15.04.2011

Libyen: Ja, dies ist ein humanitärer Krieg und das macht ihn so gefährlich

Analyse von Brendan O’Neill

Libyen ist zu einem Objekt westlichen „Mitleids“ geworden, wie zuvor Irak, Afghanistan oder Ex-Jugoslawien. Schlimmeres kann einem Land nicht passieren. Es gibt keinen Unterschied zwischen "humanitären" oder "neokonservativen Interventionisten", meint Brendan O’Neill

Die „humanitären“ Politiker und Publizisten sind zurück. Sie würden sich selbst als Linke oder Linksliberale bezeichnen und gebärdeten sich die letzten 10 Jahre als Kriegsgegner. Der Angriff auf den Irak wurde von ihnen als „kriminell“ gebrandmarkt, den Krieg gegen Afghanistan hielten sie für „schwach begründet“. Und doch waren sie es, die das Konstrukt der „humanitären Intervention“ vor etlichen Jahren erst hoffähig gemacht haben. Jetzt entledigen sie sich ihrer, aus Gegenschaft zu George Bushs Amerika zugelegten, “antiimperialistischen Verkleidung” und nutzen den Krieg gegen Libyen für eine neue Offensive.

Die Geschwindigkeit, mit der die einstigen Gegner des Irakkriegs plötzlich für die Durchsetzung einer Flugverbotszone in Libyen warben, ist bemerkenswert. Der Fraktionschef der Grünen im Europaparlament, Daniel Cohn-Bendit, war einer der ersten, der militärische Interventionen aus „humanitären Gründen“ forderte: Die abwartende Haltung der deutschen Politik sei “menschlich und politisch völlig inakzeptabel”, wetterte er im Tagesspiegel. Die Enthaltung von Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) bei der Abstimmung um die Resolution 1973 im UN-Sicherheitsrat wurde gerade aus dem Lager der Humanitaristen besonders heftig kritisiert.

Die Chefin der grünen Bundestagsfraktion, Renate Künast, sprach sich in einer Parlamentsdebatte dafür aus, dass Deutschland in Libyen Verantwortung übernehmen müsse. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles erklärte, sie habe kein Verständnis dafür, dass sich Deutschland an dem militärischen Einsatz zum Schutz der Zivilisten nicht beteilige. Es sind dieselben Politiker, die vor gar nicht allzu langer Zeit noch als Antiirakkriegsaktivisten auf die Straße gingen, die jetzt im Bombardement von Libyen einen Ausfluss humanitärer Mitmenschlichkeit erblicken wollen – ein Standpunkt übrigens, der auch von großen Teilen der Presse vertreten wird, die in vehementer Gegnerschaft zu Bushs „Cowboypolitik“ standen. Humanitär Besorgt titelte etwa der Berliner Tagesspiegel „Das Drama wiederholt sich. Wird Libyen das zweite Kosovo?“ und bedauert dabei die Handlungsunfähigkeit der Europäer.

Zwar mögen diese wankelmütigen Falken kaum echte politische Prinzipien haben. Doch in einem Punkt muss man ihnen Recht geben: Das Bombardement von Libyen ist wirklich ein „humanitärer Krieg“ - und gerade deshalb besonders schrecklich. „Humanitäre Kriege“ sind schlimmer als die zynischen Kriege um Einflusszonen der Vergangenheit. Von Moralismus statt nüchterner Kalkulation angetrieben und von kindischen Annahmen über Gut und Böse unterfüttert sind „humanitäre Interventionen“ besonders unberechenbar. Sogar die Verbrechen der Kolonialzeit erscheinen im Vergleich zu ihnen wenigstens rational.


“Humanitäre” Interventionen = gut / “Neokonservative” Interventionen = böse?


Das erste, was wir sofort als groben Unsinn erkennen sollten, ist die Annahme, es gäbe einen Unterschied zwischen den Kriegen, die die Humanitaristen bejubeln (Kosovo 1999, Libyen heute) und den Kriegen der Bush-Regierung (Afghanistan 2001, Irak 2003). Die Annahme, es gäbe gute („humanitäre“), und “böse“ („neokonservative“) Interventionen ist trügerisch. Beide beruhen auf dem gleichen Bedürfnis der politischen Eliten des Westens, den verfahrenen und ernüchternden Niederungen der Innenpolitik zu entkommen, indem große Kämpfe zwischen Gut und Böse in der internationalen Sphäre inszeniert werden. Beide teilen die gleiche Annahme: dass sie das Recht haben, in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzugreifen.

