26.05.2014

Inhalte überwinden!

Von Johannes Richardt

Konzeptlosigkeit und Realitätsverweigerung der etablierten Kräfte bestimmten den Wahlkampf. Das größte Problem für Europa heißt EU. Ein Kurswechsel ist notwendig. Die Wahlsiege der Populisten könnten dabei helfen, kommentiert Novo-Redaktionsleiter Johannes Richardt.

Am Ende hat es die Satiretruppe Die Partei um Ex-Titanic-Chefredakteur Martin Sonneborn tatsächlich geschafft. Auch wenn die Wahlbeteiligung hierzulande mit 48 Prozent wohl vor allem wegen der parallel in zehn Bundesländern stattgefundenen Kommunalwahlen nicht so niedrig war wie von der „obskuren Splitterpartei“ (Eigenbeschreibung) erhofft, reichte es am Ende knapp für ein Mandat im Europäischen Parlament. Dort befindet sich Die Partei in guter Gesellschaft mit anderen Spaßparteien wie etwa der Europäischen Volkspartei des „Wahlsiegers“ Jean-Claude Juncker oder den Sozialdemokraten seines „Konkurrenten“ Martin Schulz.

Denn von der vor allem hierzulande als Zweikampf um die EU-Kommissionspräsidentschaft inszenierten Europawahl bleibt die schale Erkenntnis, dass man von den etablierten Kräften wohl keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Problemen des Kontinents mehr erwarten darf. Zu uninspiriert und konturlos traten die Spitzenkandidaten während des Kuschelwahlkampfes der vergangenen Wochen auf, zu konzeptlos präsentieren sich ihre Parteien bereits seit vielen Jahren.

„Programmatische Abgrenzung und Positionierung gleich null“

Nicht klärende Kontroversen über Auswege aus der Schuldenkrise, die Reform der EU-Strukturen oder die Bekämpfung der sozialen Verwerfungen in Südeuropa werden in Erinnerung bleiben, sondern lächerlich inhaltslose Wahlplakate und TV-Duelle im pazifistischen Geiste des Eurovision Song Contest – programmatische Abgrenzung und Positionierung gleich null.

Dabei ist vor allem die Konzeptlosigkeit und Realitätsverweigerung der großen Parteien angesichts der Auswirkungen der Eurokrise augenfällig. Auch wenn gerade hier in Deutschland viele das Gefühl haben mögen, es laufe doch aktuell ganz gut, wurden die tieferen Ursachen der seit 2009 andauernden Krise bisher nicht überzeugend angegangen. Die Wirtschaft auf dem Kontinent will einfach nicht auf die Beine kommen – seit Jahren stagnieren oder sinken in den meisten Ländern Produktion, Investitionen und Löhne. Auch die Staatsschuldenkrise ist nicht gelöst. Aktuell wird in der Europäischen Zentralbank sogar darüber diskutiert, erstmals in der Geschichte negative Einlagezinsen festzulegen. Und die Menschen in Südeuropa ächzen weiterhin unter dem von Brüssel und Berlin aufgezwungenen Austeritätsdiktat, was u. a. zur Massenauswanderung der Jungen und gut Ausgebildeten nach Deutschland führt, die hierzulande von Politik und Medien kurzsichtig und vielleicht auch etwas zynisch als Beweis für die „Weltoffenheit“ unseres „Einwanderungslandes“ präsentiert wird.

Angesichts dieser Probleme kann man sich nur schwer einen noch inhaltsleereren und somit auch politikbefreiteren Wahlkampf als den gerade hinter uns liegenden vorstellen. Zwar versuchten uns Brüsseler PR-Kampagnen im Vorfeld einzureden, dass diese Wahlen eine Art demokratische Erneuerung der Europäischen Union einläuten könnten. Aber europaweite Spitzenkandidaten und TV-Duelle alleine schaffen noch keine europäische Öffentlichkeit oder gar einen europäischen Demos. Und ein paar Kompetenzen mehr für das Europäische Parlament sorgen nicht dafür, dass die fundamental antidemokratische EU plötzlich demokratisch wird.

„Es ist positiv, dass die Widersprüche und Konfliktlinien des europäischen Einigungsprozesses nun auch deutlich im Europäischen Parlament sichtbar werden“

Das Kernproblem der Europäischen Union liegt in ihrem technokratischen Politikmodell, das die Menschen systematisch von der Politik fernhält. Und das ist nicht nur eine Frage der supranationalen und postsouveränen Strukturen, sondern hat auch viel mit der elitären und antidemokratischen Haltung ihres Führungspersonals zu tun. Dass die Menschen dem europäischen Führungspersonal in vielen Staaten durch Wahlenthaltung (in der Slowakei haben etwa nur 13 (!) Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben – europaweit lag die Wahlbeteiligung konstant niedrig bei 43 Prozent) gezeigt haben, was sie von diesem Politikverständnis halten, ist ebenso ein gutes Zeichen, wie die Wahlerfolge diverser EU-Kritiker, -Gegner und –Skeptiker überall auf dem Kontinent.

Juncker, Schulz und ihre entrückten Parteiapparate haben mit der inhaltsleeren Art und Weise, wie sie in den letzten Wochen Wahlkampf geführt haben (oder besser NICHT geführt haben), aller anderslautender Lippenbekenntnisse zum Trotz deutlich gezeigt, wie wenig ihnen an einer demokratischeren EU liegt. Deshalb ist es im Prinzip auch relativ egal, ob Jean-Claude Juncker als Kandidat der stärksten Parlamentsfraktion tatsächlich in den nächsten Wochen von den Staats- und Regierungschefs zum Kommissionspräsidenten bestimmt werden sollte oder ob sich Merkel & Co. – diverse Aussagen in letzter Zeit deuten in diese Richtung – einfach über den „Wählerwillen“ hinwegsetzen. Große Impulse zum Besseren sind von den europäischen Eliten einfach nicht zu erwarten.

Es liegt jetzt an so unterschiedlichen Gruppierungen wie Syriza, UKIP, Front National oder AfD, die im Wahlkampf alle pauschal als „Europafeinde“ und „Populisten“ dämonisiert wurden, im nächsten EU-Parlament die informelle große Koalition aus Konservativen und Sozialisten und den anderen Verteidigern des EU-Status Quo mit den destruktiven Folgen ihrer Politik zu konfrontieren und sie unter Druck zu setzen, ihre Ideen und Konzepte für die Zukunft Europas endlich ernsthaft zur Debatte zu stellen. Auch wenn man die Ressentiments gegen Ausländer, Eiwanderer und sozial Schwache ablehnt, die viele dieser Parteien mal mehr mal weniger offen artikulieren, sollte man begrüßen, dass die Diskussion über die Europäische Union in Zukunft rauer und ungemütlicher werden wird.

Es ist positiv, dass die Widersprüche und Konfliktlinien des europäischen Einigungsprozesses nun auch deutlich im Europäischen Parlament sichtbar werden – das ist ein Zugewinn an Demokratie, was im konsensverliebten Deutschland vielleicht nur wenige hören wollen. Man muss den Problemen ins Auge sehen, um Lösungen zu entwickeln. Und es ist überdeutlich, dass Europa einen Kurswechsel braucht: weniger technokratische Apparate und bürgerfernen Zentralismus, dafür wieder mehr demokratische Politik in souveränen Staaten. In ihrer jetzigen Form sind die EU-Strukturen und nicht die Populisten die größte Bedrohung für Demokratie, Freiheit und Frieden auf dem Kontinent.

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