21.01.2011

Mediziner und andere Puritaner

Rezension von Günter Ropohl

Folgt man den Autoren des Buches „Alkohol und Tabak", dann sind diese Genussmittel zu „Genussgiften“ geworden.

Alkohol und Tabak: der Buchtitel klingt so, als stamme er aus dem Sündenkatalog des frommen Puritaners. Alles, was Freude macht, ist Teufelswerk und gefährdet das Heil des Christenmenschen. Oder säkularisiert nicht mehr die jenseitige Erlösung, aber doch die körperliche Gesundheit. Offenkundig hat die Medizin dieses asketische Programm beerbt, zumal inzwischen die angelsächsischen Forscher den Ton angeben und von einer genussfeindlichen Gesundheitsideologie, dem Sanitarismus, befallen sind. Geistige Getränke und rauchige Inhalate haben einmal als Genussmittel gegolten; inzwischen sind sie zu „Genussgiften“ geworden – fast so, als wenn Genuss per se ein Gift wäre.
Damit ist das Programm umrissen, dem dieses Fachbuch folgt. Eine Elite deutscher Suchtexperten trägt in mehr als 50 Abschnitten alles zusammen, was man zur Analyse, Diagnostik (Teil 6), Therapie und Prävention (Teil 7) dieser „Giftgefahren“ wissen muss. Teil 1 behandelt soziokulturelle Aspekte, Teil 2 begriffliche und pharmakologische Grundlagen, die umfangreichen Teile 3 und 4 besprechen erwiesene und vermutete Wirkungen auf Gehirn, Nervensystem und Organe, Teil 5 befasst sich mit besonderen Lebenssituationen wie Schwangerschaft, Adoleszenz oder fortgeschrittenem Alter. Teil 8 schließlich betrifft juristische Aspekte, unter denen allerdings verfassungsrechtliche Gesichtspunkte fehlen. Aber rechtlich gesehen gehen alle Versuche umfassender Alkohol- und Tabakprohibition ins Leere, weil der Freiheitsgrundsatz der Verfassung den Menschen auch eine mögliche Selbstschädigung einräumt, wenn sie diese zugunsten anderer Bedürfnisse in Kauf nehmen.

Um diesen Grundsatz zu unterlaufen, hat man die Hypothese vom „Passivrauchen“ aufgestellt, die behauptet, Rauchen in Gegenwart anderer Menschen wäre grundsätzlich auch eine Fremdschädigung. Mehrheitlich behaupten die Autoren des Buches, diese Hypothese wäre wissenschaftlich über jeden Zweifel erhaben (S. 51ff, S. 556ff, S. 615ff). Lediglich ein einzelner Beiträger erklärt wahrheitsgemäß, dass solche Behauptungen „trotz gegenteiliger offizieller Bekundungen in der heutigen Forschung stark umstritten sind“ (S. 23). Übrigens heißt es im juristischen Teil eindeutig, dass eine Körperverletzung durch „Passivrauchen“ strafrechtlich nicht verfolgt werden kann, weil nicht nachzuweisen ist, dass „der Rauch einer bestimmten Zigarette die manifeste Gesundheitsschädigung verursacht“ hätte (S. 619).

Nur beiläufig wird angedeutet, worin der Genuss dieser Gifte liegt. So wird eingeräumt, dass Nikotin psychotrope Effekte hat, die denen von pharmazeutischen Antidepressiva gleichen, also seinerseits Depressionen abwenden oder mildern kann. Ausdrücklich ist sogar von positiven „pharmakologischen Wirkungen bei psychischen Erkrankungen“ die Rede (S.142f), und die geistig stimulierende Wirkung wird ebenfalls nicht verschwiegen (S. 132f). Auch für alkoholische Getränke wird ein „Belohnungs- und Wohlgefühl“ konstatiert (S. 121f). Dabei muss der nicht sanitaristisch voreingenommene Kenner die Vielfalt sensorischer Erlebnisse hinzufügen, die hervorragende Weine und Spirituosen dem Genießer zu schenken vermögen. Ferner wird eingeräumt, dass bei mäßigem Trinken „die positive Wirkung von Alkohol auf manche Herzkrankheiten außer Frage steht“ und auch die Gehirndurchblutung und eine Zuckerkrankheit günstig beeinflusst werden kann (S. 37ff). Aber in paternalistischer Behütungsmentalität wird gesagt, das dürfe man um Himmels willen nicht öffentlich propagieren, weil es „mit zu vielen Risiken verbunden ist“ (S. 40).

