01.11.2002

Lösungen aus der Suppenküche

Analyse von Josie Appleton

Der Anti-Globalisierungstross jettet um die Welt, auf der Suche nach Frischluft und neuen Visionen.

Naomi Klein, der Star der Anti-Globalisierungsbewegung, trat am 22. Oktober in der London School of Economics (LSE) zu einer Debatte gegen Professor Anthony Giddens an, seines Zeichens Verfechter des „Dritten Weges“. Giddens ist Direktor der LSE, Klein ist Gaststipendiatin des Ralph Miliband Programms.

Giddens zeigte in der Debatte Lücken in Kleins Argumentation und die Schwächen ihrer Thesen auf. Aber auch wenn Giddens die Zuhörer mit Argumenten überzeugte, eroberte Klein die Herzen.

Es gäbe, so sagte Klein, „eine globale Krise des Vertrauens in die repräsentative Demokratie“. Sie verwies auf die wachsende Kluft zwischen Politikern und ihren Wählern und auf zunehmende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit. Die Wurzel des Problems sei die Privatisierung, der Verkauf öffentlichen Raums und öffentlicher Interessen an den privaten Sektor. Ameriks Schulen seien fest in der Hand der Werbeindustrie, und südamerikanische Näher würden von internationalen Unternehmen unterjocht.

Die Privatisierung würde „als Allheilmittel für einen menschenfernen Staat“ gesehen, so Klein, aber tatsächlich mache sie die Kluft zwischen denen, die Entscheidungen treffen und denen, die damit leben müssen, noch größer.

Giddens fand offensichtlich Gefallen daran, diese Argumente auseinander zu nehmen. Natürlich seien die repräsentativen Demokratien in einer Krise, und natürlich gäbe es Ungerechtigkeit, sagte er, aber mit Privatisierung habe das wenig zu tun. Man müsse nur Japan betrachten: Dessen voll privatisiertes Bahnnetz gelte als das beste der Welt und ginge viel mehr auf die Bedürfnisse seiner Kunden ein als jedes kränkelnde staatliche Schienennetz. Es sei „krass“, Privatisierung generell zu verurteilen, meinte Giddens.

„Die Krise der Politik lässt sich nicht durch die Privatisierung oder die Habgier internationaler Konzerne oder korrupter Politiker erklären.”

Klein war aber nicht nur krass. Sie schien vor allem die Probleme im politischen Raum und die Krise der repräsentativen Demokratie auf die Wirtschaft zu projizieren. Es ging ihr weniger um Privatisierung als solche, als um Privatisierung als Metapher. Für Klein sind korrupte Regierungen, die öffentliche Güter verkaufen, verantwortlich für den beklagenswerten Zustand der repräsentativen Demokratie. Und hier liegt ihr Fehler: Die Krise der Politik lässt sich nicht durch die Privatisierung oder die Habgier internationaler Konzerne oder korrupter Politiker erklären. Das wurde mit jedem Lösungsansatz, den Klein nannte, immer deutlicher.

Klein präsentierte Beispiele, wie man der Demokratie neues Leben einhauchen könnte. Man müsse sich jene Länder anschauen, in denen die Krise der liberalen Elite am gravierendsten sei. Die Lösungen für die Probleme Londons, zum Beispiel, fänden sich in Argentinien, sagte sie.
Die argentinische Krise im Dezember 2001 führte dazu, dass die Regierung die Konten der Bürger einfror, ihre Schulden nicht bezahlte und sich innerhalb weniger Wochen fünf verschiedene Präsidenten die Türklinke reichten. Seitdem kämpfen die Institutionen dieser freiheitlich-kapitalistischen Demokratie ums nackte Überleben. Viele Banken wurden geschlossen, die Wirtschaft steht still, die Gehälter schwanken und die gesamte politische Klasse wird von der Bevölkerung verachtet. „Que se vayan todos!“ – „Alle müssen gehen!“ – lautet ihre Forderung.

