07.03.2016

Keine Vertuschung in Fessenheim

Analyse von Rainer Klute

In vielen Medien wurde berichtet, dass vor zwei Jahren ein angeblicher „Atom-Unfall“ im Elsass vertuscht wurde. Ein Blick auf die Fakten zeigt: Die Vorwürfe erweisen sich als haltlos.

Am vergangenen Freitag machte in den Medien die Nachricht die Runde, ein Zwischenfall im französischen Kernkraftwerk Fessenheim am 9. April 2014 sei schwerwiegender gewesen als bislang gedacht. Die französische Atomaufsichtbehörde ASN habe in ihrer knappen Mitteilung vom 17. April 2014 wesentliche Details des Vorfalls verschwiegen und damit vor der Öffentlichkeit vertuscht.

Folgt man den Medienberichten in der Süddeutschen Zeitung (SZ)  und beim Westdeutschen Rundfunk (WDR), so gewinnt der Leser den Eindruck, die Wahrheit sei erst jetzt durch Recherchen von WDR und SZ ans Licht gekommen. Die Journalisten Marlene Weiß (SZ) und Jürgen Döschner (WDR) berufen sich auf einen Brief, den die ASN zwei Wochen nach dem Vorfall an den Leiter des Kernkraftwerks Fessenheim schrieb und der bislang unbekannte Details enthielte. Hier sei ein „Atom-Unfall offenbar vertuscht“ worden, behauptet Döschner und betitelt seinen Artikel entsprechend.

Nichts wurde vertuscht

Indes: Es wurde nichts vertuscht. Die Vorwürfe entbehren jeder Grundlage. Denn mag das Wort „Brief“ Assoziationen an ein Schreiben auf Papier und ein den Journalisten heimlich zugespieltes geheimes Dokument hervorrufen, so ist die Wirklichkeit weit banaler. Der Brief der ASN vom 24. April 2014 ist nämlich für jedermann von der Website der ASN abrufbar. Und dort steht er nicht erst seit Bekanntwerden des angeblichen Vertuschungsversuchs. Nein, er wurde unmittelbar nach Verfassen im April 2014 auf der ASN-Website veröffentlicht. Das bestätigte die baden-württembergische Landesregierung gegenüber dem Südwestdeutschen Rundfunk (SWR), wie dieser in seiner Soundcloud mitteilte.

Wörter sind wichtig

Also nichts dran an den Vorwürfen. Dennoch: Der Schaden ist angerichtet, die Kompetenz der Kernkraftwerksbetreiber und die Glaubwürdigkeit der Atomaufsichtbehörden – also der „Atommafia“ – ein weiteres Mal untergraben.

Gerade Jürgen Döschner verfolgt offenkundig einen stramm kernkraftfeindlichen Kurs. Das lässt sich leicht an seinen Beiträgen auf Twitter-Timeline ablesen, und das zeigt auch sein Beitrag zu Fessenheim, besonders im Vergleich zu dem seiner SZ-Kollegin Marlene Weiß.

Der Vorwurf der Vertuschung stammt von Döschner, nicht von Weiß. Und er verankert dieses Wort dann auch direkt im Titel seines Beitrags, damit es auch ja jeder mitbekommt, auch der, der den übrigen Text gar nicht liest. Weiß hingegen äußert sich erheblich behutsamer. Der Ablauf mache nachdenklich, wenn man die Details betrachte, schreibt sie – eine Formulierung, die man auch als Kernkraftbefürworter unterschreiben kann.

„Atomunfall“ schreibt Döschner, wiederum gleich in der Überschrift. „Atom“, da fürchtet der Leser freigesetzte Radioaktivität und Strahlung; „Unfall“, das suggeriert ihm, dass mindestens ein Gesundheits- oder Umweltschaden entstanden ist. Auch im Text verwendet Döschner das Wort „Unfall“ zweimal. – Weiß hingegen spricht in „Panne im Atomkraftwerk Fessenheim war gravierender als gedacht“ korrekt von einer „Panne“, denn genau das war passiert: Bei Wartungsarbeiten war Wasser in Schaltschränke im nichtnuklearen Teil des Kraftwerks eingedrungen und hatte die Elektronik außer Betrieb gesetzt. Menschen waren nicht zu Schaden gekommen, und Radioaktivität war auch nicht ausgetreten.

