20.08.2014

Isis: Westliche Moralisten haben das Monster erschaffen

Analyse von Brendan O’Neill

Der Westen nimmt Anteil am Schicksal der Jesiden im Nordirak und ruft nach erneuten Interventionen. Dabei hat westliches Eingreifen ihr Leid erst möglich gemacht. Brendan O’Neill erinnert an vergangene Fehler und mahnt zu mehr Umsicht in der westlichen Außenpolitik

Westliche Beobachter beschreiben das gegenwärtige Chaos im Irak meist als simple Moralerzählung mit klar verteilten Rollen: Gut gegen Böse. Zu dieser Art von Berichterstattung bedarf es einer gehörigen Portion Chuzpe. Diejenigen, die sich nun als die Guten inszenieren, als diejenigen die den „Irak retten“ wollen und nach einer Rückkehr westlicher Streitkräfte in den Irak rufen, um die Jesiden und die Kurden vor einem Genozid durch Isis zu retten, tragen letztlich die Verantwortung für das von ihnen beklagte Chaos. Es mögen die Isis-Terroristen sein, die Menschen töten, aber der Raum, in dem Isis sich sammeln und an Einfluss gewinnen konnte, entstand erst durch die westlichen Interventionen im Irak und in Syrien. Es ist kaum zu ertragen, genau diejenigen, die den Aufstieg von Isis ermöglicht haben, jetzt davon reden zu hören, dass „wir“ – also der gute und mächtige Westen - uns entschlossen dieser neuen „Islamofaschistischen Bedrohung“ entgegenstellen müssen.

„Die Botschaft ist klar: Es ist alles ganz einfach.“

Bemerkenswert ist, wie schnell der Alptraum im Nordirak in das Korsett eines allzu bekannten moralisierenden Drehbuchs gepresst wurde. Die Botschaft ist klar: Es ist alles ganz einfach. Auf der einen Seite steht eine marodierende Gangsterbande, die, laut The Times, den Nazis „sehr ähnlich“ ist. [1] Auf der anderen Seite stehen die terrorisierten Jesiden, von Isis als „Teufelsanbeter“ gebrandmarkt, und die Kurden in ihrem heldenhaften Kampf gegen die tyrannische Isis-Flut. In diesen Showdown zwischen den Bösen und den Unschuldigen müssen wir, die „Verteidiger der Demokratie und der Menschenrechte“, natürlich eingreifen, um eine „wahrhaft böse Macht“ (so eine amerikanische Zeitung) [2] zu zerstören. Wir müssen in eine „Schlacht um die Zivilisation“ ziehen, sagt ein Mitglied des britischen Oberhauses, und Isis, „die gegenwärtig größte Gefahr für das friedliche Zusammenleben auf der Welt“, zur Strecke bringen.

Antifaschistischer Kampf?

Als Momentaufnahme der grauenerregenden Ereignisse, die sich momentan im Nordirak abspielen, scheint all dies durchaus plausibel. Es handelt sich bei Isis in der Tat um eine durch und durch üble Gruppierung, bestehend aus intoleranten theologischen Extremisten, moralisch verdrehten Konvertiten aus dem Westen, die glauben, Ungläubige zu enthaupten gäbe ihrem Leben wieder eine Richtung, und unzufriedenen Sunniten, die den herrschenden Schiiten in Bagdad einen Schlag versetzen wollen. Für die Jesiden stellt Isis tatsächlich eine tödliche Bedrohung dar. Sie wurden massenhaft aus ihren Städten im Nordirak vertrieben, nur weil sie angeblich einem ketzerischen Glauben anhängen. Sämtlichen Berichten zu Folge war ihr Leid auf dem Berg Sindschar, auf den sie vor Isis geflohen waren, enorm. Und doch fehlt in der Darstellung der Krise im Nordirak als neuem antifaschistischem Kampf etwas Entscheidendes: die Geschichte über die Hintergründe dieser höllischen Krise. Eine Erzählung darüber, wieviel moralische Verantwortung die selbsternannten antifaschistischen, interventionistischen westlichen Beobachter für eben jenen „Faschismus“ tragen, als dessen Gegner, und somit als die „Guten“, sie sich jetzt in Stellung bringen.

