01.05.2003

Lieber fit und fett als schlapp und schlank

Analyse von Ulrike Gonder

Ulrike Gonder rückt dem Schlankheitswahn zu Leibe.

Dem dicken Doktor glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht – so ließe sich sinngemäß das Ergebnis einer britischen Untersuchung zusammenfassen. Danach sind die Patienten umso skeptischer hinsichtlich der ärztlichen Kompetenz, je fülliger ihr Arzt ist. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie schwer es dicke Menschen in einer Gesellschaft haben, die dem Schlankheitswahn frönt. Dicke gelten schon lange nicht mehr als gemütlich oder besonders gesellig, sondern als gefräßig, faul und inkompetent. Dicke haben schlechtere Chancen im Job, verdienen weniger, und wenn sie einen Partner finden, ist dies häufiger mit einem sozialen Abstieg verbunden als bei Schlanken.

Zu den gesellschaftlichen Problemen kommen die medizinischen: Übergewicht mit 40 Jahren sei ebenso gefährlich wie Rauchen, vermeldeten kürzlich die Presseagenturen. Wissenschaftler hatten minutiös ausgerechnet, um wie viele Lebensjahre sich ein Übergewichtiger bzw. Fettsüchtiger durch seine Leibesfülle bringt. Zudem ist hundertfach belegt, dass Dicke häufiger zuckerkrank werden, mehr Herzinfarkte und Schlaganfälle bekommen, häufiger unter Gelenkbeschwerden und Minderwertigkeitsgefühlen bis hin zu Depressionen leiden. Was also bleibt den Wohlbeleibten übrig? Wenn Dicksein so ungesund (und unerwünscht) ist, dann muss man doch etwas für seine Gesundheit tun und endlich abnehmen – oder?

„Das Körpergewicht ist nur ein Risikofaktor – und nicht die Ursache für Erkrankungen.“

Dicke Risiken?

Richtig ist zwar, dass dicke Menschen häufiger einen hohen Blutdruck, hohe Cholesterin- und Blutzuckerwerte haben und dass Übergewicht das Risiko für Diabetes, Gicht, Herzinfarkt, Schlaganfälle und bestimmte Krebsarten (zum Beispiel Darmkrebs, Brustkrebs nach den Wechseljahren) steigert. Aber: Wer fülliger ist, hat ein geringeres (!) Risiko für Osteoporose und für andere Krebsarten (zum Beispiel Lungenkrebs und Brustkrebs vor den Wechseljahren). Zudem bedeutet ein „erhöhtes Risiko“ nicht, dass der Blutdruck bei allen Dicken zwangsläufig ansteigt und dass jeder Übergewichtige frühzeitig einem Infarkt erliegt. Das Körpergewicht ist eben nur ein Risikofaktor von vielen für diese Erkrankungen – und nicht deren Ursache.

Gerne wird verschwiegen, dass sich – je nach Studie – die genannten Gesundheitsrisiken häufig nur bei den Männern und meist erst bei einem Body Mass Index (BMI) von 27 bis 30 bemerkbar machen. Das würde für einen 1,80 Meter großen Mann bedeuten, dass ein Gewicht bis 94 Kilogramm gesundheitlich eher unbedenklich ist. Dennoch wird von den meisten Fettsucht-Experten bei beiden Geschlechtern ein BMI ab 25 als „behandlungsbedürftiges Übergewicht“ eingestuft. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Was ist Übergewicht?

Heute wird das Körpergewicht üblicherweise mit Hilfe des Body Mass Index (BMI) bewertet. Diesen berechnet man mit der Formel BMI = kg / m2. Nun muss man noch wissen, welcher BMI als normal-, über- und untergewichtig gilt:
unter 20 Untergewicht
20 – 25 Normalgewicht
25 – 30 Übergewicht
über 30 Fettsucht (Adipositas)
über 40 extreme Fettsucht

Dicke Bauarbeiter leben länger

Bei der Berechnung der Risiken von zu vielen Pfunden wird oft nur das Gewicht berücksichtigt. Andere Lebensumstände wie körperliche Aktivität, Fitness oder psychosozialer Stress bleiben oft außen vor. Das kann jedoch entscheidend sein, denn auch diese Lebensstilfaktoren beeinflussen die Lebenserwartung. So staunten die Wissenschaftler der Universität Ulm nicht schlecht, als sie in den 90er-Jahren die Lebenserwartung von über 8.000 Bauarbeitern untersuchten. Wie erwartet, hatten die dickeren häufiger hohen Blutdruck, Diabetes und erste Anzeichen einer koronaren Herzerkrankung. Dennoch waren sie gesundheitlich stabiler als ihre schlanken Kollegen: sie hatten die niedrigste Sterblichkeit von allen. Die Wissenschaftler führen dies auf die körperliche Aktivität der Bauarbeiter zurück. Rückendeckung erhalten sie von amerikanischen Studien, die bestätigten, dass „fitte Fette“ eine höhere Lebenserwartung haben als schlanke Faulpelze und dass sich die Sterblichkeit durch körperliche Bewegung senken lässt – und zwar unabhängig vom Gewicht.

Vorsicht vor Umkehrschlüssen!

Aus der Tatsache, dass dicke Menschen ein anderes Risikoprofil und sehr dicke eine kürzere Lebenserwartung haben als von Natur aus Schlanke, schließt man, dass die Dicken nur abspecken müssten, um ihr Risiko zu senken. Nur, in der Realität funktioniert es so nicht. Keine Diät macht aus einem Mops einen Windhund. Dennoch wird allen übergewichtigen Menschen unentwegt empfohlen, aus gesundheitlichen Gründen abzunehmen. Das könnte jedoch unter mehreren Gesichtspunkten bedenklich sein.