Was geschah in Fessenheim?

Die Einzelheiten gehen aus dem Brief der ASN vom 24. April 2014 hervor und erlauben es, den Zwischenfall nachvollziehen. Die erwähnten Schaltschränke gehören zum Kanal A des Reaktorschutzsystems im Kernkraftwerksblock Fessenheim 1. Das Reaktorschutzsystem soll, wie der Name schon sagt, den Reaktor vor Schäden schützen. Zu diesem Zweck kann das Schutzsystem bei bestimmten Ereignissen automatisch eine sogenannte Reaktorschnellabschaltung (RESA) auslösen. Nun muss man aber wissen, dass in Kernkraftwerken sämtliche Sicherheitssysteme redundant ausgelegt sind. Das heißt: Von allen für die Sicherheit relevanten Komponenten gibt es immer zwei oder noch mehr. Jede Komponente kann allein die notwendige Funktion sicherstellen. Das gilt auch für das Reaktorschutzsystem in Fessenheim. Neben dem ausgefallenen Kanal A gibt es dort den Kanal B. Der ist in einem anderen Gebäudeteil untergebracht und kann ganz allein bei Bedarf für eine Reaktorschnellabschaltung sorgen. (Nebenbei: Atomkraftgegner sprechen hier nie von einer Schnell-, sondern immer von einer Notabschaltung. Der Grund dafür ist offensichtlich.)

Die INES-Skala

Abbildung 1: Grafik INES-Skala: IAEA

Weit weg vom Rand des Super-GAUs: Französische Aufsichtsbehörde ASN bewertet Zwischenfall im Kernkraftwerk Fessenheim mit INES 1. Nach Ausfall von Kanal A war zwar die Möglichkeit der Schnellabschaltung noch gegeben, allerdings fehlte die Redundanz, denn alles hing nun von der Funktionstüchtigkeit von Kanal B ab. Für die ASN war dies der Grund dafür, den Vorfall mit INES 1 zu bewerten. INES (International Nuclear and Radiological Event Scale) ist eine internationale, siebenstufige Skala zur Bewertung von Störfällen in Kernkraftwerken, wobei 1 die niedrigste Stufe ist und 7 die höchste (Tschernobyl, Fukushima). Daneben gibt es noch INES 0 für Abweichungen vom Normbetrieb, die ohne Bedeutung für die Sicherheit sind. Die Stufen 1 bis 3 sind „incidents“, also Störungen (INES 1) oder Störfälle (INES 2 und 3). Erst ab Stufe 4 hätte Döschner mit Recht von „Unfall“ („accident“) sprechen können.

Den Kernreaktor herunterfahren – aber wie?

Gemäß Betriebshandbuch entschloss sich die Betriebsmannschaft von Fessenheim 1 dazu, den Reaktor abzufahren. Dazu hatte sie zwei Möglichkeiten:

  • Handauslösung einer Reaktorschnellabschaltung: Die elektromagnetischen Aufhängungen aller Steuerstäbe (48 Stück, inklusive fünf Trimmstäbe zur Leistungsverteilung) klinken aus, wenn der Strom für die Elektromagneten abgeschaltet wird. Alle Steuerstäbe fallen durch ihr Eigengewicht in den Kern und bringen die Kernspaltung in Sekundenschnelle zum Erliegen.
  • Normales Herunterfahren: Von den drei Steuerstabgruppen werden einzelne Bänke nacheinander eingefahren, und zwar zunächst die „graue Bank“ (zwölf Steuerstäbe), die die Reaktorleistung bis auf 50 Prozent drosselt, danach die „lange schwarze Bank“ (16 Steuerstäbe), die die Reaktorleistung bis auf die Nachwärmeleistung reduziert. Parallel werden die Kompensationsstäbe (acht Steuerstäbe), sowie die verbleibenden Abschaltstäbe (17 Steuerstäbe) eingefahren. Sie sollen den unterkritischen Zustand des Reaktors gewährleisten. Die maximale Leistungsänderung der beiden Fessenheimer Blöcke ist auf fünf Prozent pro Minute beschränkt, so dass der normale Abfahrvorgang eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt.

