01.03.2007

Irrationaler „Kinderschutz“ gehört abgeschafft

Kommentar von Frank Furedi

Unser Problem ist nicht, dass Jugendbanden Krawall machen, sondern dass Erwachsene nicht genügend Selbstvertrauen im Umgang mit ihnen haben.

Seit den Vorfällen an der Berliner Rütli-Schule gibt es auch in Deutschland eine intensive Debatte über Jugend und Gewalt. Der Leiter des Anti-Gewaltzentrums Berlin/Brandenburg, Oliver Lück, sagte kürzlich in einem Interview, dass sich bei vielen Jugendlichen die Wahrnehmung von Gewalt verschoben habe. „Jugendliche, deren Gewalttaten an einer Hand abzählbar sind, gelten unter ihresgleichen als harmlos und brav“. [1] Wie konnte es zu einer solchen Situation kommen?

Schon immer haben sich Erwachsene Sorgen über das Benehmen von Jugendlichen gemacht. Doch an der Art, wie unsere Gesellschaft Jugendliche wahrnimmt, hat sich etwas Grundlegendes geändert. Ein Großteil der Erwachsenen hat sich von der Welt der Jugend vollkommen entfremdet. Viele Erwachsene, vor allem ältere, sind beunruhigt oder haben sogar Angst, wenn sie Gruppen junger Menschen auf der Straße begegnen. Aus diesem Grund stoßen die Berichte über Jugendgewalt in den Medien auf so viel Anklang.
Mit dem Problem beschäftigen sich unterdessen zahlreiche Institutionen und Expertengruppen in den verschiedenen Bundesländern. Im Juni letzten Jahres fand ein Expertenforum „Gewalt von Jugendlichen“ an der Freien Universität Berlin statt, bei dem Psychologen, Erziehungswissenschaftler und Vertreter der Polizei mitwirkten. Im Mittelpunkt stand die Frage, warum Heranwachsende gewalttätig werden. Im Oktober debattierten Abgeordnete in Berlin über jugendliche Krawallmacher und kamen parteiübergreifend zu dem Schluss, dass der „Schlüssel in der Schule“ liege. Hier müssten die Jugendlichen umerzogen werden. [2]

„Das Problem ist nicht die Gewalt von Jugendlichen, sondern das Unvermögen der Erwachsenen, Verantwortung zu übernehmen und Kinder zu lenken und zu sozialisieren.“

Das in England ansässige Institute of Public Policy Research (IPPR) hat im Herbst letzten Jahres einen Bericht mit dem Titel Freedom’s Orphans: Raising Youth in a Changing World herausgegeben und wirft darin wichtige Fragen auf. Seine Interpretationen und die sich hieraus ableitenden politischen Schlussfolgerungen sind jedoch falsch. Indem man mit dem Finger auf das schlechte Benehmen einiger junger Krawallmacher zeigt, wird das tiefer liegende Problem, mit dem wir uns auseinandersetzen sollten, umgangen: Was unsere Gesellschaften auszeichnet, ist nicht, wie sich Jugendliche, sondern wie sich die Erwachsenen benehmen.

Das Problem ist das Unvermögen der Erwachsenen, Verantwortung zu übernehmen und Kinder zu lenken und zu sozialisieren. Männer und Frauen pflegen heute nur noch selten den Umgang mit Kindern, die nicht ihre eigenen sind. Oft ist es ihnen peinlich zu intervenieren, wenn sich fremde Kinder schlecht benehmen. Manchmal sind sie zu verwirrt, um denen zu helfen, die offensichtlich Schwierigkeiten haben. Schon lange bevor sie Teenager werden, spüren und wissen Kinder deshalb, dass sie von niemand anderem gemaßregelt werden als von ihren eigenen Eltern.
Wenn Kinder allerdings richtig sozialisiert werden sollen, müssen mehrere Erwachsene ihnen immer wieder vor Augen führen, dass sie sich für sie verantwortlich fühlen. Heutzutage gilt jedoch diese Solidarität unter Erwachsenen in Hinblick auf Kinder als suspekt, wir lehnen sie mittlerweile zum Teil bewusst ab. Statt Solidarität ist heutzutage häufiger Misstrauen im Spiel. So ergibt sich das Bild, dass scheinbar nur Eltern und professionelle Erziehungsexperten über die Autorität verfügen, mit Kindern umzugehen. Da so das Verhältnis zwischen den Generationen zerstört wird, kommen Kinder nur noch selten mit Erwachsenen, die einen konstruktiven Einfluss auf sie ausüben können, in Kontakt. Richtig augenfällig wird diese Misere, wenn die Kinder sieben oder acht Jahre alt sind.
Ironischerweise führt also der Zusammenbruch der Solidarität unter Erwachsenen, der durch die mitunter paranoiden Gebote der aktuellen „Kinderschutzpolitik“ ausgelöst wird, zu einer Situation, in der das Benehmen von jungen Leuten nicht mehr durch das Einlenken verantwortungsbewusster Erwachsener in Schach gehalten wird.

Das IPPR sorgt sich darum, dass Jugendliche zu viel voneinander und zu wenig von Erwachsenen lernen. Tatsächlich ist es jedoch ganz normal und erstrebenswert, dass Teenager Erfahrungen austauschen und eine gemeinsame Kultur entwickeln. Es ist ihr gutes Recht, gegen die Welt der Erwachsenen anzutreten. Solange Erwachsene bereit sind, mit ihnen verantwortlich umzugehen, können solche Generationskonflikte kreativ und dynamisch sein. Das IPPR schlägt hingegen vor, die Teenagerkulturen zu unterlaufen, indem man jungen Leuten mehr professionelle Angebote macht. Ähnliche Lösungen wurden auch bei der Expertenrunde an der FU und im Abgeordnetenhaus von Berlin diskutiert. Doch diese Vorschläge umgehen die eigentliche Aufgabe: Es gilt, das irrationale Regime des „Kinderschutzes“, das Erwachsene von der Welt der Heranwachsenden abschottet, schleunigst aufzulösen. Erwachsene müssen wieder in engeren Kontakt mit Kindern kommen, und sie sollten ermutigt werden, Verantwortung für die jüngere Generation zu übernehmen. Erwachsene, die sich einmischen, tragen nämlich dazu bei, dass wir in einer Welt leben können, in der unsoziales Verhalten von den Jugendlichen selber als inakzeptabel empfunden wird.

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