Den „neokonservativen“ Abenteuern in Afghanistan und Irak lag die „Chicago-Doktrin“ zugrunde. 1999 hatte der damalige britische New-Labour-Premierminister Tony Blair in einer Rede in der amerikanischen Metropole am Michigansee die Umstände skizziert, unter denen der Westen militärische Interventionen einleiten könne. Blair meinte, man solle sich von der Idee der Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität lösen. Dafür solle die Bereitschaft entstehen, in „Regimen“ zu intervenieren, „die undemokratisch sind und barbarische Taten begehen“. Sein Aufruf, die angeblich übertrieben legalistische Nachkriegsordnung zu überdenken, weil sie sich allzu starr ans Völkerrecht binde, hat Bush und seine Entourage beeinflusst. Doch während man Blairs Vorstoß als „mutig“ pries, warf man Bush später vor, er breche das Völkerrecht.

Ob sie nun Kosovo-Albaner vor dem bösen Milosevic, afghanische Frauen vor den Taliban oder „die Menschen in Bengasi“ vor Gaddafi retten sollten: Am Ende sind die Interventionen der Neokonservativen wie auch die Kriege der „Humanitaristen“ nicht viel mehr als narzisstische, auf selbstgefälligem Moralismus beruhende militärische Abenteuer. Der Westen spielt den edlen Ritter und für die Menschen in den betroffenen Ländern bleibt bestenfalls eine Nebenrolle als mitleiderregende Opfer übrig. Jeder machte sich über Bushs Redewendung von der „Achse des Bösen“ lustig. Doch es waren Blair und seine „humanitären“ Claqueure, die als erste die internationalen Beziehungen hypermoralisch aufluden und den Kosovokrieg 1999 als einen „Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Demokratie und Diktatur“ stilisierten. Auch in Deutschland stieß die damalige rot-grüne Regierung um Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Vizekanzler Joschka Fischer (Grüne) ins gleiche Horn - man erinnere sich z.B. nur an Fischers hanebüchenen Auschwitz-Vergleich. Das 78 Tage dauernde Bombardement Jugoslawiens sollte unter Ausblendung der etwas komplexeren Realität als einen Krieg für „das Gute“ dargestellt werden.

Faktisch gibt es keinen Unterschied zwischen „Humanitaristen“ und „Neokonservativen“. Es handelt sich vielmehr um eine Art Sprachregelung der Bush-Gegner, um sich selbst vom Gemetzel im Irak zu distanzieren. Dabei vergessen sie aber, dass erst durch ihre Komplizenschaft bei der Entwicklung einer Doktrin, die Rechtsnormen auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen als disponibel erklärte, der Gedanke der Bekämpfung des „Bösen“ überhaupt erst ins Zentrum westlicher Außenpolitik rücken konnte. Man brandmarkte die Neokonservativen als seltsam und irregeleitet ohne wirklich für eine andere Politik zu stehen. Alle westlichen Interventionen der letzten 15 Jahre waren „humanitär“ –  gerade deshalb endeten sie im Desaster.


Humanitäre Interventionen als moralisierende PR-Shows


Das entscheidende Problem der „humanitären“ Herangehensweise ist ihre Geringschätzung klassischer politischer Interessen. An ihre Stelle tritt ein vager „moralischer“ Richtwert, der die Außen- und Sicherheitspolitik zwar „selbstlos“ erscheinen lässt, aber eine zerstörerische Wirkung entfaltet. Damit will ich nicht sagen, dass Kriege mit klaren Zielen – z.B. um Territorium hinzuzugewinnen -  gut sind. Doch wenigstens waren diese alten Interventionen verankert; sie hatten ein Ziel und ein absehbares Ende. Heute aber besteht das Ziel der „Humanitaristen“ hauptsächlich darin, ihre moralische Rechtschaffenheit gegenüber einem Gegner zur Schau zu stellen, den sie als die Verkörperung des Bösen darstellen. Im Mittelpunkt stehen PR-Shows in fremden Ländern – Shock and Awe im Irak oder Odyssey Dawn in Libyen. Die Folgen sind äußerst unberechenbar.