„Isis ist ein Produkt westlicher Interventionen“

Nur in sehr wenigen Bereichen des Lebens gibt es bloß schwarz und weiß. Immer gibt es auch Grautöne. Auf der Krise im Nordirak lastet ein besonders dunkles Grau; eines, das nur wenige wahrnehmen, geschweige denn analysieren wollen. Der Aufstieg von Isis ist das Ergebnis von etwas, das gleichzeitig viel banaler und viel beunruhigender ist als das Böse – er ist ein Produkt westlicher Interventionen. Wichtiger noch: ein Produkt neuer Formen westlicher Interventionen, die mehr auf dem emotionalen Bedürfnis „etwas (gegen das Böse) zu tun“ basieren als auf nüchternen realpolitischen Analysen dessen, was im Interesse des Westens oder der globalen Stabilität läge.

Westliche Interventionen im Irak und in Syrien

Diejenigen, die jetzt das Schicksal der Jesiden beklagen, haben den Aufstieg von Isis auf zwei verschiedene Arten erleichtert. Erstens hat die westliche Invasion im Irak das fragile politische Gleichgewicht des Landes destabilisiert. So konnten politische und konfessionelle Spannungen auftreten, die zuvor für eine relativ lange Zeitspanne unter Kontrolle gehalten werden konnten. Indem sie das politische System zerstörten, das die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppierungen des Irak zusammengehalten hat, ohne für adäquaten Ersatz zu sorgen und dem Staat so die Chance auf eine Neukonsolidierung zu geben, setzten die westlichen Interventionisten eine tödliche Dynamik in Gang. Sie führte in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre zu einem Bürgerkrieg, in dem sich Sunniten (einflussreich unter Saddam) und Schiiten (Herrscher des Irak nach Saddams Sturz) bekämpften. Die scheinbar apokalyptische Krise im Nordirak ist in vielerlei Hinsicht eine Weiterführung, und beängstigende Ausweitung, dieses Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung im Irak im Zuge der Invasion: sie führt den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten fort, der durch den westlichen Einmarsch aufgebrochen ist, wobei Isis ,teilweise zumindest, die jüngste Form des sunnitischen Zorns auf die „antisunnitische Politik (der Regierung in Bagdad)“ darstellt; die Krise führt zudem zu Unruhen zwischen weiteren Gruppen des Irak: Spannungen treten auf zwischen Sunniten und Kurden, zwischen Kurden und Schiiten und zwischen Islamisten und kleineren religiösen Gruppierungen wie den Jesiden. Hinter dem Chaos im Nordirak verbirgt sich die größere Geschichte einer tödlichen Dummheit. Diese bestand darin, leichtsinnig die staatlichen Strukturen und Institutionen gespaltener, fragiler Nationen zu zerstören, so wie es der Westen zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Irak getan hat.

Zweitens haben westliche Interventionisten gedankenlos zur Destabilisierung in Syrien beigetragen und auch dadurch Raum geschaffen, in dem Isis sich ausbreiten konnte. Es ist einer der größten politischen Mythen jüngerer Zeit, dass der Westen nicht in den Bürgerkrieg in Syrien eingegriffen hat. Das Gegenteil ist der Fall und dieser Eingriff stellte sich als politischer und militärischer Segen für Isis heraus. Während der vergangen drei Jahre haben westliche Diplomaten hart daran gearbeitet, das Assad-Regime zu delegitimieren – also die staatlichen Strukturen, die Syrien zusammenhielten – und neue
Assadfreie-Zonen einzurichten, in denen vom Westen unterstützte und finanzierte proto-Regierungen die Kontrolle übernehmen konnten. In exakt diesen Gegenden Syriens, in denen westliche Mächte heimlich die Hoheit des syrischen Staates untergruben und neue, finanziell gut ausgestattete, aber letztlich schwache Institutionen unterstützten, konnte Isis die Macht übernehmen und sowohl Waffen erbeuten als auch an Erfahrung gewinnen. Eine aufschlussreiche Analyse im Magazin Foreign Policy [3] zeigt auf, dass Isis ihr Territorium in Syrien nicht von der relativ starken Armee Assads erobert hat, sondern vielmehr Bereiche mit politischem Vakuum besetzte, die durch westliche Interventionen entstehen konnten. Dort besaßen die provisorischen staatlichen Strukturen der Assad-Gegner so wenig Legitimation und Einfluss, dass es Isis leicht fiel, die Kontrolle zu übernehmen. Danach konnte die Gruppe einen Großteil der Ausrüstung und der Gelder erbeuten, die der Westen in diese vakuumgleichen Post-Assad-Zonen gepumpt hatte.