In Argentinien hätten die Menschen die Dinge in die Hand genommen, sagte Klein. In den Barrios von Buenos Aires hätten die Leute angefangen, Bürgerversammlungen zu veranstalten, auf denen über Politik und die Organisation öffentlicher Dienstleistungen gesprochen würde. Außerdem würden hier Resolutionen verabschiedet und Wahlen abgehalten. Und da Besitzer ihre Fabriken verlassen haben, hätten nun manche Arbeiter die Anlagen übernommen und würden sie als Genossenschaften betreiben. Diese Organisationen steckten zwar noch in den Kinderschuhen, aber „sie bauen Alternativen auf“, sagte Klein. „Sie entwickeln eine neue Vision, wie man Politik macht.“

Dies sei Volksdemokratie, wie sie leibt und lebt. Sie sei aus der Not geboren, habe sich aber inzwischen weiterentwickelt, sagte Klein: „Das nimmt langsam die Gestalt einer Regierung an.“ Dies sei es gewesen, was der linke Denker Ralph Miliband meinte, als er ein „größtmögliches Maß an Autonomie im produktiven Prozess in jeder Lebenssphäre“ forderte. Die Veränderungen in Argentinien seien auch der Schlüssel zur Lösung unserer Probleme im Westen. So sollte man auch in unseren Städten und Kommunen die Dinge angehen, meinte Klein.

An diesem Punkt erhob Giddens Einwände. Die Volksdemokratie, sagte er, sei kein geeignetes Mittel, um eine moderne, kapitalistische Gesellschaft zu strukturieren, denn sie könne nur kleine lokale, aber keine nationalen Probleme lösen. Es fehlten die gegenseitigen Kontrollen einer repräsentativen Demokratie, und aus diesem Grund würden in der von Klein propagierten Form der Demokratie die örtlichen Eliten die Kontrolle übernehmen. Krisengeschüttelte Länder müssten ihre Institutionen wieder funktionsfähig machen, forderte Giddens, und sie könnten dies erreichen, indem sie Banken umstrukturieren und der Korruption den Garaus machen. Nur durch breit angelegte wirtschaftliche Entwicklung könnten Entwicklungsländer vorankommen, sagte Giddens.

Einige Akademiker im Publikum bauten diese Gedanken aus. Einer sagte, dass diese Formen von sozialer Organisation in Argentinien im Prinzip vorkapitalistisch seien. „Das System ist zusammengebrochen“, sagte er, „und daher ist das, was wir jetzt erleben, die Wiedereinführung eines sozialen Systems, das durch den Kapitalismus überholt worden ist“. Ein anderer Zuhörer bemerkte, dass die Volksdemokratie historisch gesehen in vielen Fällen gescheitert sei. Als Beispiele nannte er die Bürgerrechtsbewegung und die neue Linke der 60er-Jahre. Klein konzedierte, dass auch eine direkte Demokratie an ihre Grenzen stoßen könne. Natürlich bräuchten Länder eine Regierung und einheitliche Gesetze, um zu funktionieren.

Die Bürgerversammlungen stoßen allerdings viel schneller an ihre Grenzen, als von Klein vermutet. Sie füllen Lücken, die durch die schwere politische und wirtschaftliche Krise entstanden sind. Die Argentinier sagen, es habe „ein politisches Vakuum“ gegeben, das sie zwang, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.[1] Diese Versammlungen hatten Bestand, weil die politische Elite zögerte, die Zügel in die Hand zu nehmen und das Land wieder in geordnete Bahnen zu lenken.

Klein berichtete über einen Anti-Politiker. Statt sich selbst zur Wahl zu stellen, habe er die Menschen gebeten, ihre eigenen Vorstellungen einer sinnvollen Politik auf die Wahlzettel zu schreiben. Die Leute hätten ihn bekniet, zur Wahl anzutreten, aber er habe geantwortet: „Ich kann euch nicht helfen, geht zu den Bürgerversammlungen in eurer Nachbarschaft.“ Aus meiner Sicht weist das darauf hin, dass diese Bürgerversammlungen eher eine Vertiefung der Krise in Argentinien darstellen, als einen Weg aus ihr zu weisen.

Andere neigen auch zu dieser Sichtweise. So schrieb der argentinische Wissenschaftler Guido Galafassi in der Zeitschrift Democracy and Nature, dass „die Bürgerversammlungen im Großen und Ganzen keine Lösungen aufgezeigt haben“.[2] Ein kürzlich in Argentinien erschienenes Buch, Was sind Volksversammlungen, endet mit der Frage: „Wenn wir ‚sie alle rausschmeißen’, wer oder was wird dann an ihre Stelle treten? Wird es neue politische Untertanen geben?“[3]

Klein scheint Symptome der politischen Krise mit neuen Lösungen zu verwechseln. Die Frage, die in der Diskussion an der London School of Economics nicht gestellt wurde, ist aber: Warum suchen Klein und viele andere in einer argentinischen Suppenküche nach neuen politischen Alternativen? Seit Beginn der Krise sind viele hundert Aktivisten nach Argentinien gereist, um von den dortigen lokalen Organisationen zu lernen. Mittlerweile ist auch Klein für einige Monate nach Argentinien übergesiedelt. Globalisierungsgegner betrachten das Reisen offenbar als besonders wirksame Form politischer Aktivität.

