27.08.2018

Kleinvieh macht Mist

Von Matthias Kraus

Titelbild

Foto: Nicolai Berntsen via Unsplash / CC0

Die Allgemeinheit gilt in der Werbung und Politik als minderbemittelte Masse, unfähig, wichtige Entscheidungen zu treffen. Die vorgebliche Masse besteht aber aus abwägenden Individuen, die sich nicht gern für dumm verkaufen lassen.

Mein Job ist es, den Alleinstellungsmerkmalen von Produkten oder Dienstleistungen Beine zu machen, auf dass das beworbene Produkt aus dem allgemeinen Grundrauschen herausrage. Die Kollegen aus dem Marketing und im Produktmanagement bevorzugen statt solcher Zuspitzungen argumentativ lieber die Breite. Jeder noch so nachrangige Aspekt soll erwähnt, jedes Stichwort der langen Featureliste soll abgehakt sein. Ideen, die über das Offensichtliche und Altbekannte (auf werbisch: Me Too) hinausgehen, werden flugs abgewunken, dafür seien die Leute „zu dumm“. Ambivalenzen und Spitzfindigkeiten seien deshalb zu unterlassen. Man könnte meinen, die Menschen an ihren Empfangsgeräten freuen sich, wenn bei ihnen auch mal der Groschen fallen darf; sie sehen das Produkt dann gleich mit anderen Augen, appelliert es doch an ihren Feingeist und Intellekt. Doch was, wenn in den Hirnkästen „der Masse“ gar kein Groschen vorhanden wäre, der fallen könnte? Dann wäre es wohl sinnvoller, ein kleinstes gemeinsames Sujet zu finden, welches auch noch die schlichtesten Gemüter da draußen erfassen können.

Das könnte zum Beispiel ein rotbackiges Zahnfeemädchen sein, das die zu bewerbende Wurstsorte bei Opa auf dem idyllischen Gutshof sooo gerne mag. Für gesetzliche Krankenversicherungen bieten sich konforme Jugendliche beiderlei Geschlechts an, chillend in urbanem Graffiti-Surrounding, einer der Jungs ein Skateboard unter dem Arm, die Off-Sprecherin duzt sie im Plural „Hey Ihr, habt Ihr eigentlich schon mal über einen Gesundheitscheck nachgedacht?“. Handelt es sich hingegen um ein Business-to-Business-Thema, schütteln Frau Esprit und Herr Strellson unterschiedlicher Ethnie im hell gehaltenen Atrium kernig die Endzwanzigerhände und blicken sich verbindlich in die Augen, ohne dabei die professionelle, vage freundliche Miene zu verziehen.

Vermeintliche Hohlköpfe mit Plattitüden zum Konsum zu übertölpeln funktioniert nicht. Es ist nämlich so: Die Dummheitsannahme bei den lieben Konsumenten beruht auf einer Verwechslung. Eine Vielzahl von Individuen ist nicht gleichzusetzen mit einer Herde, einzelne funktionieren anders als Gruppen. Auch wenn wir Tausende von ihnen als „Zielgruppe“ in einen Topf werfen, verstehen sie selbst sich noch lange nicht als Einheit und verhalten sich auch nicht so.

„Seit bereits 250 Jahren gilt das Individuum grundsätzlich als vernunftbegabt.“

Schließen sich Individuen hingegen aus freien Stücken einer Gruppe an, interessenbedingt oder spontan, sei es ein Shawn-Mendes-Konzert, der Rosenmontagszug, ein Pegida-Schaulaufen oder die G20-Demo, dann schränken sie freiwillig ihre mentale Bandbreite zugunsten kollektiver Schlagkraft ein. Im Rausch der Sinne und im Bewusstsein eines gemeinsamen Ziels verschmelzen sie zu einer Art Superorganismus, vergleichbar mit einem Sardinenschwarm, einem Bienenstock oder einer Herde Schafe. Wegen ihres kollektiven Tunnelblicks sind Gruppen anfällig für Manipulation, das macht sie so unheimlich (und rhetorisch geschickte Demagogen so gefährlich). Doch kaum gehen die Leute wieder nach Hause, verpufft der Bann der Masse Stück für Stück, schnell sind sie wieder halbwegs nüchtern und für Abwägungen empfänglicher. Mit Intelligenz oder Charakterstärke hat das nichts zu tun. Auch einfache Geister sind in der Lage, zu beurteilen, ob etwas gut für sie ist oder vielleicht nicht. Auch sie haben einen inneren Kompass, eine Intuition, eine Heuristik, das ist ein Überlebensmechanismus. Verbalakrobaten können ihre Beweggründe lediglich eloquenter rationalisieren, nachträglich .

