01.01.2007

Lernen aus dem Fall Kevin?

Von Sabine Beppler-Spahl

Sabine Beppler-Spahl über falsches Misstrauen gegenüber Eltern.

Im Oktober 2006 wurde der zweijährige Kevin, der unter der Vormundschaft des Bremer Jugendamtes stand, tot im Kühlschrank seines drogenabhängigen Stiefvaters gefunden. „Kevin hat uns gezeigt, was Erwachsene in dieser hochzivilisierten, wohlhabenden Gesellschaft Kindern, also den Schwächsten, Wehrlosesten antun“, kommentiert Jutta Kramm in der Berliner Zeitung den Kindermord. Die Formulierung „antun“, statt „antun können“, ist, man darf dies annehmen, bewusst gewählt. Erwachsene im Allgemeinen (und Eltern im Besonderen), so wird suggeriert, stellen eine Gefahr für Kinder dar. Der Junkie aus Bremen, der seit Jahren durch aggressives und asoziales Verhalten auffiel, steht plötzlich stellvertretend für viele (wenn nicht für uns alle).
Die Misshandlung und Tötung von kleinen Kindern als eine Art grausame Normalität zu betrachten, ist eine Interpretation der Realität, die wir längst nicht mehr nur bei Lobbygruppen (radikalen Kinderschützern) antreffen. Das Gefühl, mit unseren Familien, Eltern und Kindern stimme etwas nicht, ist tief verankert. Dieses diffuse Gefühl der Unsicherheit speist sich nicht allein aus den medienwirksamen Berichten über einzelne Straftaten, sondern es wird z.T. auch von Politik und Wissenschaft befördert. Im Oktober dieses Jahres, während die Medien noch mit dem Fall Kevin beschäftigt waren, meldete sich der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann mit der Behauptung zu Wort, in Deutschland seien mehr Kinder in Gefahr, als bisher angenommen wurde. [1]
Im Rahmen einer Debatte, die von zahlreichen diffusen Ängsten geprägt ist und in der sich ernsthafte Analysen mit horrenden Spekulationen, Schätzungen und ungültigen Verallgemeinerungen mischen, muss alles, was nach Panik klingt, kritisch beleuchtet werden. Es geht weder darum, die uns bekannten Fälle zu verharmlosen, noch darum, zu bestreiten, dass manche Kinder besser außerhalb ihrer Familien aufgehoben sind oder wären. Es geht vielmehr um die grundsätzliche Frage, ob unsere Kinder wirklich in zunehmendem Maße bedroht sind. Vieles weist darauf hin, dass die gegenwärtige Missbrauchsdebatte eher ein Zeitgeistphänomen ist und ihre Wurzeln weniger in der Realität, als vielmehr in unseren gefühlten Ängsten hat.


