29.07.2011

„Krise“:  Das neue Modewort in Brüssel

Von Frank Furedi

Finanz-, Flüchtlings- und Legitimitätskrise: Die EU hat es mit drängenden Problemen zu tun. Gleichzeitig kapseln sich die Eliten immer mehr von den Bürgern ab. Aber ohne öffentlichen Druck und Rechenschaftspflicht können keine tragfähige Lösungen erarbeitet werden, meint Frank Furedi

Während ich kürzlich Brüssel besuchte, war ich erstaunt, wie Insider dort hemmungslos das Wort „Krise“ gebrauchten. Krisengerede ist in Brüssel zwar nichts Neues. Doch heute lassen sich Angst und Verwirrung mit Händen greifen. Selbst die energischsten Befürworter der EU sind davon betroffen.

Das lässt sich zwar auch als Symptom der bitteren Konflikte abtun, die durch die Krise der Eurozone ausgelöst wurden. Dass man Griechenland aber auch Irland und Portugal mit riesigen Geldmengen beistehen muss, um ihre Pleite abzuwenden, erklärt nicht alles. Die aktuellen Probleme beschränken sich nämlich nicht nur auf die ökonomische Sphäre; die EU ist auch durch eine politische und kulturelle Krise bedroht.

Die Lage der griechischen Wirtschaft ist anerkanntermaßen katastrophal. Alle wissen seit Monaten, dass man um eine Restrukturierung der griechischen Schulden nicht herumkommen wird. Doch auf dem jüngsten EU-Gipfel wurde das Unausweichliche erneut durch ein Rettungspaket aufgeschoben, das Europas Banken und Staaten zu weiteren Stützungszahlungen verpflichtet – obgleich man mehr oder weniger wusste, dass sie Griechenland bestenfalls vorübergehend Luft verschaffen werden. Und schon wird deutlich, dass auch diese Milliarden an den Finanzmärkten wenig Eindruck machen. Neben Irland, Portugal und Spanien droht nun auch Italien der Staatsbankrott. Die Medizin wirkt einfach nicht, und die Eurozone gerät in immer dramatischere Turbulenzen.

Entsprechend wächst der Euroskeptizismus in den wohlhabenderen Regionen Europas. In Deutschland zeigte eine Umfrage kürzlich, dass 30 Prozent der Befragten ein „unabhängiges Deutschland“ befürworten und die Rückkehr der D-Mark verlangen. Daher mahnt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Griechenland unentwegt zu entschlossenerem Sparen. Ein portugiesischer Journalist beschreibt diesen Vorgang als das Füttern des populistischen Monsters, das in der Eurozone heranwächst. Doch es wird davon nicht einfach verschwinden.

In Finnland haben vor einigen Monaten die „Wahren Finnen“, eine nationalistische Partei, die gegen die Rettungspakete ist, aus dem Stand fast 20 Prozent der Wählerstimmen gewonnen und wurden zur drittstärksten Partei. Ihr Erfolg zeigt, dass die ökonomischen Verwerfungen sich inzwischen zu einer politischen Krise auswachsen. Die europhile politische Klasse verliert rapide an Autorität und steht wachsenden euroskeptischen und populistischen Bewegungen gegenüber.

Auch die Flüchtlingskrise im Gefolge des „arabischen Frühlings“ erweist sich als Belastung der europäischen Einheit. Zunächst feierten die europäischen Staatschefs die Rebellion in Nordafrika, und man hoffte, Brüssel könne hier seine diplomatische Softpower zur Geltung bringen. Doch leider ist die EU in der Person der Britin Cathrine Ashton mit einer ungewöhnlich ungeschickten Repräsentantin gesegnet. Seit ihrer Ernennung vor über anderthalb Jahren ist die ehemalige Labour-Politikerin beißender Kritik ausgesetzt. Ihre Unfähigkeit, eine Strategie für den Umgang mit dem Umbruch in Nordafrika und Nahost zu entwickeln, ist ein weiteres Indiz der politischen Lähmung Europas. Und unterdessen sorgt die Ankunft zahlreicher Flüchtlinge aus der Region für neuen Zündstoff in der EU.

Die Frage, wer denn die Verantwortung für das Wohlergehen der Flüchtlinge übernehmen soll, hat zu einem grundlegenden Streit über die Bedeutung der nationalen Souveränität innerhalb Europas geführt. Angesichts der von Italiens Premierminister Silvio Berlusconi als „menschlichen Tsunami“ bezeichneten Flüchtlingswelle verlangte seine Regierung zusammen mit den Führungen anderer Staaten, den freien Verkehr im Schengenraum aufzuheben. Kurze Zeit später hat dann der kleine und bekanntermaßen liberale Staat Dänemark ohne Absprache mit anderen Ländern tatsächlich permanente Grenzkontrollen eingeführt. Dies ist ein schwerer Rückschlag für die Europäische Union, denn die grenzüberschreitende Bewegungsfreiheit innerhalb der ganzen Union ist eines der zentralen Symbole des europäischen Einigungsprojekts.

