06.02.2012

Indiens inspirierender Kampf gegen Polio

Essay von Sadhvi Sharma

Die erfolgreiche Kampagne für ein poliofreies Indien zeigt, dass mehr Wohlstand mit mehr Gesundheit einhergeht. Über die Initiative und kritisiert westliche Fortschrittsskeptiker, die nur die Schattenseiten des indischen Wirtschaftswachstums sehen wollen

Freitag, der 13. Januar 2012, war ein echter Glückstag in Indiens jüngster Geschichte. Erstmals wurden keine neuen Fälle von wilder Polio berichtet. Für ein Land mit 1,2 Milliarden Menschen, das immer noch mit der Geißel der Armut und dem Ruf von Krankheit und Elend zu kämpfen hat, ist dies ein großer Erfolg, der Hochachtung verdient. Noch vor wenigen Jahren war Polio in Indien weit verbreitet.

Das Ereignis zeigt, was echter Fortschritt bedeutet, und ist gleichzeitig eine Mahnung an alle, die sich um die ambitionierte Entwicklung Indiens und seine wachsende Bevölkerung sorgen. Wenn das Land für zwei weitere Jahre poliofrei bleiben kann, wird es diese hoch ansteckende Krankheit erfolgreich ausgerottet haben. Das wäre auch ein großer Schritt auf dem Weg zur globalen Ausmerzung der Kinderlähmung.

Poliomyelitis ist eine ansteckende Viruserkrankung, die typischerweise bei Kindern durch kontaminierte Lebensmittel und Wasser oder durch Kontakt mit den Fäkalien einer infizierten Person übertragen wird. Sie greift das zentrale Nervensystem an und verursacht Lähmungen, Muskelatrophie und Deformitäten. In manchen Fällen kann sie sogar zum Tod führen. Ein an Polio erkranktes Kind, das sich vor Schmerzen windend an einer Ampel bettelt, hinterlässt ein bleibendes Bild Indiens als eines armen und kranken Landes. Es ist ein Anblick, den westliche Touristen oft als Beweis für die unhygienischen Bedingungen auf dem Subkontinent mit nach Hause nehmen.

Doch es ist noch nicht lange her, dass dieses Bild auch in den westlichen Industrieländern vertraut war. Als noch offene Abwasserkanäle durch die Straßen entwickelter Länder liefen, war die Krankheit unter Kindern auch hier verbreitet. Im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert waren die Städte im nördlichen Europa und in den Vereinigten Staaten von Polio-Epidemien betroffen. New York City reagierte auf eine Epidemie im Jahre 1916, bei der 9.000 Fälle gemeldet wurden, mit Panik. Damals gab es in den USA insgesamt 27.000 Fälle, mit einer Todesrate von 22 Prozent unter den Betroffenen. Die Entdeckung des Polio-Impfstoffs im Jahr 1957 führte zur Ausrottung der Krankheit in der westlichen Welt; in den 1960er Jahren wurden in großem Maßstab Impfungen durchgeführt. In den USA wurde der letzte Fall von wilder Polio 1979 gemeldet. In Großbritannien trat der letzte bekannte Fall 1982 auf. Währenddessen wurden in Indien in den 1980er Jahren immer noch mehr als 200.000 neue Fälle jährlich gemeldet.

Als 1988 die „Global Polio Eradication Initiative“ ins Leben gerufen wurde, hatte Indien noch die weltweit höchste Zahl an Poliofällen und wurde deshalb, wenig überraschend, als größte Herausforderung angesehen. 1995, 14 Jahre nach Inkrafttreten des eigenen nationalen Immunisierungsprogramms zur Ausrottung der Kinderlähmung, gab es in Indien noch immer mehr Fälle als irgendwo sonst auf der Welt. Nach einigem Erfolg im Jahr 2006 kam es zu einer Epidemie in Uttar Pradesh, einem der ärmsten Bundesstaaten Indiens. Indien wurde allgemein dafür kritisiert, die globale Initiative zur Ausrottung der Kinderlähmung zu behindern. Der Regierung wurde vorgeworfen, Zahlen zu frisieren und nicht genug politischen Willen aufzubringen. Heute dagegen herrscht unter Gesundheitsbehörden, -personal und Ärzten in Indien geradezu Begeisterung vor– und das vollkommen zu Recht. Von 741 gemeldeten Fällen vor zwei Jahren – die höchste Anzahl weltweit – sank die Zahl 2010 auf 42 und im vergangenen Jahr auf null. Obwohl dieses Ziel zweimal um ein Jahr nach hinten verschoben werden musste, ist das ein historischer Erfolg.