Die Suchtexperten haben vor allem die körperliche Gesundheit im Auge, nicht die allseitige Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit, die in einer fortschrittlichen Anthropologie als bio-psycho-soziale Einheit konzipiert wird und nicht auf schiere Körperlichkeit reduziert werden kann. Sie vergessen, dass die Weltgesundheitsorganisation, heute der verlängerte Arm angelsächsischen Puritanertums, Gesundheit ursprünglich verstanden hat als den „Zustand vollkommenen körperlichen, geistig-seelischen und sozialen Wohlbefindens“. Wie aber kann sich beispielsweise „soziales Wohlbefinden“ bei jenen rauchenden Menschen einstellen, die planmäßig aus der Gesellschaft ausgegrenzt und geradezu diskriminiert werden?
Man muss etliche Texte gegen den Strich lesen, wenn man sich ein zutreffendes Bild von den tatsächlichen Gefährdungen machen will. Die alarmistische Grundtendenz zeigt sich schon im Vorwort, wenn überhöhte Sterbefallzahlen genannt werden, die durch spätere Fachbeiträge nicht gedeckt sind, und wenn der Prozentsatz der angeblichen „Tabaktoten“ fälschlich zu hoch berechnet wird, ganz zu schweigen davon, dass keine seriöse Statistik angeben kann, welche Sterbefälle ursächlich auf Alkohol- oder Tabakkonsum zurückzuführen sind. Alkoholabhängigkeit, die ebenso dramatisiert wird wie das Rauchen, kommt lediglich bei rund 2 Prozent der Erwachsenen vor (S. 31). Gewiss ist das ein arges Schicksal für die Betroffenen, aber rechtfertigt es dieser Befund, die restlichen 98 Prozent der Bevölkerung unter Kuratel zu stellen?

Manche Suchtexperten, die dem so genannten „population approach“, der „Verhältnisprävention“, anhängen, befürworten offen „eine Einschränkung des Freiheitsspielraums der Mehrheit der Bevölkerung zugunsten des Schutzes einer […] Minderheit“ (S. 33f). Da fragt man sich, ob eine solche Präventionsstrategie mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen zu vereinbaren ist und ob sie nicht in Wirklichkeit auf eine Gesundheitsdiktatur hinausläuft. Und das in einer Zeit, in der die Menschen nach Auskunft seriöser Statistiken ohnehin immer länger leben, also immer länger gesund bleiben, aber auch immer mehr Menschen die letztlich unvermeidliche Altersinsuffizienz in meist wenig würdevollen „Entsorgungsparks“ zu erleiden haben?

Leider wird der Suchtbegriff im Buch kaum problematisiert. Wo liegt die Grenze zwischen einem Verhalten, das wegen positiver Erfahrungen regelmäßig gern wiederholt wird, und einer zwanghaften Abhängigkeit, aus der man sich nicht ohne schwere psychosomatische Störungen befreien kann? Woran liegt es, dass wenige Menschen dafür anfällig sind, diese Grenze zu überschreiten, während die große Mehrheit unauffällig bleibt? Am ehesten kommen echte Suchtphänomene beim Alkoholmissbrauch vor. Ob die Freude am Rauchen die Kriterien einer wirklichen Sucht erfüllt, ist bei neutralen Beobachtern umstritten. Zu groß ist die Anzahl derer, die sich das Rauchen ohne ernsthafte Schwierigkeiten haben abgewöhnen können. Erstaunlicherweise wird übrigens zur „Therapie“ der Rauchgewohnheit das Präparat Vareniclin (vom Pharmakonzern Pfizer in Deutschland unter dem Markennamen „Champix“ vertrieben) als „das derzeit effektivste Medikament“ beschrieben (S. 583f), obwohl längst etliche problematische Nebenwirkungen bekannt sind (Schwindelanfälle, Bewusstseinsstörungen, Depressionen, Suizidgefahr u.a.) – ganz so, als wollte man den Teufel mit Beelzebub austreiben.

Alles in allem ein eindrucksvolles Buch, nicht nur wegen der Fülle des zusammengetragenen Wissens und der höchst ansprechenden Gestaltung, sondern eindrucksvoll auch durch die Unbesorgtheit, mit der etliche Experten im Namen einseitig dargestellter Gesundheitsobsessionen über die Freiheitsrechte mündiger Menschen hinweggehen wollen.

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