Als er noch zu den „Humanitaristen“ gehörte und dafür in der links-liberalen Presse gefeiert wurde, erklärte Tony Blair das Nato-Bombardement von Serbien 1999 zu einem „Krieg um Werte“. Es gehe nicht um territoriale Landnahme, sondern um einen „Kampf zwischen Gut und Böse“. Ohne es zu wissen, klang Blair fast schon wie Ayatollah Khomeini, der 1984 den Krieg Irans gegen den Irak ähnlich umschrieb: „Dies ist kein Krieg um Territorium. Es ist ein Krieg zwischen dem Islam und der Blasphemie.“ Blairs postmoderne Anflüge fundamentalistischer Religiosität in den internationalen Beziehungen wurden von den Neokonservativen dann mit Bezug auf den Irak aufgesogen: Dies sei „kein Krieg um Wohlstand“, sondern um „die Herzen und Seelen“ der Menschen. Jetzt, wo es um Libyen geht, spricht Präsident Barak Obama zwar auch ein wenig über die nationalen Interessen Amerikas – vorwiegend als Versicherung, man wolle keine Bodentruppen entsenden – , doch sagt er auch, dass der moralische Imperativ, „das Richtige zu tun“, höher zu gewichten sei. Gerade dieses bewusste Beiseite drängen nationaler Interessen zugunsten ethischer Werte hat im Endeffekt eine auf gefährliche Weise moralisch aufgeladene internationale Sphäre ohne feste Regeln geschaffen.

Indem die „Humanitaristen“ die Konflikte anderer Völker moralisieren und alles in einfachen „Gut und Böse“ Kategorien auffassen, erzeugen sie große Destabilisierungspotenziale und erhöhen die Chancen militärischer Konflikte. Viele meinten, der Westen hätte allein deshalb bereits in Libyen intervenieren müssen, um ein Massaker in Bengasi zu verhindern. Doch gerade die Intervention hat einen perfekten Nährboden für eine Spirale der Gewalt geschaffen. Ist ein politischer Konflikt in einen Kampf zwischen Gut und Böse umdefiniert, hat man am Ende weniger Spielraum für einen Waffenstillstand oder für Verhandlungen.

Die Isolation Gaddafis hat zu einer Situation geführt, in der er nichts mehr zu verlieren hat. Indem man ihn als Paria brandmarkt, zwingt man ihn förmlich dazu, tatsächlich wie eine solche zu handeln. Mehr noch: Weil der Westen die selbsternannten Führer der Rebellenbewegung als „die Guten“ behandelt, obwohl er wenig über sie weiß, erweist er dem eigentlichen libyschen Aufstand einen Bärendienst. Die Initiative könnte mehr und mehr auf dubiose Gruppen übergehen, die man fälschlicherweise für die wahren Repräsentanten des libyschen Volkes hält.


Libyen: Krieg ohne Führung, Ziel und absehbares Ende


Was die so genannte Koalition im Westen betrifft, so bedeuten ihre „humanitären“ Beweggründe nur, dass man einen Krieg ohne Führung, ohne Ziele und ohne absehbares Ende führt. Angetrieben von narzisstischen Motiven, verlieren sich David Cameron, Nicolas Sarkozy und Barak Obama in einer Bombenkampagne - und das, um angeblich Werten wie Anstand oder Moral zu genügen. Man erkennt hier eine Art von Rücksichtslosigkeit und Unachtsamkeit, die aus der „humanitären“ Weltsicht resultiert: Indem Moral über territoriale Ambitionen und über Realpolitik gestellt wird, entsteht eine Situation, in der orientierungslose Eliten Kriege um ihrer Effekte willen führen. Dabei gibt es kaum Analysen, was später daraus folgen möge. Libyen ist in diesem Krieg kein kolonialer Außenposten, sondern eine Bühne für die amateurhaften, aber tödlichen Dramen westlicher Politiker. Die mit ihnen verbündeten Medien unterstützen sie bei ihrer verzweifelten Suche nach einem moralischen Legitimationsgrund.

Manch einer mag meinen, nicht die abstrakte Idee des Humanitarismus sei kritikwürdig, sondern ihre Umsetzung. So verweist etwa Jonathan Freedland vom Guardian auf die unbedachte Art, wie man in diesen Krieg steuerte. Dies liegt aber im Charakter dieser Art des „Humanitarismus“, der die Realpolitik geringschätzt, dafür aber seine Moralvorstellungen umso lauter heraus posaunt. Der unbedachte Impuls, „etwas zu tun“, führt dazu, dass keine nachvollziehbare, operationelle Kriegsführung vorhanden ist. Dies ist der Wesenszug des „Humanitarismus“, der in Konfliktgebiete eindringt, um dort die eigenen Werte zur Schau zu stellen.

Das ist der Grund, weshalb Spiked und NovoArgumente gegen den doppelzüngigen „humanitären“ Krieg in Libyen sind: Er ist rücksichtslos, unberechenbar und zerstörerisch. Der Libyen-Krieg schiebt nur den Tag auf, an dem endlich die libyschen Bürger, und nicht die vom Westen willkürlich bevorzugten Warlords, ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen können.

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