01.09.2004

Mauern für den Frieden

Analyse von Brendan O’Neill

Brendan O'Neill sieht in Israels Sicherheitszaun eine logische Folge des Friedensprozesses.

Die israelische Sperranlage ist zum Streitpunkt im Nahen Osten wie auch in den internationalen Beziehungen geworden. Sie besteht aus einer unüberwindbaren, zum Teil mehrere Meter hohen Mauer, die nach ihrer Fertigstellung das gesamte Westjordanland einschließen wird. Israel verspricht sich von der Anlage einen besseren Schutz vor palästinensischen Selbstmordattentaten.

Im Juli 2004 erklärte der Internationale Gerichtshof in Den Haag den Zaun für völkerrechtswidrig, da er auf palästinensischem Gebiet errichtet worden sei. Israels Regierung zeigte sich empört ob dieser Entscheidung und kündigte an, mit dem Bau fortzufahren. Daraufhin verabschiedete die UN-Vollversammlung mit 150 gegen 6 Stimmen bei 10 Enthaltungen eine Resolution, die Israel zur Anerkennung des Richterspruchs auffordert. Auch 202 Abgeordnete des britischen Unterhauses verlangten in einer Petition von Israel, den Bau der Trennmauer auf palästinensischem Territorium unverzüglich einzustellen. Für pro-palästinensische Gruppen ist die Mauer mittlerweile zum zentralen Aufhänger ihrer Solidaritätsaktionen geworden.

Es verwundert nicht, dass der israelische Mauerbau auf großen Widerstand stößt. Schon jetzt ist die Anlage 160 Kilometer lang; sollte das israelische Kabinett seine Pläne umsetzen, wird sie am Ende 720 Kilometer lang sein. Große Teile der Anlage bestehen aus einer hohen Mauer, die obendrein mit einem elektrischen Zaun versehen ist. Kurz nach der Verabschiedung der UN-Resolution errichteten israelische Arbeiter in Abu Dis, einem palästinensischen Vorort Jerusalems, eine acht Meter hohe Mauer, die die Bewohner nicht nur von ihren Arbeitsplätzen, sondern auch von anderen städtischen Einrichtungen abschnitt. An einigen Stellen ist die Mauer zusätzlich von einer 30 Meter breiten Pufferzone – oder „Todeszone“, wie sie die Palästinenser nennen – umgeben. Die Sperranlage durchschneidet palästinensische Städte, trennt Familien und beschränkt die Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit. Von allen „Sicherheitsmaßnahmen“, die Israel dem Westjordanland auferlegt hat, ist der Zaun eine der schlimmsten.

"Es ist der Friedensprozess selbst, der willkürlich Grenzen in der Region und zwischen den Völkern zieht, die angeblich zu ihrem eigenen Vorteil voneinander getrennt und von wohlwollenden Mächten unter permanente Beobachtung gestellt werden müssen."

Doch aller globalen Empörung über das Vorgehen Israels zum Trotz: Der Zaun fußt auf den inhaltlichen Fundamenten des Friedensprozesses. Israel wird zwar vorgeworfen, den Friedensprozess zu gefährden; die UN kritisiert Scharon dafür, mit der Errichtung der Sperranlage den Mittleren Osten zu teilen, und selbst US-Präsident George W. Bush hält die Mauer für „ein Problem“.1 Tatsächlich ist es aber der Friedensprozess selbst, der willkürlich Grenzen in der Region und zwischen den Völkern zieht, die angeblich zu ihrem eigenen Vorteil voneinander getrennt und von wohlwollenden Mächten unter permanente Beobachtung gestellt werden müssen. Der israelische Zaun ist demnach nichts weiter als die konsequente und brutale Umsetzung des Friedensprozesses.

Bush gab zu bedenken, die Mauer untergrabe die Entwicklung von Vertrauen zwischen Israelis und Palästinensern.2 In Wirklichkeit aber bildet seine Regierung gemeinsam mit den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und Russland das so genannte „Nahost-Quartett“, das der Region einen Friedensplan – die „Roadmap“ – aufdrücken und die Völker hermetisch voneinander abriegeln will. Der Plan sieht die Schaffung zweier separater Staaten in „provisorischen Grenzen“ bis zum Jahr 2005 vor und fordert von beiden Seiten uneingeschränkte Kooperation, um den Prozess nicht „zu behindern“.3

Kernbestandteil der „Roadmap“ ist die dauerhafte Trennung der Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen von den Israelis. Die Errichtung zweier getrennter Staaten, die nebeneinander in Frieden und Sicherheit, aber unter ständiger internationaler Beobachtung existieren sollen, ist die einzige „Vision“, die das Nahost-Quartett für die Region entwickelt hat. In vielerlei Hinsicht stellt die israelische Sperranlage daher die Umsetzung der „Roadmap“ dar.

Die Logik des Friedensprozesses ist zutiefst undemokratisch und spaltend, denn sie geht von der Annahme aus, dass Israelis und Palästinenser nicht in der Lage sind, ihre Probleme ohne massive Intervention von außen zu lösen. Schon als der Prozess Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre eingeleitet wurde, war er in erster Linie das Produkt westlicher Einmischung, allen voran der Vereinigten Staaten. Die Interessen und Belange der Israelis und der Palästinenser spielten von Beginn an nur eine untergeordnete Rolle.