„Die Natur hat uns seit Hunderttausenden von Jahren auf das Zunehmen „hingetrimmt“, um die Überlebenschancen in schlechten Zeiten zu erhöhen. Auf Abnehmen sind wir genetisch gar nicht vorbereitet.“

Erstens funktioniert Abnehmen auf Dauer meist nicht: Nach drei bis fünf Jahren haben 95 von 100 Abgespeckten ihr Ausgangsgewicht mindestens wieder erreicht. Das liegt weniger an deren Willensschwäche als vielmehr an der menschlichen Biologie. Denn die Natur hat uns seit Hunderttausenden von Jahren auf das Zunehmen „hingetrimmt“, um die Überlebenschancen in schlechten Zeiten zu erhöhen. Auf Abnehmen sind wir genetisch gar nicht vorbereitet. Und so versucht der Körper in aller Regel, ein einmal erreichtes Gewicht zu halten oder es nach einer Abspeckkur wieder zu erreichen – egal, was sein Besitzer und dessen Arzt davon halten.

Zweitens ist es keineswegs erwiesen, dass Abnehmen die Gesundheit fördert. Zwar sinken mit dem Gewicht meist der Blutdruck, die Cholesterin- und Zuckerwerte. Die bisher durchgeführten Langzeitstudien erbrachten jedoch kurioserweise, dass dies weder mit einer längeren Lebensdauer noch mit geringeren Infarktraten einhergeht. Der Ernährungswissenschaftler Nicolai Worm aus Berg am Starnberger See hat in seinem Buch Diätlos glücklich einmal alle seither erschienen wissenschaftlichen Studien zum Thema Abnehmen und Lebenserwartung ausgewertet. Sein Fazit: „Keine Langzeitstudie konnte jemals einheitlich eine Senkung der Sterblichkeit durch Abnehmen belegen. Andererseits finden 25 Studien eine zum Teil erheblich gesteigerte Sterblichkeit.“ Genauso gefährdet sind Menschen mit „Schaukelgewicht“, also jene, die häufig „auf Diät“ sind und folglich ständig ab- und wieder zunehmen. Und woran sterben die abgespeckten Dicken? Ausgerechnet an Herzinfarkt und Schlaganfall, also an jenen Krankheiten, um deren Verhütung willen man ihnen zum Abspecken riet.

Außerdem erhöhen Diäten das Risiko für Osteoporose und gefährliche Essstörungen wie Bulimie und Magersucht. Zudem werden beim Abspecken im Körperfett „endgelagerte“ Umweltgifte wie zum Beispiel Organochlorverbindungen in hoher Konzentration in den Kreislauf gespült und überfluten die Organe. Niemand weiß bisher, welche gesundheitlichen Konsequenzen das hat. Der derzeitige Stand der Wissenschaft lässt sich so zusammenfassen:

  • Gesunde Menschen mit einem stabilen Gewicht und Menschen mit einer guten körperlichen Fitness – unabhängig davon, was sie wiegen – haben die höchste Lebenserwartung.
  • Diäten führen in über 90 Prozent der Fälle nicht zu einem Dauererfolg und wenn, dann resultiert daraus nach Aussage der bisher veröffentlichten Langzeitstudien keine höhere Lebenswartung.
  • Zur Zeit wird erforscht, ob es Unterschiede zwischen Gesunden und Kranken, zwischen gewollter und ungewollter Gewichtsabnahme sowie zwischen einem verringerten Gewicht und einer verringerten Fettmenge gibt. Die vorläufigen Ergebnisse deuten darauf hin, dass insbesondere dicke Diabetiker vermutlich von einer Gewichtsabnahme profitieren. Auch spricht vieles dafür, dass bei Übergewicht bzw. Fettsucht eine Verringerung des Körperfettanteils günstig ist. Hingegen scheint eine Verringerung der fettfreien Körpersubstanz, die beim Abnehmen auch immer verloren geht, bedenklich. Wie sich das eine forcieren und das andere hemmen lässt, ist noch nicht hinreichend erforscht. Zumindest theoretisch könnte eine hohe Eiweißzufuhr in Kombination mit körperlichem Training hilfreich sein – doch ob und bei wem dies funktioniert, weiß zur Zeit noch keiner.

Was tun?

Zugegeben, die Realität ist wieder einmal komplexer und verwirrender, als die weit verbreiteten Theorien und Diätvorschläge es vermuten lassen. Dennoch lassen sich praktikable Schlüsse ziehen:

  • Übergewicht per se ist keine Krankheit, sondern eine individuelle Anpassung an unsere Umwelt. Es gibt dicke und dünne Menschen mit unterschiedlichen Krankheitsprofilen und -risiken.
  • Am besten ist es, sein Gewicht im Erwachsenenleben konstant zu halten oder nur leicht über die Jahrzehnte zuzunehmen. Neben einer vernünftigen Ernährung ist dazu eine angemessene körperliche Aktivität vonnöten.
  • Vieles spricht dafür, dass Abnehmen ebenso schädlich ist wie starkes Zunehmen, beides sollte möglichst vermieden werden.
  • Wer körperlich aktiv ist, tut mehr für seinen Körper als diejenigen, die ständig am Gewicht manipulieren.

Also: Schluss mit Diäten. Suchen Sie nach Ihrer persönlichen Essweise, mit der Sie gut satt werden, zufrieden sind und nicht zunehmen. Benutzen Sie das Essen möglichst nicht als Ersatz für Zuwendung, gegen Langeweile, Frust, Stress und Liebeskummer. Gönnen Sie Ihrer Psyche und Ihrem Körper lieber ein Ihnen angemessenes Maß an körperlicher Aktivität. Runter vom Sofa und rein in die Wander- oder Laufschuhe, rauf aufs Fahrrad oder raus in den Garten!

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