Die Fähigkeit aller Bürger zur Vernunft war der Schlüssel für aufklärerische Ideen wie persönliche Handlungsfreiheit, Bürgerrechte, Demokratie und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948. Seit bereits 250 Jahren gilt das Individuum grundsätzlich als vernunftbegabt. Diese Idee war damals revolutionär und ist bis heute die ideelle Grundlage einer freien Gesellschaft. Deshalb ist es rückwärtsgewandt, die Menschen da draußen (man selbst gehört glücklicherweise nie dazu) vor allem als im Zweifel dumpfe Masse zu betrachten.

Die Postmoderne, heute der Goldstandard in den Sozialwissenschaften, sieht die Aufklärung kritisch; sie gilt als eine mehr oder weniger gescheiterte „Erzählung“, deren Fixierung auf Rationalität zu nichts Gutem geführt habe. Die Postmoderne versteht das Individuum nun wieder zuallererst als Teil einer Gruppe. Aus der gesellschaftlichen Position der jeweiligen Gruppe leitet sich die Macht oder Ohnmacht ihrer Mitglieder ab, heißt es. Den Postmodernisten zufolge geht es uns nämlich grundsätzlich immer und nur um Macht und deshalb sind wir entweder Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse oder Täter. Es ist eine trübe Anschauung der Welt als Nullsummenspiel: Eine Gruppe kann immer nur auf Kosten einer anderen gewinnen. Wir, die Individuen, sind degradiert zu Kastenmitgliedern, unsere individuelle Vernunftfähigkeit spielt deshalb keine wichtige Rolle mehr.

„Stoisch weisen die Massen von sich, was ihr jeweiliges Parlament parteiübergreifend als alternativlos empfiehlt.“

Auch in der Politik geht es inzwischen recht postmodern zu. Sieht ein großer oder kleinerer Teil der Bevölkerung irgendeinen Sachverhalt anders als die jeweilige Regierung, dann neigt diese dazu, zuerst einmal die Mündigkeit ihrer Regierten in Frage zu stellen. Den „Menschen da draußen“ wurde das Anliegen nicht gut genug erklärt, verkünden dann Regierungssprecher und Analysten schreiben, sie wurde verführt, die Masse, von Rattenfängern. Nach dieser trüben Logik ist es nur folgerichtig, dass in diesen stürmischen Zeiten voller komplizierter Sachzwänge mit globalen Auswirkungen wichtige Weichenstellungen von Komitees und Expertengruppen entschieden werden sollen. Oder, wenn es gar nicht anders geht, direkt von Gerichten. Sie sind zwar nicht demokratisch von den Wählern legitimiert, doch ihre im trauten Kreis ausgehandelten Verordnungen erfreuen sich bei den gewählten Politikern großer Beliebtheit, sie sind ja fein austariert zu unser aller Wohle.

Demokratisches Gebaren alten Zuschnitts, etwa öffentlich und ergebnisoffen über kontroverse Themen zu streiten, nähme billigend die Gefahr in Kauf, dass die vernageltste Meinung den lautesten Applaus der Wählerherde bekommt, so dass für die Gewählten ein Handlungsdruck in die falsche Richtung entstehen könnte. Sieht man sich nämlich an, wie sich der Plebs entscheidet, sobald man ihn per Plebiszit befragt, zum Beispiel zur EU in Norwegen, Frankreich, Irland, den Niederlanden, Dänemark oder Griechenland, dann könnte man in den politischen Führungsetagen Europas wirklich zu dem Schluss kommen, diesen Massen sei nicht zu trauen, besonders dann nicht, wenn sie sich zu großen Gesellschaftsentwürfen äußern sollen. Stoisch weisen sie von sich, was ihr jeweiliges Parlament parteiübergreifend als alternativlos empfiehlt. Sicherlich wünschen sich Regierende manchmal beim Nachtgebet, es gäbe es diese elegante Lösung, die Bertolt Brecht nach dem Volksaufstand 1953 seiner DDR-Regierung vorschlug, nämlich das Volk aufzulösen und ein anderes zu wählen.