Um das zu begreifen, muss man sich vor Augen führen, was alles gegen den Erfolg des Programms sprach. Von den 1,2 Milliarden Indern leben noch immer 70 Prozent in ländlichen Gebieten, und viele haben nur begrenzten Zugang zu medizinischen Einrichtungen – obwohl sich die Infrastruktur in den letzten zwei Jahrzehnten verbessert hat, lässt sie insgesamt noch sehr zu wünschen übrig. Die schiere Weite des Landes hat zur Folge, dass die unterentwickelten Gebiete oft unversorgt bleiben. Die Regierung schätzt, dass jedes Jahr 25 Millionen Kinder in Indien geboren werden. Bevölkerungsparanoiker, die das Wachstum der indischen Bevölkerung beklagen, sehen es vermutlich als größten Hemmschuh für das Polio-Impfprogramm. Dabei hat gerade die große Menschenzahl mit zum Erfolg beigetragen. Durch den gewaltigen Umfang des Programms und eine innovative Armee von Freiwilligen und Mitarbeitern des Gesundheitswesens konnte dafür gesorgt werden, dass jedem einzelnen Kind in städtischen Gebieten, Slums, entlegenen ländlichen Regionen und Kleinstädten der Impfstoff bereitgestellt wurde. Selbst Migranten und mobilen Bevölkerungsgruppen wie Bauarbeitern und Obdachlosen konnte so der Impfstoff verabreicht werden.

Nach Angaben der World Health Organisation wurden in nur einem Durchgang des National Immunisation Days 640.000 Impfkabinen, 2,3 Millionen Impfärzte, 200 Millionen Dosen Impfstoff und 6.3 Millionen Eisbeutel eingesetzt, 191 Millionen Häuser besucht und 172 Millionen Kinder geimpft. Dies alles wurde von einem Netzwerk von Menschen in beweglichen Teams an Bahnhöfen, Märkten, Baustellen, Zügen und Bussen geleistet. Auch kommunale Gruppen beteiligten sich im Kampf gegen Aberglauben unter Ungebildeten und Konservativen, die gegenüber Impfungen misstrauisch waren.

Indiens Streben nach Wirtschaftswachstum und Entwicklung wird oft als nicht nachhaltig und nicht wünschenswert kritisiert: Je mehr normale Inder Autos besitzen, desto mehr Kohlendioxid-Emissionen, je mehr Urbanisierung, desto mehr Schmutz und Krankheiten, je mehr Menschen, die in der Lage sind, Dinge zu kaufen, desto mehr Abfall belaste den Planeten – so und so ähnlich lauten die düsteren Prognosen der Entwicklungsskeptiker. Doch der Erfolg des Impfprogramms zeigt, dass sozialer Fortschritt den Menschen mehr Gesundheit und Wohlbefinden bringt.

Kein Zweifel, Indien hat noch einen weiten Weg vor sich. Ein neuer Fall in den nächsten zwei Jahren könnte bedeuten, wieder neu anfangen zu müssen. Das Land gibt nur 2,5 Prozent seines BIP für die Gesundheit aus, und die Lebensbedingungen der Mehrheit sind noch immer sehr schlecht. Umso wichtiger ist es, daran zu erinnern, dass Entwicklung und die damit einhergehenden Verbesserungen in Indien und weltweit sehr notwendig und wünschenswert sind. Polio und viele andere Krankheiten sind immer noch eine Plage für die Menschheit. Eben deshalb ist Indiens Erfolg ein echter Grund zum Feiern, weil wir damit der weltweiten Ausrottung dieser Krankheit ein großes Stück näher gekommen sind.

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