„Sie kennen nur die Krise …“
„Gebt die Familienpolitik nicht in die Hände von Strafrichtern und Jugendpflegern, die kennen nur die Krise. Wir aber müssen Normativität und Normalität wieder zusammenbringen … Der Vater, der sich um seine Kinder kümmert, ist eben der Normalfall, und nicht umgekehrt, also muss das auch als Norm für die Gesetzgebung dienen und nicht umgekehrt.“ [2]
Leider verhallen diese warnenden Worte des früheren Bundesverfassungsrichters Professor Paul Kirchhof in einer Zeit, die durch ein zunehmendes Misstrauen gegenüber anderen Mitmenschen und ein überhöhtes Risikobewusstsein gekennzeichnet ist – das in Hinblick auf unschuldige Kinder seinen deutlichsten Ausdruck findet –, mehr oder minder ungehört. Es sind schon längst nicht mehr nur die Jugendpfleger und Strafrichter, die (berufsbedingt) nur die Probleme sehen. Seit einigen Jahren schon dominiert das Bild einer Gesellschaft, die im Verborgenen (also im Privaten und Persönlichen) voller Gefahren stecke. Doch es gibt eine Diskrepanz zwischen dieser Wahrnehmung und der Realität. Betrachtet man die harten Fakten (also die Zahl der Kinder, die tatsächlich in der Obhut ihrer Eltern oder Pfleger sterben), kann von einer Misshandlungsepidemie nicht die Rede sein. Wenn überhaupt, können wir einen Rückgang solcher Straftaten beobachten.
Anfang November wurde in Berlin eine neue Studie des UN-Kinderhilfswerks Unicef präsentiert. Jede Woche, so die Studie, sterben in Deutschland zwei Kinder, weil sie vernachlässigt oder misshandelt werden. Die Zahl „zwei pro Woche“ klingt dramatisch und wurde unkritisch in vielen Zeitungen wiedergegeben. Auf das Jahr umgerechnet wären das über 100 Kinder. Es handelt sich bei dieser Zahl jedoch nur um eine Schätzung, die auf der offiziellen Unfall- und Todesfallstatistik in Deutschland basiert und zu dem gleichen Ergebnis wie die bereits im Jahr 2003 präsentierte internationale Unicef-Studie zu Kindestötungen in den OECD-Ländern kommt. Schon damals wurden die tatsächlich bekannten Opferzahlen durch eine geschätzte Dunkelziffer ergänzt. Dieser mehr der öffentlichen Bewusstseinsbildung dienenden Darstellung stehen andere Angaben gegenüber.
Die Professorin für Gynäkologische Psychosomatik Anke Rohde sagte in einem 2003 gehaltenen Vortrag: „Verlässliche Zahlen über die Häufigkeit von Kindstötungen (Infantizide) und Kindesaussetzungen existieren kaum. Bezüglich der Aussetzung von Kindern wird für Deutschland von etwa 40 bis 50 Fällen pro Jahr ausgegangen … Bezüglich der Tötung des eigenen Kindes muss von ähnlichen Häufigkeiten ausgegangen werden, auch hierzu existieren keine verlässlichen Zahlen.“ [3] Rohde geht davon aus, dass etwa die Hälfte der von den Eltern getöteten Kinder Neugeborene sind. Ihre eigenen Hochrechnungen führen zu einer Häufigkeit von 1 zu 25.000 Geburten. Bei einer Geburtenratenzahl von 700.000 käme man so auf 28 Fälle (Neonatizide). Die Organisation „terre des hommes“ präsentiert in ihrer Studie „Aussetzungen und Tötungen von Neugeborenen in Deutschland von 1999 bis 2006“ eine eigene Statistik.[4]
 

  1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Tötungen bzw. Aussetzungen zum Tode 21 17 17 20 31 19 20 11

[4] Quelle: terre des hommes


Diese Zahlen beruhen auf Medienauswertungen und müssen daher als Mindestangaben verstanden werden, da nicht jedes Tötungsdelikt zur Aufklärung kommt oder entdeckt wird. Ein klares Bild ergeben die Statistiken hinsichtlich längerfristiger Entwicklungen. Auch wenn die Medienberichte eher das Gegenteil suggerieren, zeigt sich, dass die Zahl der getöteten Kinder in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich zurückgegangen ist.
Der entscheidende Wandel in Hinblick auf die Lebensrealität von Kindern in Deutschland hat sich in unseren Köpfen vollzogen und offenbart sich in unserer Wahrnehmung der Misshandlungs- und Tötungsfälle. Jeder traurige Einzelfall wird zur Spitze eines vermeintlichen Eisbergs erklärt, auch wenn dies in keiner Weise rational zu begründen ist. Vor 20 Jahren noch glaubte man, dass Kinder in ihren Familien in der Regel gut behandelt werden. Heute gilt als naiv und unverantwortlich, wer nicht vom „Worst-case“-Szenario ausgeht. Kinderärzte, Erzieher, Lehrer, Polizisten und Sozialarbeiter werden durch öffentliche Kampagnen regelrecht dazu angehalten, ständig nach Anzeichen für eine mögliche Straftat zu suchen und potenzielle Mörder-Eltern ausfindig zu machen.
Hinzu kommt, dass der Begriff der Misshandlung immer breiter gefasst und auch auf psychische oder emotionale Misshandlung ausgedehnt wurde. Dies erklärt, weshalb die bundesweite Kriminalstatistik jedes Jahr mehr Misshandlungsfälle registriert.
 