Kleins neues Buch, Fences and Windows: Dispatches from the front lines of the globalisation debate (Zäune und Fenster: Berichte von der Front in der Globalisierungsdebatte) beschreibt dieses Phänomen gut. Die internationalen Aktivisten ziehen als wandernde Schar von Protestaktion zu Protestaktion und Land zu Land. „Um die Bewegung in Schwung zu halten, hat sich eine Kultur des seriellen Protests etabliert“, so Klein. „Aber ist es das, was wir wirklich wollen: eine Bewegung von Groupies, die sich treffen und die Bürokraten des Welthandels verfolgen, als seien sie die Grateful Dead?“

„Warum suchen Naomi Klein und viele andere Globalisierungsgegner in der Dritten Welt nach neuen politischen Alternativen, anstatt zu klären, wofür man selbst steht?”

Die Aktivisten verfolgen die Mächtigen, um zu zeigen, was sie kritisieren. Aber sie verfolgen auch die Menschen in Entwicklungsländern, um ihnen zu zeigen, wofür sie sind. Die Shanty Towns in Südafrika organisieren Stromversorgungsgenossenschaften, die Bolivianer kämpfen gegen die Privatisierung der Wasserversorgung, die Palästinenser werfen mit Steinen auf israelische Soldaten, brasilianische Kleinbauern nehmen Land in Besitz – und überall tauchen die Aktivisten auf und sagen, das sei genau, was Politik sein sollte. Klein nennt das „Hoffnungsschimmer“ oder „Fenster,“ die den Weg zu einer neuen, demokratischen Alternative aufzeigen.

Vielleicht ist das so, aber vielleicht zeigen diese Beispiele auch nur, dass Menschen die Dinge selbst in die Hand nehmen, wenn das Leben einfach unerträglich wird. Es ist kein Wunder, dass die Bolivianer randalierten, als sie ihre Wasserrechnungen nicht mehr bezahlen konnten. Seltsam ist nur, dass das die Menschen in London und New York so begeistert.

In Fences and Windows beschreibt Klein die organisatorische und politische Verwirrung, die der Anti-Globalisierungsbewegung zu schaffen macht. Das Angebot des tschechischen Präsidenten Václav Havel, in Prag zwischen den Aktivisten und der Weltbank zu vermitteln, habe die Bewegung ins Chaos gestürzt. Klein beschreibt, wie Aktivisten gegen ihr eigenes Welt-Sozial-Forum demonstrierten und wie Demonstranten auf einer internationalen Konferenz darüber abstimmen durften, ob sie ihre Blockade gegen die Delegierten fortsetzen wollen oder nicht. Einige blieben, während andere gingen.
Kein Wunder, dass die Bolivianer randalierten, als sie ihre Wasserrechnungen nicht mehr bezahlen konnten.

„Seltsam ist nur, dass das die Menschen in London und New York so begeistert.”

Obwohl Klein dieser Konfusion als „Vielfalt“ und „Flexibilität“ positive Seiten abzugewinnen sucht, erkennt offenbar auch sie, dass es hier Probleme gibt. Statt sich selbst in den Griff zu bekommen und zu klären, wofür man steht, suchen die Globalisierungsgegner die Antworten in der Dritten Welt.

Klein findet trotzdem einen gewissen populären Anklang, was sich von Giddens gewiss nicht behaupten lässt. Sie betrachtet die Globalisierungsgegner kritisch und nimmt ihre Arbeit sehr ernst. An der LSE applaudierte ihr das Publikum begeistert – hauptsächlich waren es Studenten und andere junge Leute. Giddens gelang es zwar, Kleins Argumente zu zerlegen, aber sein trockener Pragmatismus ließ vermutlich die meisten Zuhörer kalt.

Klein ist es mit ihrer Suche nach einer neuen Politik und Möglichkeiten, die Welt zu verändern, zweifellos ernst. In Fences and Windows beschreibt sie, wie man sich fühlen würde, wenn die Dinge einmal anders wären: „Man hat das Gefühl, dass sich Möglichkeiten eröffnen. Es ist wie ein Stoß frischer Luft, Sauerstoff, der durch das Gehirn schießt.“ Solche Worte sprechen Aspekte an, die der Dritte Weg nicht anspricht. Kleins Worte zeigen aber, dass das linke Establishment viele Fragen offen lässt und Antworten für die Politik nach dem Ende des Kalten Krieges nicht liefern kann.

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