01.11.2005

Katrina and the Waves

Analyse von Matthias Heitmann

Die Wirbelstürme im Süden der USA brachten nicht nur Geröll und menschliches Leid zum Vorschein, sondern auch die Folgen misanthrophischer Zivilisations- und Weltverdrossenheit.

„Katrina“ und „Rita“ waren noch nicht abgeflaut, da erhob sich schon ein Sturm der Entrüstung, gepaart mit Vorwürfen gegen diverse „Verantwortliche“ für das Desaster. Auffällig an der Flut öffentlicher Schuldzuweisungen war deren hoher Grad an Irrationalität. Hier wurden berechtigte Vorwürfe wegen des Versagens von Landes- und Staatsbehörden mit an den Haaren herbeigezogenen Vorhaltungen zu einer undurchsichtigen und giftigen Brühe vermengt.


Wer hat Schuld am Hurrikan?
Es ist gut, wenn Menschen Verantwortliche für menschliches und staatliches Versagen suchen. Problematisch war hingegen, wie verschiedene Gruppen die Katastrophe ausnutzten, um ihre eigene Agenda zu verfolgen. Mit einer konstruktiven Auseinandersetzung hatte diese Art der „Debatte“ wenig gemein.
So interpretierte die religiöse Rechte den Sturm als göttlichen Wutausbruch ob des unmoralischen Lebensstils der Menschen im „Sündenpfuhl“ New Orleans. Islamische Radikale reagierten ähnlich und würdigten „Private Katrina“ als Gotteskriegerin im Kampf gegen die verdorbene westliche Welt. [1] Kritiker der sozialen Ungerechtigkeit der US-Gesellschaft stießen in dasselbe Horn. „Der Hurrikan Katrina war der unvermeidliche Funke, der das gefährliche Gemisch aus Unmenschlichkeit und Korruption zum Zünden brachte“, schrieb der linke amerikanische Journalist Jordan Flaherty in der Zeit. [2] Aus der ökologischen Ecke war zu vernehmen, „Mutter Natur“ habe mit ihren Gewalten der größten Naturverschmutzernation die Quittung präsentiert; ganz so, als hätte die Unterschrift von US-Präsident George W. Bush unter das Kioto-Abkommen sein Land vor den Stürmen bewahrt. Einflussreiche Stimmen aus der amerikanischen Wirtschaft wiederum machten das System des „Big Government“ für die Folgen der Naturkatastrophe verantwortlich und nutzen den Anlass, um weitere Deregulierungsmaßnahmen in Wirtschaft und Gesellschaft zu fordern. Wie genau marktwirtschaftliche Instrumente die armen Teile der Bevölkerung von New Orleans vor dem Ertrinken hätten bewahren sollen und ob eine größere Anzahl von Hotdog-Ständen am Superdome die Situation entschärft hätte, blieb freilich ungeklärt. Selbst die Friedensbewegung machte sich den Hurrikan zu Eigen. Das verspätete Eingreifen der Regierung wurde von nicht wenigen mit dem US-amerikanischen Engagement im Irak erklärt, das nahezu alle Ressourcen verschlänge.
Natürlich mischten auch ausländische Politiker und Kommentatoren kräftig mit bei der Verortung der Schuld. Manche, wie der damalige grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin, spielten die ökologische Karte und äußerten die Hoffnung, „Katrina“ werde die Amerikaner zu einem Umdenken in Klimafragen bewegen. [3] Andere ließen ihrem Antiamerikanismus freien Lauf und erklärten die Katastrophe kurzerhand zur gerechten Strafe für all das, was die kriegerische, fettleibige und gefräßige Weltmacht tagtäglich anrichte. Wieder andere schlossen in ihre misanthropische Sicht die gesamte Menschheit ein und interpretierten die Zustände in New Orleans als Zeichen dafür, dass die „Menschheit nur bedingt zivilisierbar“ [4] sei und lediglich die Staatsgewalt die Menschen davon abhalte, wie Horden wilder Tiere übereinander herzufallen.