Das Team entschied sich für die zweite Variante, weil sie erheblich schonender für das Material ist und vermutlich auch, weil keine Eile geboten war, die eine Schnellabschaltung geboten hätte. Allerdings trat nun ein Problem auf: die Steuerstäbe waren nicht manövrierfähig. Was das genau bedeutete und was die Gründe dafür waren, geht aus dem vorliegenden Material nicht hervor.

Leistungsregelung und Reaktorschutz sind unabhängig

Und hier zeigt sich ein wesentliches Verständnisproblem von Döschner und Weiß. „Selbst die Notabschaltung funktionierte nicht reibungslos“, schreibt Weiß. Offenbar nehmen die Journalisten an, wenn sich die Steuerstäbe nicht bewegen ließen, dann könne ein Reaktor nicht mehr abgeschaltet werden und drohe, außer Kontrolle zu geraten. Das ist aber nicht der Fall, denn bei einem Kernreaktor sind Leistungsregelung und Schnellabschaltung zwei völlig voneinander unabhängige Systeme. Das heißt, selbst dann, wenn die Leistungsregelung, sprich: die exakte Positionierung der Steuerstäbe, versagt, kann man den Reaktor in einem Notfall, der diesen Namen verdient, immer noch per Schnellabschaltung stoppen. Das passiert entweder automatisch (Kanal B) oder man schaltet die Elektromagneten, die die Steuerstäbe halten, manuell stromlos – siehe oben.

Leistungsregelung durch Borierung

Der Betriebsmannschaft stand aber noch ein weiteres Mittel zur Leistungsdrosselung zur Verfügung: das Einspeisen von Borsäure in den Reaktor. Bor ist ein starkes „Neutronengift“, das heißt, es fängt die für die Kettenreaktion nötigen und im Reaktorkern umherfliegenden Neutronen weg, so dass sich die Kettenreaktion nicht mehr aufrechterhalten kann. Der Spektrum.de-Artikel „Rettete Bor das Kernkraftwerk?“ erwähnt, man habe Bor nicht als Borsäure eingespeist, sondern man habe eine Notborierung mittels Borcarbid (B4C) in Form eines Granulats durchgeführt. Woher Autor Daniel Lingenhöhl diese Behauptung nimmt, ist unklar.

Der ASN-Brief spricht auch nicht von einer „Notborierung“, sondern schlicht und ergreifend von „Borierung“, und das ist kein wirklich außergewöhnliches Mittel zur Leistungsreduzierung. Im Gegenteil, Bor wird in Druckwasserreaktoren wie dem in Fessenheim auch im Normalbetrieb zur Leistungsregelung eingesetzt, weil dies eine ausgeglichenere Leistungsverteilung über die gesamte Höhe des Kerns ermöglicht sowie eine möglichst hohe Steuerstabstellung für eine maximale Abschaltreserve erlaubt. Fahren im Zuge der automatischen Leistungsregelung die Stäbe tiefer ein, wird Bor zudosiert, um sie wieder auf eine höhere Position zu bewegen. Die benötigte negative Reaktivität wird dann durch das Bor gewährleistet.

Florian Kraft, der Schreiber des ASN-Briefes, hat an der Borierung auch nichts weiter auszusetzen. Er beklagt lediglich, die Maßnahme sei wohl ein wenig zu erfolgreich gewesen, denn die Kühlmitteltemperatur sei unter den zulässigen Grenzwert abgesunken, weil der Reaktor nach wie vor am Netz gewesen sei, was dem System Energie entzogen hat. Kraft fordert den Kraftwerksleiter dazu auf, detailliert darzulegen, wie das Kraftwerk bei einer Reaktorabschaltung die Netzabkopplung handhabe.

