01.10.2004

„Kicken statt kloppen“ – Breitensport als Sozialwerkstatt?

Analyse von Stefan Chatrath

Die Politisierung des Sports schafft mehr Probleme, als sie löst.

Falls Sie es noch nicht wussten: Frankreich ist Fußball-Europameister! Wie das sein kann? Ganz einfach: Während sich im fernen Portugal Außenseiter Griechenland den Titel holte, gab es bei der parallel ausgetragenen „Straßenfußball für Toleranz“-EM in Stuttgart keine Überraschungen. Das Team Frankreichs konnte dort den Sieg für sich verbuchen. Die Veranstaltung – gefördert durch Bundesinnenministerium und Europäische Kommission – ist Teil der Kampagne „Sport tut Deutschland gut“. Über den Fußball sollen die Kinder und Jugendlichen lernen, sich gegenseitig zu respektieren. Im Turnierverlauf wurde daher neben dem sportlichen Talent auch das soziale Talent eines Teams bepunktet. Schiedsrichter wurden nicht benötigt: Regeln wurden vor dem Spiel abgesprochen, das Spiel von den Teams selbst geführt, die Punkte am Ende vereinbart.

„Wer heute einfach nur Sport im Verein treiben will, sieht sich einer immer größeren Heerschar von politisch oder anderweitig motivierten Sozialarbeitern gegenüber, die den Sport an der „Basis“ für „ihre“ Ziele vereinnahmen.“

Bundesweit existieren heute gut 1500 solcher Initiativen, die die soziale, integrative und therapeutische Dimension des Sports in den Mittelpunkt ihrer Arbeit rücken. Kaum ein Politikfeld ist in den letzten Jahren so rasant gewachsen: „Basketball um Mitternacht“, „Kicken statt kloppen“, „UmWeltmeisterschaft“, „Green Goal“, „Sport gegen Gewalt“ – das, was durch die Bundesregierung vor mehr als zehn Jahren mit „Keine Macht den Drogen“ ins Leben gerufen wurde, hat eine erstaunliche Eigendynamik entfaltet. Integration und Gewaltprävention sind die am häufigsten genannten Zielsetzungen dieser Veranstaltungen. Knapp drei Viertel bzw. die Hälfte aller Initiativen greifen sie explizit auf, darunter am prominentesten das Projekt des Bundesinnenministeriums „Integration durch Sport“. In dessen Rahmen sind allein dieses Jahr 11.000 Aktionen und Einzelmaßnahmen geplant: „Benachteiligung und gesellschaftliche Isolierung sind oft Nährboden für Gewalt, Kriminalität und Fremdenfeindlichkeit. Vor allem junge Menschen“, sagt Bundesinnenminister Otto Schily, „brauchen Halt und Orientierung. Gerade der Sport kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, vermag er doch in besonderer Weise ein stabilisierendes Gemeinschaftsgefühl aufzubauen und miteinander zu einem ‚Fairplay’ zu kommen.“ Weit verbreitet sind darüber hinaus auch solche Projekte, die sich der Suchtprävention („Ringen statt Wodka“, „Ohne Rauch geht’s auch“) und interkultureller Arbeit widmen („Sport mit Migrantinnen“). Hauptzielgruppen der Initiativen sind neben Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen jugendliche Aussiedler sowie ausländische und sozial auffällige Jugendliche. Auf internationaler Ebene ist ebenfalls einiges in Bewegung geraten: Die Vereinten Nationen eröffnen am 15. November in New York offiziell das „Internationale Jahr des Sports und der Leibeserziehung“, das sich quasi nahtlos an das „EU-Jahr der Erziehung durch Sport“ anschließen wird.

„Die Rolle des Reparaturbetriebs für gesellschaftliche Defizite kann der Breitensport nicht übernehmen.“