„Nicht die drohende Überwachung von ‚oben‘ ist das größte Problem, sondern die Kultur des Misstrauens, die sich letztlich gegen uns alle richtet.“



Irrationale Ängste
Auffällig ist, wie wenig zwischen den vermeintlichen Risiken, denen Kinder heute ausgesetzt sind, differenziert wird. Wir haben es mit einem diffusen Sammelsurium von Problemen zu tun, die in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Einheit verschmelzen. Der eingangs zitierte Hurrelmann lieferte hierfür in einem Gespräch mit der Wochenzeitung Die Zeit im November 2006 ein Beispiel. Ausgehend vom Tod des Jungen in Bremen, sprach Hurrelmann von 80.000 weiteren Kindern, über denen „täglich eine Katastrophe“ hänge. Im gleichen Atemzug führte er weiter aus, dass es bei 15 Prozent der Eltern massive Erziehungsprobleme gebe, um dann bei einem Drittel aller Eltern anzulangen, die erhebliche Schwierigkeiten mit der eigenen Mutter- oder Vaterrolle hätten. [5] Zwischen Erziehungsproblemen und Kindsmord liegen jedoch Welten. Eltern, die ihre Kinder umbringen, haben gewiss sehr viele Probleme, doch Erziehungsprobleme dürften dabei nur die geringste Rolle spielen. Auch ist es angesichts der Zahl der tatsächlichen Todesfälle schwer zu glauben, jeden Tag liefen 80.000 Kinder Gefahr, in ihren Familien ermordet zu werden. Hurrelmann erinnert zurecht daran, dass sich statistisch eine Zunahme von Kindesmisshandlung und -verwahrlosung nicht nachweisen lässt. Er glaubt jedoch, dass die „gefühlte“ Steigerung ihre Gründe haben muss. Wenn man sieht, wie leicht manchen Kommentatoren der Übergang von einzelnen Randerscheinungen hin zu einem Drittel aller Eltern fällt, braucht man sich über eine „gefühlte Steigerung“ kaum zu wundern. Die von Hurrelmann erwähnte vermeintliche Überforderung von Eltern speist unser überhöhtes Risikobewusstsein und ist eine wesentliche Ursache für die gefühlte Gefahr.
Die diffusen Bedrohungen, denen unsere Kinder angeblich ausgesetzt sind, haben viele Facetten, und es wäre falsch zu behaupten, es gäbe keine kritischen Stimmen, die hier eine Überreaktion erkennen. Selbst der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, Thomas Krüger, warnt angesichts der Kindstötungen vor einem allgemeinen „Alarmismus“. Andere geben zu bedenken, dass mittlerweile viele Kinder überbehütet sind. Wieder andere beklagen die übertriebene Angst vor Kindermördern (oft, um dann die wenig beruhigende Aussage zu treffen, die meisten Gewalttaten fänden ohnehin im eigenen, familiären Kreis statt). Doch die wenigsten – und hier liegt das größte Problem – haben an den Vorschlägen, Familien und Eltern müssten zum Schutz der Kinder stärker kontrolliert werden, etwas auszusetzen. In diesem Sinne liegt Hurrelmann im Trend der Zeit, wenn er die Forderung unterstützt, verbindliche Elternkurse einzuführen.
Die englische Kinderschutzspezialistin und Dozentin an der London School of Economics, Eileen Munro, hat bei einer von ihr im Juni 2006 organisierten Konferenz die Gefahren einer stärkeren Überwachung von Familien und Eltern überzeugend dargelegt. Sie wies auf eine Wahrheit hin, die in zunehmende Vergessenheit zu geraten droht: Für die große Mehrheit der Kinder stellen die eigenen Eltern nach wie vor den größten Schutz dar. „Familien“, so Munro weiterhin, „sind für die meisten von uns ein sicherer Hafen, der uns Schutz bietet und es uns ermöglicht, sowohl ein privates als auch ein öffentliches Leben zu führen.“ [6]
Wir laufen Gefahr, diesen Ort des Schutzes, der unser Leben entscheidend bereichert, zu untergraben. Nicht die drohende Überwachung von „oben“ (durch den Staat) ist dabei das größte Problem, sondern die Kultur des Misstrauens, die sich letztlich gegen uns alle richtet. Als Grundsatz muss gelten: Dort, wo es keinen Anlass gibt, groben Missbrauch zu vermuten, müssen Eltern das Recht haben, ihre Kinder selbstständig und ohne äußere Einmischung zu erziehen. Nur so schaffen wir es, der unendlichen Ausweitung des Missbrauchsbegriffs sowie der zunehmenden Intervention ins Privatleben aller entgegenzutreten. Kinderschutz ist wichtig, aber der Schutz der Privatsphäre ist es auch. Übertriebene Ängste und ein ungesundes Misstrauen richten enormen Schaden an und tragen nichts dazu bei, die wenigen tragischen Fälle von Gewaltkriminalität gegen Kinder zu verhindern. Wer die Institution Familie unterminiert, schadet Kindern.

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