16.01.2010
„Man braucht einen politischen, ja, theoretischen Horizont“
Nachruf auf Katharina Rutschky (25.1.1941 – 14.1.2010)
Manchmal hinterlässt der Tod eine besonders große Lücke, die noch über persönliche Freundschaften und Beziehungen hinausgeht. Bei Katharina Rutschky, die letzten Donnerstag in Berlin starb, ist das so.
Die Fähigkeit, auch in andere Richtungen zu denken, über Tabus und allgemein akzeptierte Selbstverständlichkeiten hinauszuschauen, gekoppelt mit einer gehörigen Portion Mut und sozialer Wachsamkeit, machten sie zu dem, was sie war: eine der wenigen, großen unabhängigen Intellektuellen unserer Zeit.
Die 68er Zeit erlebte sie als eine der schönsten ihres Lebens („wir kriegten Luft unter die Flügel“). Doch vielleicht war es ihrer geistigen Unabhängigkeit zu verdanken, dass sie nicht im Gedankengut dieser Zeit verharrte. Die bornierte, muffige Bürgerlichkeit der Nachkriegsjahre wurde, dessen war sie sich bewusst, durch eine neue, andere, selbst auferlegte Beschränktheit ersetzt. „An die Stelle von Triebregulierung, Sexualangst, Repression und Zwangsvorstellung sind die Entartungen der Empathie, des Helferwahns und des Kinderkults getreten“, schrieb sie mir einmal.
Sie hat dafür gesorgt, dass wir Anfang der neunziger Jahre, in der Hochzeit der Kindesmissbrauchshysterie, nicht ganz den Sinn für Sachlichkeit verloren haben. Damals war sie eine der ganz wenigen, die „anders herum dachte“. Sie erkannte, welche Gefahren von einer Gesellschaft ausgehen, in der ohne viel Aufhebens ein Verdacht zur Tatsache erklärt wird und aus Dunkelziffern, selbst ein Produkt manipulatorischer Definitionen, kurzerhand ein deprimierendes Menschenbild zusammengereimt wurde. „Die Angst vor Missbrauch grassiert wie ein ideologischer Virus“, schrieb sie damals. Dass all dies im Namen des vermeintlich Guten, jenes obersten Gebots des Schutzes von Kindern nämlich, geschah, gab dem Ganzen den inquisitorischen Charakter.
Einer Gesellschaft, der das Freiheitsbewusstsein fehlt, fehlen auch neue Gedanken. Was nützt uns eine rauchfreie Gesellschaft, der die Diskussionskultur fehlt? Bei Rutschkys zu Hause wurde diskutiert und geraucht. Es wurde Argumente mit Gegenargumenten begegnet und ausgetestet, wie weit sie tragen. Hier hatten die Auswüchse des modernen Fundamentalismus, der sich durch schlichte Konzepte und die Reduzierung verwickelter politischer, kultureller und ökonomischer Verhältnisse auf das Niveau des moralischen Skandals ausdrückt, keine Chance.
„So leicht Empörung und Entsetzen auszulösen sind, so schlicht die Konzepte, mit denen praktisch Abhilfe geschaffen werden soll“ schreibt Katharina Rutschky in ihrem Buch „Emma und ihre Schwestern“ – einer Abrechnung mit den Feministinnen, die sich in einer selbst konstruierten Opferrolle behaglich eingerichtet haben und immer noch glauben, ihr nächster Mann sei ihr schlimmster Feind.
Katharina Rutschky scheute den Konflikt nicht und doch war sie eine feinfühlende, lebensfrohe, hilfsbereite und offene Frau. Wenn wir uns im Restaurant Kaiserstein in Berlin bei Whisky (aber ohne Eis!) zusammensetzten, konnte ich immer von ihr lernen. Überall, so sagte sie mir einmal, gebe es freiheitsbewusste Menschen. Als sie sich mit dem Thema Kindesmissbrauch beschäftigte, habe sie auch dort Verbündete gefunden, wo sie sie nicht vermutet hätte – etwa in den Ministerien.
Katharina Rutschky liebte das Leben, die Kunst, die Kultur und bunte Postkarten. Sie war eine hoch gebildete Frau, die nie das Gefühl für die Realität verloren hatte. Ich werde sie sehr vermissen.