03.03.2025
Liberal heißt auch freie Meinungsäußerung
Christian Lindner, Noch-Chef der aus dem Bundestag gewählten FDP, verklagt ein Satiremagazin. Seine Partei hat zum schlechten Zustand der Meinungsfreiheit in Deutschland beigetragen.
Die FDP könnte nach dieser Wahl Geschichte sein. Über die Gründe für ihren Absturz in der Wählergunst ist schon viel geschrieben worden. Dazu gehört zum Beispiel die Zustimmung zum missglückten Heizungsgesetz. Ein anderer Aspekt wurde bisher jedoch nicht erwähnt: Das fragwürdige Verhältnis vieler ihrer Mitglieder zur Meinungsfreiheit.
Wen wundert es, dass Christian Lindner laut Spiegel eine Klage gegen das Satiremagazin Titanic erwägt, weil es sich über ihn und die Schwangerschaft seiner Frau lustig gemacht hat? Dabei sollten gerade Liberale den Grundsatz verteidigen, an den die britische Guardian-Journalistin Jodie Ginsberg nach den tödlichen Anschlägen in Paris und Kopenhagen 2015 erinnerte: Die freie Meinungsäußerung ist nichts wert ohne das Recht, andere zu beleidigen. Ähnlich formulierte es Salman Rushdie, der große Schriftsteller und Kämpfer für die Meinungsfreiheit: „Niemand hat das Recht, nicht beleidigt zu werden.“
Doch schon in der letzten Legislaturperiode wurde immer wieder deutlich, dass viele in der FDP dem wichtigsten aller Freiheitsrechte wenig Bedeutung beimessen. So musste ausgerechnet ein ausländischer Fernsehsender auf den schlechten Zustand der Meinungsfreiheit in Deutschland hinweisen. Noch vor der Wahl strahlte der amerikanische Sender CBS eine Reportage mit dem Titel „Hassrede im Internet zu veröffentlichen, kann in diesem europäischen Land zu einer Hausdurchsuchung durch die Polizei führen“ aus. Zu Wort kamen unter anderem drei Staatsanwälte und Josephine Ballon, Leiterin der Organisation HateAid. Alle Interviewpartner zeigten eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schutz der Meinungsfreiheit.
Die in der Sendung vorgestellten Fälle gehen fast alle auf den im Frühjahr 2021 erweiterten § 188 StGB – Beleidigung von Personen des politischen Lebens – zurück. Einer dieser Fälle ist der des bayerischen Ruheständlers, dessen Wohnung im November letzten Jahres frühmorgens von der Polizei durchsucht wurde, weil er einen Tweet weitergeleitet hatte, in dem Robert Habeck als „Schwachkopf“ bezeichnet wurde. Doch sein Fall ist nur einer von Hunderten.
„Der klassische Liberalismus betont den Schutz der Bürger vor der Staatsgewalt – und nicht umgekehrt.“
Für die Freiheitspartei FDP ist es wenig schmeichelhaft, dass eine ihrer Spitzenpolitikerinnen zu den fleißigsten Anzeigenerstattern gehört: Laut Medienberichten vom September 2024 führt Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die für die Partei derzeit im Europaparlament sitzt, mit fast 1900 Anzeigen die Liste derer an, die auf diese Weise gegen Beleidigungen vorgehen. Es folgen Robert Habeck mit über 800 und Annalena Baerbock mit 513 Anzeigen. Unter den von Strack-Zimmermann Angezeigten ist zum Beispiel ein 50-jähriger Augsburger. Der Mann wurde zu einer Geldstrafe von 2250 Euro verurteilt, weil er sie im Internet als „Bitch“ bezeichnet hatte.