„Genaue Analysen sind verpönt.“

Kurz gesagt: Das Erstarken von Isis ist grundsätzlich eine Konsequenz der westlichen Destabilisierung des Irak und der Interventionen in Syrien; eine Konsequenz gedankenlosen Aushöhlens staatlicher und militärischer Institutionen, die jahrzehntelang zwei riesige, fragile Nationen des Nahen Ostens zusammenhielten. Dadurch wurden ein konfessionell geprägter Bürgerkrieg im Irak entfesselt, der Bürgerkrieg in Syrien wesentlich verschärft und neue Räume ohne jede staatliche Struktur geschaffen, in denen eine Gruppe wie Isis aufblühen konnte, die bewusst die Karte der Region neu zeichnet. Lasst uns mehr tun als nur entsetzt die Köpfe zu schütteln, wenn wir die erschreckenden Berichte über das Schicksal der Jesiden hören: Stellen wir die Frage, wer es überhaupt möglich gemacht hat, dass eine solche Hölle losbrechen konnte!

Die „Etwas Muss Getan Werden“-Lobby

Aber genau hier liegt aber das Problem: Genaue Analysen sind in den heutigen außenpolitischen Debatten verpönt. Die „Etwas Muss Getan Werden“-Lobby, die sich für westliche Interventionen im Ausland einsetzt, versucht aktiv politische Untersuchungen der Ursachen komplexer globaler Konflikte zu verhindern und dämonisiert diese sogar. Wie wir anhand von Beispielen wie Bosnien oder Darfur gesehen haben, riskieren heute diejenigen, die auf eine internationale Krise mit etwas anderem als emotional-besorgten Appellen „etwas zu tun“ reagieren, als Apologeten des Bösen oder gar als Leugner eines Genozids gebrandmarkt zu werden. Mit solchen Begriffen wird ein Scherbengericht über diejenigen gehalten, die es wagen, auszusprechen, dass die Dinge womöglich komplexer sind und wir mehr Schuld an ihnen tragen als die Medien und die Politik mit ihrem vereinfachenden Gerede von „Neuen Nazis“ uns Glauben lassen wollen. Die anti-intellektuelle Haltung der „Tut Etwas“-Front ist erstaunlich: sie geißelt gründliche Analysen und verlangt schlicht nach sofortigen Maßnahmen; sie dämonisiert akademische Gründlichkeit und lässt nichts gelten als das emotionale Verlangen, gegen das Böse loszuschlagen; sie tut jede Diskussion über langfristige Folgen westlicher Eingriffe als Feigheit ab und stellt ihre eigenen Rufe nach Interventionen als anständig und ehrenhaft dar. Das genaue Gegenteil aber ist die Wahrheit.

„Wir schulden es den Jesiden, etwas zu tun!“, schreien die Interventionisten. Was wir den Jesiden, sowie den Einwohnern anderer instabiler Staaten, tatsächlich schulden, ist, mehr nachzudenken und weniger emotional zu sein; mehr zu debattieren und zu analysieren, sorgfältig die potentiellen Auswirkungen unserer Interventionen abzuwägen und nicht einfach „Los geht’s!“ zu schreien. Die Jesiden, für die momentan angeblich „etwas getan“ werden muss, sind nämlich selbst Opfer einer Politik des „Etwas muss getan werden“, und zwar der Eingriffe im Irak 2003 und jüngst in Syrien. Ihre aktuelle Not geht direkt zurück auf den bewussten Verzicht auf Analyse und Strategie in der westlichen Außenpolitik, die dann durch den tödlich-infantilen Drang „etwas zu tun“ ersetzt wurden.

Die Situation im Nordirak ist schlimm. Meine Position ist folgende: humanitäre Notfallhilfe muss weiterhin geliefert werden und auch die amerikanischen Luftschläge gegen Isis-Stellungen bereiten mir nicht unbedingt schlaflose Nächte, solange sie nur dazu dienen, bedrohten Menschen kurzfristig eine sichere Flucht zu ermöglichen. Mittel- und langfristig jedoch können westlichen Interventionen keine Lösung sein, denn es waren westliche Interventionen, die den Alptraum, den der Nordirak gegenwärtig erlebt, letztlich verursacht haben. Tut etwas? Ihr habt schon etwas getan: Ihr habt diesen Horror entfacht.

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