Die Politisierung des Sports ist an und für sich kein neues Phänomen. Anders jedoch als zu Zeiten des Kalten Krieges steht heute nicht nur der Leistungs-, sondern mehr denn je auch der Breitensport im Fokus politischer Interventionen. Wer heute einfach nur Sport im Verein treiben will, sieht sich daher einer immer größeren Heerschar von politisch oder anderweitig motivierten Sozialarbeitern gegenüber, die den Sport an der „Basis“ für „ihre“ Ziele vereinnahmen. Kriminalität, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz, Werteverfall, mangelndes Umweltbewusstsein – kaum ein soziales Problem, zu dessen Lösung nicht der Breitensport herhalten muss. Wurde der Leistungssport früher insbesondere in der Außendarstellung als Beleg herangezogen für die Leistungsfähigkeit und die Überlegenheit des westlichen Gesellschaftssystems, richtet sich die „politische“ Vereinnahmung des Breitensports hingegen fast ausschließlich auf gesellschaftliche „Mangelerscheinungen“. In ihr spiegelt sich die Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen wider, dem Phänomen der Politikverdrossenheit junger Menschen auf anderem Wege etwas Gehaltvolles entgegenzusetzen. Nicht also durch die Begeisterung für originär politische Fragestellungen wird versucht, den Kontakt zur Jugend aufzubauen, sondern über die „Vermengung“ von Breitensport und Politik. Zwar stellen die Sportvereine unter quantitativen Gesichtspunkten noch immer die mit Abstand bedeutendste Form der Jugendorganisation dar, eines darf aber nicht übersehen werden: Die Rolle des Reparaturbetriebs für gesellschaftliche Defizite wird der Breitensport nicht übernehmen können. „Zwischen den Funktionsbeschreibungen und Erwartungen des organisierten Sports, des Staats und der Politik in Bezug auf die Wirkungen der Jugendarbeit im Sportverein und der Wirklichkeit besteht ein offensichtlicher Widerspruch“, sagt der renommierte Sportwissenschaftler Wolf-Dietrich Brettschneider, Leiter des Arbeitsbereichs „Sport und Erziehung“ an der Universität Paderborn.

Im Auftrag des nordrhein-westfälischen Sportministeriums haben Brettschneider und sein Team die Jugendarbeit im Breitensport unter die Lupe genommen.[1] Die Wissenschaftler verglichen über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg anhand von Fragebögen und begleitenden Interviews die Entwicklung von Jugendlichen, die Sport im Verein treiben, mit denen von jungen Menschen, die keinem Sportverein angehören. Erstere, so die Forschungshypothese, müssten im Vergleich zu den „Vereinsmuffeln“ ein positiveres Bild von sich selbst haben, ein höheres Selbstwertgefühl und eine ausgeprägtere soziale Kompetenz. Außerdem sollten sie kontaktfreudiger sein. So intensiv aber auch nach Verschiedenheiten in den Entwicklungsläufen geforscht wurde, eine signifikante Wirkung des Sporttreibens auf die Persönlichkeitsentwicklung der Vereinsjugendlichen war kaum auszumachen. Die Studie stellt hierzu fest: Es scheint zwar, „dass die Entwicklung des Selbstwertgefühls bei männlichen Jugendlichen während der gesamten Jugendphase, bei den weiblichen lediglich im frühen Jugendalter von der Sportvereinszugehörigkeit beeinflusst wird“. Die Wissenschaftler konnten jedoch auch nachweisen, dass bei den nicht im Verein engagierten Jugendlichen die Entwicklung des Selbstkonzepts und der emotionalen Stabilität einen ähnlichen Verlauf nimmt. Bedeutsame Unterschiede zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern wurden nicht festgestellt – auch nicht bezüglich der Qualität und Entwicklung sozialer Beziehungen. Der Sportverein trägt zwar zur Dichte des sozialen Netzwerks bei, aber nichtsdestotrotz bekundeten junge Leute, die nicht im Verein sind, ebenso positive Beziehungen zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts und zu ihren Eltern.

Nicht weniger ernüchternd für die Verfechter der Politisierung sind die Ergebnisse der Brettschneider-Studie über die Auswirkungen des Vereinssports auf Drogenkonsum, Gewaltbereitschaft und andere Gesetzesverstöße wie Diebstahl. „Aus der Entwicklung der Konsumraten legaler und illegaler Drogen kann nicht abgelesen werden, dass der Sportverein Kinder gegen Drogen stark macht“, heißt es in der Studie. In manchen Sportarten sei sogar ein gegenteiliger Effekt festgestellt worden: „Nirgendwo wird soviel geraucht und getrunken wird wie im Fußball und im Handball.“ Auch positive Einflüsse auf die Häufigkeit strafbarer Handlungen ließen sich nicht nachweisen.