Rückzug – aber wohin?
In dieser teilweise grotesken Schulddebatte manifestiert sich ein grundsätzliches Problem. Zwar hat der Siegeszug der Aufklärung und der naturwissenschaftlichen Erkenntnis die Art, wie Menschen mit Naturkatastrophen umgehen, zum Positiven verändert. Erdbeben und Sturmfluten wurden nach und nach durch wissenschaftliche Erklärungen entmystifiziert. Zugleich wuchs das Wissen darüber, wie sich die Menschheit besser vor Katastrophen schützen und teilweise ihre zerstörerischen Auswirkungen begrenzen kann.
Insbesondere hat jedoch der Ökologiediskurs, aber auch die zunehmende Politik- und Gesellschaftsverdrossenheit, eine Wandlung der Katastrophenwahrnehmung bewirkt. Die positive Grundeinstellung gegenüber den Wissenschaften und der menschlichen Gestaltungsfähigkeit wird immer stärker von Zweifeln durchzogen. Entsprechend hat auch der rationale Umgang mit Katastrophen irrationale und neoreligiöse Konkurrenz erhalten. Katastrophen werden nicht selten als direkte Folge menschlicher Naturbeeinflussung interpretiert und diese Interpretationen mit scheinwissenschaftlichen Argumenten unterfüttert.
Hierdurch wird der Blick auf den Umgang mit und das sinnvolle Verhalten vor, während oder nach solchen Ereignissen getrübt. Am deutlichsten wurde dies in der Debatte über die Zukunft von New Orleans. Unter die Forderungen nach einem verstärkten (Wieder-)Aufbau von Schutzmaßnahmen für die überflutete Stadt mischten sich auch Stimmen, die für eine vollständige Aufgabe der „unmöglichen Stadt an einem unmöglichen Ort“ plädierten. [5] Daran ist abzulesen, wie stark sich der Umgang mit Katastrophen verändert hat. Galt in der Vergangenheit gerade das Ziel, dem Unwillen der Natur zu trotzen, als eine der wichtigsten Eigenschaften menschlicher Zivilisation, wird nun verstärkt zum Rückzug geblasen. Und dies nicht nur in Bezug auf New Orleans; auch die reine Existenz von Städten wie Los Angeles (in einem extrem erdbebengefährdeten Gebiet) und sogar von Venedig, dem seit Jahren der baldige Untergang prognostiziert wird, wird immer häufiger als Ausdruck menschlichen Größenwahns dargestellt. [6]
 

„Die Menschheit kann Risiken minimieren und Vorsorge treffen, aber dies nur bis zu einem gewissen Grad. Mehr ist auch nicht wünschenswert.“



Menschen lernen
Ursächlich für diese Sichtweise sind zwei zentrale Prämissen. Die eine geht davon aus, dass Menschen aus Fehlern und Versäumnissen nicht lernen können und daher zwangsläufig von einer Katastrophe in die andere schlittern werden. Ein Blick in die Weltgeschichte – auch in die jüngste Vergangenheit – offenbart jedoch das Gegenteil. Selbst die in vollständiger politischer Lähmung erstarrte US-Regierung hat aus den Erfahrungen mit „Katrina“ gelernt und hat beim Herannahen der Wirbelstürme „Rita“ und „Wilma“ koordinierter agiert. Auch die Installation von Erdbebenwarnsystemen im Pazifischen Ozean als Folge des verheerenden Seebebens im Dezember 2004 ist eindeutig ein Schritt in die richtige Richtung. Für Venedig liegen seit längerem umfangreiche Pläne zum Schutz der Stadt vor Überflutung vor. Dass solche für Bangladesch, das beinahe jährlich von apokalyptischen Überschwemmungen heimgesucht wird, nicht existieren, liegt nicht an fehlender Machbarkeit, sondern an fehlender Entwicklung. Wie gut ein hochmodernes und ausgeklügeltes System von Dämmen und Deichen funktionieren kann, machen uns die Niederlande vor. Auch in Deutschland wurden nach der Oderflut im Jahre 2002 Maßnahmen ergriffen, um kommende Fluten besser in geregelte Bahnen zu lenken. Bei allen Problemen, seien sie politischer, wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller Art, ist zu konstatieren: Menschen lernen.


