der Angst vor der Zukunft – wo alles, was wir erhoffen können, ein wenig Alkohol, fettiges Essen, spontaner Sex und knallroter Lippenstift ist.

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