Wie vorherzusehen, reagierte der Präsident der Europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso, mit einer scharfen Warnung vor solch gefährlichen „unilateralen Schritten“. Die EU-Kommission drohte sogar mit einer Klage gegen das Land. Einzelne Politiker riefen zu einem Urlaubsboykott auf. Barroso und seine Kollegen befürchten nicht zu Unrecht, dass sich nach den Dänen weitere Länder ermächtigt fühlen könnten, ihre nationalen Interessen robuster zu verfolgen. Schließlich sind Vorbehalte gegenüber offenen Grenzen in ganz Westeuropa ein Thema. Die Idee, dass offene Grenzen Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel sowie Arbeitslosigkeit und kulturelle Konflikte befördern, stößt heute auf breite Resonanz. Und das wiederum hat zur Folge, dass viele die europäische Idee für die Unsicherheiten verantwortlich machen, die sie – ob zu Recht oder Unrecht – als Bedrohung wahrnehmen.

Die einzige Antwort aus Brüssel auf diese missliche Lage scheint darin zu bestehen, immer mehr Geld in PR-Maßnahmen zu stecken. Die Europäische Kommission investiert mehrstellige Millionensummen in ihre zahlreichen Propagandakampagnen, um die europäische Politik zu „erklären“ und sich „besser mit den Bürgern zu verbinden“. So möchte man „das Bewusstsein der Existenz der Union erhöhen, ihre Legitimität stärken, ihr Image aufwerten und ihre Rolle beleuchten“.

Dass die EU die Dienste hunderter Spindoktoren benötigt, um den Bürgern ihre Legitimität „bewusster“ zu machen, belegt wie gering ihre tatsächliche Legitimität in den Augen der Öffentlichkeit heute ist.

Früher befürchtete man, deutsch-französische Rivalitäten könnten die europäische Einheit untergraben. Doch Europa erwies sich stattdessen als sehr effektiv in der Handhabung der historischen innereuropäischen Konflikte, die in der Vergangenheit für große Turbulenzen sorgten. Sogar die Herausforderung der deutschen Einheit und der Aufnahme Osteuropas in die EU wurde reibungslos bewältigt.

Dass das alles so problemlos verlief, liegt daran, dass man in diesen großen Einigungsschritten der achtziger und neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht auf öffentliche Zustimmung angewiesen war. Der entscheidende Charakterzug der EU-Politik besteht darin, dass sie ihre Entscheidungsprozesse bewusst von der Öffentlichkeit abkapselt. Vom Standpunkt der politischen Eliten Europas liegt einer der Vorzüge der EU-Institutionen in der Isolierung der Entscheidungsträger von den Formen öffentlichen Drucks und öffentlicher Rechenschaftspflicht, denen Politiker normalerweise in den nationalen Parlamenten ausgesetzt sind. Deshalb kann die EU auch politische Entscheidungen treffen, die unter offeneren parlamentarisch-demokratischen Gegebenheiten umstritten wären und sich schwerer rechtfertigen ließen. In allen Ländern Europas verstecken sich die Politiker immer wieder hinter den undurchschaubaren Entscheidungsprozessen der EU-Apparate.

Es ist für Politiker natürlich recht angenehm, ihre Entscheidungen öffentlichkeitsfern zu treffen. Doch die Sache hat einen Haken: diese Form bürokratischer Elitenherrschaft beeinträchtigt nicht nur die Legitimität der Politiker Europas, sondern damit auch ihre Fähigkeit, die Wähler zu überzeugen oder gar inspirieren. Deshalb braucht die EU PR-Maßnahmen, um ihr Legitimationsdefizit zu kompensieren. Doch Loyalität und Begeisterung lassen sich kaum durch Spindoktoren wecken.

Früher gelang es der EU recht gut, hinter verschlossenen Türen den reibungslosen Ablauf ihrer Verhandlungen zu gewährleisten. Doch Entscheidungen, die das Leben hunderter Millionen von EU-Bürgern beeinflussen, lassen sich heute nicht mehr gegen den wachsenden Ärger der Öffentlichkeit abschotten. Dass die Dänen den EU-Verträgen trotzen, zeigt, dass zumindest eine Regierung erkennt, dass es auf Dauer keine Option mehr ist, sich hinter undurchschaubaren Entscheidungsprozessen zu verstecken.

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