Die Ergebnisse der Brettschneider-Studie überraschen nicht. Sporttreiben kann das Auftreten bestimmter Sozialisationseffekte nicht garantieren. Dies ist zwar kein hinreichender Grund, die Ansprüche einer Erziehung durch Sport gänzlich aufzugeben. Eine realistischere Herangehensweise wäre jedoch angebracht. Letztlich kann der Breitensport auch immer nur seinen Teil zur „Gesamterziehung“ von Kindern und Jugendlichen beitragen – neben anderen Sozialisationsträgern wie Familie, Verwandtschaft, Schule und Freundeskreis. So banal es klingen mag: Der Breitensport ist ein Teil der Gesellschaft, und gesellschaftlichen Trends – wie zum Beispiel dem Zerfall von Gemeinschaft und kollektiven Identitäten – kann auch er sich nicht entziehen.

„Hinter der Politisierung des Sports steckt mitnichten eine klar formulierte politische Strategie zur Überwindung gesellschaftlicher Missstände, sondern das Fehlen von Lösungsansätzen.“

Auch mit der häufig betonten integrierenden Funktion des Sports ist es nicht allzu weit her. Slogans wie „Sport verbindet, Sport spricht alle Sprachen“, „Sport integriert problemlos ausländische Mitbürger“ suggerieren zwar, dass Sport schon an sich integrativ wirke. Dabei besitzt aber gerade das „idealtypische“ Integrationsmodell der Sportverbände, die Integration von Migranten über deutsche Vereine, nur noch zum Teil empirische Evidenz: In westdeutschen Großstädten hat sich die Vereinslandschaft in den letzten Jahren strukturell stark verändert. Migrantenvereine erleben einen enormen Zulauf. „Diese sind historisch gesehen keineswegs mehr Übergangsphänomene der Zuwanderer, sondern haben sich etabliert und ausdifferenziert“, heißt es in einer einschlägigen Studie, die diese ethnische Selbstorganisation einordnet „in einen allgemein festzustellenden Prozess der Re-Ethnisierung, das heißt eines gewollten und ungewollten Rückzugs von Teilen der ausländischen Bevölkerung auf die eigene ethnische Gruppe“.[2]

Hinter der Politisierung des Sports steckt mitnichten eine klar formulierte politische Strategie zur Überwindung gesellschaftlicher Missstände. Im Gegenteil: Es ist das Fehlen von Lösungsansätzen, das die Popularität von PR-Kampagnen wie „Sport tut Deutschland gut“ oder „Keine Macht den Drogen“ erklärt. Sie klingen gut, sind aber letztlich wirkungslos. Problemjugendliche von der Straße zu holen, indem man ihnen die Möglichkeit bietet, an staatlich geförderten Projekten wie „Kicken statt kloppen“ teilzunehmen, ist schön und gut. Was diese junge Menschen aber wirklich benötigen, ist eine Perspektive, sprich: einen Ausbildungsplatz und eine sichere und einigermaßen gut bezahlte Arbeit.

Anstatt im Anschluss an die Veröffentlichung der Brettschneider-Studie sich in Bescheidenheit zu üben, wurde von politischer Seite gefordert, die Interventionen noch weiter auszubauen. Wenn sich die erwünschten sozialen, integrativen und therapeutischen Wirkungen nicht per se einstellten, dann müsse der Sport vor Ort „erziehungsgedeihlicher“ inszeniert werden. Erfahrungen aus anderen Ländern illustrieren, worauf wir uns womöglich gefasst machen müssen. In Großbritannien beispielsweise sind in einigen Grundschulen sportliche Aktivitäten wie der „Eierlauf“ aus dem Schulfest-Programm gestrichen worden. Begründung: Der „wettkampfähnliche“ Charakter solcher Spiele sei problematisch, da er für die Kinder einen ungesunden Leistungsdruck mit sich bringe. Des Weiteren „produzierten“ gerade solche Geschicklichkeitsspiele eine Vielzahl an „Blamagesituationen“ für die teilnehmenden Schüler – insbesondere für die, die sportlich und motorisch nicht besonders begabt seien. Das gelte es aber tunlichst zu vermeiden, damit deren Selbstwertgefühl keinen nachhaltigen Knacks erleide. Stattdessen setzt man in diesen Schulen nun auf „sportliche“ Aktivitäten à la „Reise nach Jerusalem“. Wohin die Reise hierzulande geht, ist noch offen. Es ist aber zu erwarten, dass die Politisierung des Sports im Zuge der anstehenden Fußball-WM weiter deutlich an Fahrt gewinnen wird.

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