Inzwischen wurden allerdings sanftere Wege gefunden, die sich Bert damals noch nicht hätte träumen lassen: Die Idee des „Anschubsens“ (Nudging) ist derzeit nicht nur schick in den höchsten Kreisen, sondern auch geadelt mit dem Wirtschaftsnobelpreis. Durch subtile, seelsorgende Schubserchen lenkt man das Individuum hin zum quasi freiwilligen, vernünftigen Verhalten, ohne, dass es das so richtig mitbekommt. Was genau das jeweils richtige Tun ist, das herbeigestupst werden soll, entscheiden Experten, man nennt sie Econs. Vielleicht lässt sich die Gesellschaft ja auf diesem Wege ein bisschen zurecht ruckeln. Denn auf das Herdentier Mensch meint man nicht zählen zu können, wenn es um höhere Ziele geht als um die Frage, was sie morgen auf dem Teller haben. In den USA ist das Wählerkind bereits in den tiefsten anzunehmenden Brunnen gefallen und in Großbritannien wurde ebenfalls mächtig Mist gebaut, kaum dass der ehemalige britische Premierminister David Cameron seinen Landsleuten die Gelegenheit dazu gab.

„Die weitschweifige Annahme einer diffusen Masse führt zu nichts Gutem.“

Sicher, die Briten wurden auch mit Fake Zahlen in die Irre geführt. Ebenso wurde den einfachen Commoners eingeredet, gesichtslose EU-Kommissare, die nicht gewählt, sondern lediglich entsendet werden, bestimmten über große Teile ihres Alltags bis hin zur maximal erlaubten Krümmung der Gurke. Immerhin, London als europäisches Bankenzentrum stimmte zu 60 Prozent für „remain“, obwohl den Remainern, also so ziemlich der gesamten politischen und journalistischen Klasse, neben der Warnung, Großbritannien würde unweigerlich in die Arbeits- und Bedeutungslosigkeit driften, nicht so recht auch genuin positive Gründe für einen Verbleib in der EU einfielen. Wehe, wenn nicht, war der Wesenskern der Botschaft – remain or else! Doch es half alles nichts, am Ende entschieden sich 17,4 Millionen Wahlberechtigte – nie zuvor hatten so viele Menschen im Königreich gemeinsam für oder gegen irgendetwas gestimmt – anders als die Profis, nämlich für „leave“ und somit falsch. Wären doch nur die Jungen entschiedener zu den Urnen geströmt, eine neue splendid isolation wäre ausgeblieben! Denn wenn das Ergebnis nicht akzeptabel ist, liegt es häufig daran, dass die falschen Leute gewählt haben.

UK, EU, BRD, vielleicht sogar der gesamte Westen – man hat manchmal den Eindruck, Regierende und Regierte hätten sich landauf, landab voneinander entfremdet. Die ersteren halten „die Menschen da draußen im Land“, insbesondere die von der internationalen Sozialdemokratie aufgegebenen Globalisierungsverlierer, für potenziell phobische Fähnchen im emotionalen Meinungssturm, mental nicht in der Lage, das große Ganze zu überreißen. Die Landesinsassen wiederum haben bei aller Reflexhaftigkeit ein Sensorium dafür, dass man sie als Individuen und als Bürger nicht für voll und deshalb auch ihre Interessen politisch kaum noch zur Kenntnis nimmt. Die so negierten Menschen reagieren trotzig, was ihnen von den Regierenden dann wiederum als Dummheit ausgelegt wird, aber, nun ja, menschlich ist.

Die weitschweifige Annahme einer diffusen Masse führt zu nichts Gutem. In meinem Job erzeugt sie platte (und übrigens auch sexistische) Werbung, die keineswegs besser verkauft, sondern lediglich sicherstellt, dass im Falle schlechter Performance keine verantwortlichen Köpfe rollen — die ärmliche Kampagne entstand ja gemäß Standardprocedere. In der Politik führt sie, zusätzlich geboostet von postmoderner Gruppendenke, zu abgehobener Ahnungslosigkeit auf der einen Seite und zu Radikalisierung auf der anderen. Die gute alte Aufklärung jedenfalls geht anders: Anerkennen des Individuums. Austausch von Argumenten. Alternativen sehen. Sich Mühe geben. Mehr verdammte Demokratie wagen.

Dieser Text erscheint als Teil der Reihe „Losing my religion” von Matthias Kraus.

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