12.01.2015

Je suis Charlie? Ihr kommt zu spät

Von Kenan Malik

Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo zeigt alle Welt Solidarität. Doch in den letzten Jahrzehnten wich die Redefreiheit immer mehr einem Klima der Selbstzensur, analysiert Kenan Malik. Eine Empörungskultur breitete sich aus, die einen Nährboden für extremistische Gewalt bietet

„Je suis Charlie“. Worte, die in allen Zeitungen, auf Twitter und auf Demonstrationen in Städten in ganz Europa wiederholt werden. Die Solidaritätsbekundungen mit den Opfern des Anschlags auf Charlie Hebdo sind beeindruckend. Und sie kommen zu spät. Hätten Journalisten, Künstler und politische Aktivisten in den letzten 20 Jahren eine eindeutigere Haltung zur Rede- und Pressefreiheit vertreten, wäre es vielleicht nie so weit gekommen.

Stattdessen haben sie ihren Teil dazu beitragen, eine neue Kultur der Selbstzensur zu etablieren. Teilweise ist es eine Frage der Angst, der Unwilligkeit solche Risiken einzugehen, wie es die Journalisten und Zeichner von Charlie Hebdo getan haben und für die sie so teuer bezahlen mussten. Aber mit Angst allein lässt sich das nicht erklären. In den letzten zwei Jahrzehnten ist eine Art moralische Selbstverpflichtung zur Zensur entstanden. Es hat sich die Vorstellung ausgebreitet, der öffentliche Diskurs über verschiedene Kulturen und Religionen müsse überwacht und die Redefreiheit eingeschränkt werden. In unseren pluralistischen Gesellschaften könnte sich ja jemand dadurch verletzt fühlen. In den Worten des britischen Soziologen Tariq Modood: „Wenn Menschen ohne Konflikte im selben politischen Raum leben sollen, dann müssen sie das Ausmaß, in dem sie andere einer Kritik ihrer grundlegenden Werte unterziehen, einschränken“.

„Gesellschaftliche Veränderung oder Fortschritt gehen immer mit der Verletzung tief verwurzelter Vorstellungen einher.“

Dieser Glaube ist so tief verwurzelt, dass sogar Aktivisten für die Redefreiheit ihn übernommen haben. Vor sechs Jahren hat der Index on Censorship, eine der bedeutendsten Organisationen für die Redefreiheit weltweit, in seinem Journal ein Interview [1] mit der dänisch-amerikanischen Akademikerin Jytte Klausen veröffentlicht, in dem es um ihr Buch über den Konflikt um die dänischen Mohammed-Karikaturen geht. Doch dem damaligen Chefredakteur wurde nicht gestattet, die Karikaturen abzudrucken. Ich war zu der Zeit Vorstandsmitglied bei Index on Censorship, aber der einzige der sich öffentlich dagegen aussprach [2]. „Indem er sich weigert die Karikaturen zu veröffentlichen“, schrieb ich, „stärkt der Index nicht nur die Kultur der Zensur, er schwächt auch seine eigene Autorität im Kampf gegen diese Zensur“. Heute besteht der Index löblicher Weise darauf, dass „Rede- und Pressefreiheit nicht verhandelbar ist“ [3] und ruft „alle, die an dieses grundlegende Recht glauben auf bei der Veröffentlichung der Karikaturen von Charlie Hebdo mitzumachen“[4]. Aber die Kultur der Selbstzensur ist bereits sehr verbreitet. Tatsächlich hat sich Charlie Hebdo selbst dazu hinreißen lassen[5]. Allzu oft herrscht Doppelmoral bei der Verteidigung der Redefreiheit.

Die Ironie an dem Ganzen ist, dass es meist Minderheiten sind, die unter der Zensur leiden. Gesellschaftliche Veränderung oder Fortschritt gehen immer mit der Verletzung tief verwurzelter Vorstellungen einher. „Du kannst das nicht sagen!“ ist allzu oft die Antwort derjenigen, die an der Macht sind, wenn jemand diese in Frage stellt. Zu akzeptieren, dass manche Dinge nicht gesagt werden dürfen, heißt zu akzeptieren, dass manche Formen der Macht nicht kritisiert werden dürfen. Das Recht „die fundamentalen Werte anderer der Kritik zu unterziehen“ ist das Fundament einer offenen, vielfältigen Gesellschaft. Sobald wir dieses Recht im Namen von „Toleranz“ und „Respekt“ aufgeben, beschränken wir unsere Fähigkeit, Machthaber herauszufordern, und somit Ungerechtigkeit zu bekämpfen.