Zwar sind Politiker zweifellos heftigen verbalen Angriffen ausgesetzt. Diese sollten jedoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in denen Politiker direkt bedroht werden, nicht strafbar sein. In einer liberalen Demokratie müssen die Bürger die Freiheit haben, auch ihre Frustration über die Regierenden frei zum Ausdruck zu bringen. Zudem betont der klassische Liberalismus den Schutz der Bürger vor der Staatsgewalt – und nicht umgekehrt. Dem in Ungnade gefallenen ehemaligen Chef des Bundesverfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, ist zuzustimmen, wenn er sagt, der § 188 habe „eine Zweiklassengesellschaft zementiert“. Es sei nicht einzusehen, warum Politiker privilegiert und besonders geschützt werden müssten. Sie könnten sich in der Regel sogar besser verteidigen als der Normalbürger und stünden auch nicht über dem Gesetz.
Eine Folge des Gesetzes ist, dass es Aktivisten ein neues Geschäftsmodell geboten hat. Ein Start-up-Unternehmen namens So Done, gegründet – welch Ironie! – von Mitgliedern der Jungen Liberalen durchsucht das Internet nach potenziell strafbaren Inhalten und ermutigt Politiker, Anzeige zu erstatten.
„Ob die neue Regierung die repressiven Gesetze gegen die Meinungsfreiheit in Deutschland abschafft und der Versuchung widersteht, Kritiker zu stigmatisieren, wird ein Prüfstein für ihr Engagement für die Demokratie in Deutschland sein.“
Lobenswert ist immerhin, dass bei einer anderen Partei, der CDU, die Basis eine Petition zur Abschaffung des §188 gestartet hat: „Im Gegensatz zu vielen Berufspolitikern, die durch unzählige Rhetorik-Seminare eine weichgespülte Sprache nutzen, sprechen und schreiben Bürger alltagsnah und direkter. Gerade in emotional aufgeladenen Momenten, etwa bei Sorgen um Wohlstand, Freiheit oder Sicherheit, müssen ihm von Seiten des Staates unbedachte Äußerungen nachgesehen werden – ohne dass er Angst vor Hausdurchsuchungen oder dem Verlust seines sozialen Ansehens haben muss.“ Leider fehlten der Petition 354 Unterschriften. (Von den 500 notwendigen Unterschriften hatte die Initiative bis zum CDU-Parteitag nur 146 erhalten).
Zu den weiteren Paragraphen, die die Meinungsfreiheit stark einschränken und in den letzten Jahren vermehrt zur Anwendung gekommen sind, gehört auch § 130 StGB – Volksverhetzung. So wurde im Januar dieses Jahres eine 74-jährige Frau zu einer Geldstrafe von 7950 Euro verurteilt. Ihr Vergehen? Sie hatte als Reaktion auf einen Artikel von Robert Habeck, in dem dieser Migration nach Deutschland als notwendig bezeichnete, auf Facebook gepostet: „Blablabla. Wir brauchen Fachkräfte und keine Asylanten, die sich hier nur ein schönes Leben machen wollen, ohne unsere Werte und Kultur zu respektieren. Schickt die, die hier sind, mal zum Arbeiten. Wir sind nicht auf Faulenzer und Schmarotzer angewiesen und schon gar nicht auf Messerkünstler und Vergewaltiger.“
Für die Titanic könnte Linders geplante Klage eine gute Werbung sein. Die Redaktion kündigte an, sie werde auf jeden Fall versuchen, den Prozess vor dem Landgericht Sylt verhandeln zu lassen, weil es dort in der Kantine gratis Sekt und Krabbenbrötchen gebe. Der Normalbürger hingegen kann nur hoffen, dass die Politiker der neuen Regierung ein Einsehen haben und sich nicht mehr wie dünnhäutige Tyrannen aufführen, sobald sie eine Beleidigung oder sonstige Unverschämtheit wittern.
Ob die neue Regierung die repressiven Gesetze gegen die Meinungsfreiheit in Deutschland abschafft und der Versuchung widersteht, Kritiker zu stigmatisieren, wird ein Prüfstein für ihr Engagement für die Demokratie in Deutschland sein.