Schnellabschaltung war jederzeit möglich

Die Regionalchefin der ASN Straßburg, Sophie Letournel, bestätigte laut Heise online das Vorgehen der Fessenheimer Reaktormannschaft am 5. März 2016 gegenüber der Regionalzeitung „Dernières Nouvelles d’Alsace“. Das Verfahren sei zwar atypisch, aber keine Notfall-Prozedur. „Der Betreiber ist zu jedem Zeitpunkt im Rahmen der normalen Verfahren geblieben, um die Situation zu managen, die im Übrigen kontrollierbar geblieben ist“, so Letournel. Sie betonte zudem, eine Schnellabschaltung sei immer noch möglich gewesen.

Überhaupt steht für die ASN nicht die Frage nach dem Abfahren des Reaktors im Mittelpunkt, sondern wie es überhaupt zur Verstopfung von Wasserabläufen und zum Überlauf von Wasser kommen konnte beziehungsweise durch welche Maßnahmen man das künftig verhindern kann.

Lügt die Tagesschau?

Insgesamt also viel Lärm um fast nichts. Dennoch bleibt in der Öffentlichkeit der Eindruck, Kernenergie sei eine unsichere Sache und Fessenheim könne „uns um die Ohren fliegen“. Letzteres ist im SZ-Artikel zu lesen. Natürlich stellt nicht Weiß diese Behauptung auf, sondern lässt dafür den Antiatomaktivisten André Hatz zu Wort kommen.

Und der WDR beziehungsweise die Tagesschau? Lügen sie? Schauen wir mal: „Atom-Unfall offenbar vertuscht“, titelte Döschner seinen Beitrag.

Wie wir nun wissen, wurde nichts vertuscht. Döschner hat also entweder bewusst gelogen, also wider besseres Wissen die Unwahrheit gesagt, oder er hat schlampig recherchiert und sich schlichtweg geirrt. Beides wirft kein gutes Licht auf seine journalistischen Fähigkeiten. Nun, immerhin hat er sich mit dem Wort „offenbar“ eine Hintertür offengehalten, oder sagen wir lieber: eine Katzenklappe.

Erst kürzlich hatte sich Döschner ähnlich „kompetent“ in Sachen Reaktortechnik hervorgetan, als er sich über die Vorwärmung des Notkühlwassers für Thinge 2 und Doel 3 mokierte und die Reaktoren als zu marode für kühles Kühlwasser bezeichnete. Dass diese Vorwärmung ein übliches Verfahren sein könnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Und natürlich hat er auch nicht bei Experten nachgefragt. Mehr dazu im Nuklearia-Beitrag „Belgische Rissreaktoren: Wie sicher sind Thinge 2 und Doel 3?“ von Anna Veronika Wendland.

Nein, Herrn Döschner ist für seine antinukleare Agenda selbst die Unwahrheit noch gut genug. Da sind ihm auch unlautere Mittel recht. Natürlich kann man ihm so wie hier solche Fehler nachweisen. Nur: Solche Nachweise erreichen nur vergleichsweise wenige Menschen, während bei der überwältigenden Mehrzahl von Döschners Lesern und Zuschauern nur „Atomunfall“ und „Vertuschung“ hängenbleiben. Sie fürchten sich vor Thinge, Doel und Fessenheim, fürchten sich vor Super-GAU und Atomtod. Nach vier Jahrzehnten Konfrontation vermögen Atomkraftgegner in insgesamt harmlos verlaufenden Vorfällen nur noch den „Atomunfall“ zu sehen.

Eine sachlich-kritische Analyse sollte hingegen eher der französischen Atomaufsicht folgen, die nichts vertuschte, sondern im Schreiben an das KKW Fessenheim auf die tatsächlich sicherheitsrelevanten Dinge verwies, hier: die Sicherstellung von Wartungsprozeduren auch im nichtnuklearen Bereich. Ein ordnungsgemäßer Ablauf hätte den Wassereinbruch von vornherein verhindert.

Grund genug, weiterhin Überzeugungsarbeit zu leisten, vor allem bei denjenigen, die noch offen sind für Fakten.

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