Es gibt keine totale Sicherheit
Die zweite Prämisse betrifft den Themenkomplex Risikoverhütung und Sicherheit. Ob New Orleans, Venedig, Hamburg oder Bad Tölz: für keinen Ort auf der Welt kann vollständige Sicherheit gewährleistet werden. Die Menschheit kann Risiken minimieren und Vorsorge treffen, aber dies nur bis zu einem gewissen Grad. Mehr ist auch nicht wünschenswert; andernfalls dürften wir keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, keine Experimente wagen und keine Freiheiten haben. Selbst absoluter Stillstand und Stagnation sind keine Garantien für Sicherheit, wie das Beispiel New Orleans zeigt.
Die gegenwärtige Risikoobsession und der Wunsch nach vollständiger Sicherheit führen dazu, dass Risiken überbewertet, die zerstörerischen Konsequenzen von Ereignissen und Unfällen dramatisiert und zugleich die menschliche Fähigkeiten, Schlimmeres zu verhindern, unterbewertet werden. Obwohl die Evakuierungen überaus chaotisch und ineffizient vonstatten gingen, gelang es, mehrere hunderttausend Menschen rechtzeitig aus dem Hurrikangebiet herauszuschleusen. Zweifellos besteht hier Optimierungsbedarf. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Zahl der Opfer glücklicherweise niedriger lag als zunächst befürchtet und dass dem Hurrikan „Rita“ nur wenige Menschen zum Opfer fielen.
Wie gefährlich hingegen die Überbetonung von Risiken werden kann, brachte der Gouverneur des US-Staates Mississippi, Haley Barbour, zum Ausdruck. „Ich befürchte, wir litten unter einer gewissen ‚Hurrikan-Müdigkeit’“, zitierte ihn die Los Angeles Times. [7] Mehrere Male waren die Bewohner der Südstaaten in den letzten Jahren, zuletzt im September 2004, aufgefordert worden, sich vor einem nahenden Hurrikan in Sicherheit zu bringen, ohne dass am Ende hierzu ein Anlass bestand. Viele Menschen hätten daher, so Barbour, die Warnungen in den Wind geschlagen – eine verständliche Reaktion, die zeigt, wie gefährlich und unverantwortlich Alarmismus und übertriebener Aktionismus sind.


Lust auf Elend
Diese Ereignisse in den USA sollten uns daran erinnern, dass Einfallsreichtum und technischer Fortschritt Errungenschaften der menschlichen Zivilisation sind, die uns ein Höchstmaß an Sicherheit garantieren. Mehr Raum wurde in der Berichterstattung jedoch der Beschwörung der apokalyptischen Dimensionen der Naturkatastrophen zuteil. In den Fluten, so schien es, waren auch alle Unterschiede zwischen entwickelten und armen Ländern untergegangen. Man konnte den Eindruck haben, die internationalen Medien ergötzten sich daran, dass sich ein derartiges Drama sogar im reichsten Land der Welt zutragen kann. Die Liste der globalen Krisenherde und Katastrophensynonyme, mit denen die Zustände in New Orleans verglichen wurden, war lang. Sie reichte von Bagdad [8] über Pompeji [9] bis nach Mogadischu [10].
Hinter all diesen reißerischen Vergleichen steht mehr als nur das blanke Entsetzen ob der Zerstörungskraft von Naturgewalten. Vielmehr ist es Ausdruck eines nihilistischen Zeitgeistes, der angesichts der gegenüber Naturkatastrophen empfundenen menschlichen Kleinheit und Ohnmacht allen bisher erreichten Fortschritt der Menschheit negiert und wegspült. Nur so kann ein Vergleich zwischen New Orleans und Mogadischu überhaupt als angemessen erscheinen. Dass hingegen noch Schlimmeres verhindert wurde, nach den Stürmen eine Welle der Solidarität durch die USA rollte und unzählige Menschen gerade in der Krise ihre Zivilisiertheit eindrucksvoll unter Beweis stellten, blieben Randnotizen in der ansonsten krisengeilen, risikobesessenen und in letzter Konsequenz menschenverachtenden Berichterstattung.
Der Bürgermeister von New Orleans hat die Parole „Wir holen New Orleans zurück!“ ausgerufen. Hoffentlich gelingt es auch, den Glauben der Menschheit an sich selbst zurückzuholen.

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