Doch kaum begannen sich die Medien mit dem Attentat auf Charlie Hebdo auseinanderzusetzen, kamen schon die erste Vorwürfe, das Magazin sei „rassistisch“ [6] und die Zeichner und Journalisten hätten es zwar nicht verdient, aber seien dennoch wegen ihrer unablässigen Angriffe auf den Islam irgendwie selbst schuld daran. [7] Wirklich rassistisch ist die Idee, nur nette weiße Linksliberale würden religiöse Ansprüche herausfordern wollen und nur sie könnten mit Satire und Spott umgehen. Jene, die meinen, es wäre „rassistisch“ und „Islamophob“ den Propheten Mohammed zu verspotten, scheinen die Vorstellung der Rassisten zu teilen, alle Muslimen seien reaktionär. Hier reichen sich linker „Antirassismus“ und rechte antimuslimische Vorurteile die Hand.

Was als „Beleidigung einer Minderheit“ bezeichnet wird, ist oft ein Kampf innerhalb dieser Minderheiten. Es gibt hunderttausende Muslime im Westen und in muslimischen Ländern überall auf der Welt, die religiös begründete reaktionäre Vorstellungen, Regeln und Institutionen kritisieren und in Frage stellen. Genauso gibt es Journalisten, Zeichner und politische Aktivisten, die täglich ihr Leben riskieren, um gegen Anti-Blasphemie-Gesetze und für Gleichberechtigung und Demokratie kämpfen; Menschen wie der pakistanische Zeichner Sabir Nazar [8], Taslima Nasreen [9] aus Bangladesch − heute wegen Morddrohungen im Exil in Indien −, oder der iranische Blogger Soheil Arabi [10] − letztes Jahr zur Todesstrafe verurteilt, weil er „den Propheten beleidigte“. Was im Büro von Charlie Hebdo in Paris passiert ist, war verstörend, aber außerhalb westlicher Gesellschaften sind jene, die für ihre Rechte eintreten, jeden Tag dieser Bedrohung ausgesetzt.

„Der Kleinmut sogenannter Liberaler, die Provokation verbieten, legitimiert die Empörung von Extremisten.“

Reaktionäre in- und außerhalb muslimischer Gemeinden werden vom Kleinmut vieler sogenannter Liberaler und Linker ermutigt – von deren Widerwillen, für grundlegende freiheitliche Werte einzustehen, und ihrer Bereitschaft, die fortschrittlichen Stimmen in den Minderheiten zu verraten. Einerseits verschafft dies muslimischen Extremisten mehr Freiraum. Je öfter die Gesellschaft eine Lizenz zur Empörung vergibt, desto öfter werden Menschen die Möglichkeit ergreifen, empört zu sein. Und umso brutaler wird der Ausdruck ihrer Empörung ausfallen. Es wird immer Extremisten geben, die so reagieren, wie es die Attentäter von Charlie Hebdo taten. Das wahre Problem ist, dass ihre Taten auf fadenscheinige Art und Weise durch solche liberale Zeitgenossen legitimiert werden, die es nicht hinnehmbar finden, provokant und beleidigend zu sein.

Der Kleinmut vieler Linker und Liberaler nährt ebenfalls antimuslimische Vorurteile. Er unterstützt die rassistischen Vorstellungen, alle Muslime seien reaktionär, oder Muslime selbst seien das Problem, weswegen man ihre Einwanderung verhindern und sie strenger kontrollieren sollte. Organisationen wie dem Front National wird so erlaubt, ihr Gift zu verspritzen. Ob eine antimuslimische Reaktion nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo folgt, muss sich noch zeigen − obwohl es Berichte über Angriffe auf Moscheen und Gemeindezentren gibt. Die falschen Liberalen hatten ihren Anteil an der Verbreitung reaktionärer Vorstellungen über Muslime.

Religion zu verspotten und Redefreiheit zu verteidigen ist kein Angriff auf Minderheiten. Im Gegenteil: Ohne beides ist es unmöglich, die Rechte und Freiheiten von Muslimen oder irgendjemand anderem zu verteidigen. Also lasst uns die Islamisten und die Reaktionäre in den muslimischen Gemeinschaften herausfordern. Lasst uns die reaktionären Islamhasser herausfordern. Aber lasst uns dabei die Pseudoliberalen nicht vergessen.

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