Wie auch andere Friedensprozesse, die in den frühen 90er-Jahren begannen, verfolgte auch dieser nie das Ziel, den Konflikt zu lösen, sondern lediglich, ihn zu stabilisieren; es ging auch nie darum, langfristige und sich selbst tragende Arrangements zu finden, sondern nur darum, die Konfliktparteien in Schach zu halten. Die ersten Verhandlungen hatten nach Angaben eines US-Offiziellen das vorrangige Ziel, die traditionellen und auf beiden Seiten verbreiteten Vorstellungen einer Ein-Staat-Lösung zu begraben. In der Folge akzeptierte zunächst die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO 1988 das Existenzrecht des Staates Israel; Anfang der 90er-Jahre gestand auch Israel widerwillig den Palästinensern das Recht auf einen eigenen Staat zu. Der Friedensprozess basiert mithin auf der Absage an frühere, weitaus progressivere und demokratischere Modelle, denen zufolge Araber und Israelis zusammen in einem demokratischen Staat leben sollten. Er läuft der Vorstellung zuwider, Araber und Israelis könnten gemeinsame Interessen formulieren und Probleme lösen; stattdessen werden sie als antagonistische Lager begriffen, für deren einzelne Interessen separate Lösungen gefunden werden müssen.

"Der Verlauf des Schutzzaunes zeigt, dass sich Israel von seinen historischen territorialen Ambitionen in der West Bank verabschiedet hat."

Jede weitere Phase des Friedensprozesses bedeutete einen weiteren Schritt in Richtung einer vollständigen Trennung von Israelis und Palästinensern. Das Abkommen von Oslo aus dem Jahre 1993 – besiegelt im Vorgarten des Weißes Hauses, Tausende Kilometer von Tel Aviv und Ramallah entfernt – erklärte die Flüchtlingslager in der West Bank und im Gaza-Streifen zum Zuständigkeitsgebiet einer palästinensischen Übergangsregierung und zementierte die Ansicht, die Interessen beider Völker fänden ihren Ausdruck in zweit separierten staatlichen Einheiten. Im Juli 2000 degenerierten die Verhandlungen von Camp David zwischen dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton, dem damaligen israelischen Premierminister Ehud Barak und dem PLO-Chef Jassir Arafat zu einem bloßen Geschacher um regionale Zuständigkeiten. Letztendlich scheiterten die Gespräche: weder über die genaue territoriale Größe der Palästinensergebiete noch über die Frage, ob ca. sieben Prozent des Westjordanlandes den Palästinensern oder den Israelis zuzusprechen sei, konnte Einigkeit erzielt werden.

Der aktuelle Friedensplan schreibt die Teilung des Nahen Ostens auf Dauer fest. Der israelische Sicherheitszaun setzt diese Teilung in die Praxis um und stellt eine „provisorische Grenze“ zwischen den beiden Parteien dar, die es den Israelis ermöglicht, Seit’ an Seit’ mit und „in Sicherheit“ vor den Palästinensern zu leben. Diejenigen, die nun lautstark den Bau der Sperranlage kritisieren, sollten sich einmal ihre Entstehung und ihre Verwurzelung im Friedensprozess vor Augen führen. Der Zaun ist weder eine Pervertierung der „Roadmap to Peace“, noch ist sie Ausdruck expansionistischer Ambitionen Israels gegenüber Palästina. Er wirkt wie eine ängstliche und defensive Schutzmaßnahme einer Regierung, die unter ihrer eigenen Isolierung leidet und keineswegs offensive Eroberungspläne schmiedet. Zwar reicht die Anlage tief in palästinensisches Gebiet, um jüdische Siedlungen im Westjordanland in den Schutz einbeziehen zu können. Andererseits zeigt der Verlauf der Anlage aber auch, dass sich Israel von seinen historischen territorialen Ambitionen in der West Bank verabschiedet hat. Bis vor kurzem noch forderten revisionistische Zionisten innerhalb der konservativen Likud-Partei sowie im Umfeld des heutigen Ministerpräsidenten Ariel Scharon die Schaffung von „Groß-Israel“, das nicht nur das Westjordanland, sondern auch das Ostufer des Jordans, mithin Teile des jordanischen Staatsgebietes, umfassen sollte. Die traditionelle Parteilinie unterstrich Israels Ansprüche auf Judäa, Samaria (also die West Bank) sowie das Gebiet um Gaza und legte sich darauf fest, dass die Gründung eines palästinensischen Staates unter keinen Umständen toleriert werde.

Dass die Regierung Scharon nun durch den Bau der Sperranlage de facto weite Teile des Westjordanlandes als palästinensische Gebiete anerkennt und auch physisch von Israel abtrennt, zeigt, dass selbst Konservative nun von der Vision „Groß-Israel“ Abstand genommen haben. Dementsprechend wenden sich nicht nur Palästinenser gegen den Zaun, sondern auch radikale Israelis, die in ihm die Beschneidung israelischer Souveränität sowie die Anerkennung des Palästinenserstaates sehen. Tatsächlich hielten bislang gerade Überlegungen wie diese Israel vom Bau derartiger Anlagen ab. Die australische Tageszeitung Sydney Morning Herald brachte es auf den Punkt: „In der Vergangenheit scheute sich Israel, einen stabilen Grenzzaun um die West Bank zu errichten, da man befürchtete, dies könne als eine politische Grenze interpretiert werden. Nach Angaben von Ze’ev Schiff, dem führenden israelischen Verteidigungsexperten, ist man nun bereit, derartige Bedenken im Interesse einer verbesserten Sicherheitslage hintanzustellen.“4

Der Zaun ist also weniger die Folge einer neuen offensiven Besatzungspolitik, sondern Ausdruck der defensiven Position Israels und seines Bestrebens, sich zum Schutze vor fremden Kräften lieber selbst einzuzäunen, als ihnen entgegenzutreten und sie zu besiegen. Mit Sicherheit wird der Zaun die Spaltung zwischen Israelis und Arabern weiter verstärken und den Konflikt weiter anheizen. Auch in dieser Hinsicht ist er also ein Kind des Friedensprozesses.

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