08.12.2015

Indiens Demografie widerlegt Malthus

Analyse von Gérard-François Dumont

Thomas Malthus zeichnete einst ein düsteres Bild vom Bevölkerungswachstum. Die Nahrungsmittel sollen eines Tages nicht mehr ausreichen. Gérard-François Dumont befasst sich mit der derzeitigen demografischen Situation in Indien. Sie widerlegt Malthus' These

Indien gehört zu den großen Schwellenländern, die wirtschaftlich und politisch in der multipolaren Welt eine immer größere Rolle spielen. Selbst auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Subkontinent. Das Bild Indiens in Europa ist weitgehend geprägt von IT-Experten, schwerreichen Industriellen und gleichzeitig unvorstellbarer Armut sowie von einem galoppierenden Bevölkerungswachstum. Wie sieht die demografische Lage jenseits der Klischees aus?

Die Theorie von Thomas Robert Malthus besagt, dass das demografische Wachstum unaufhaltsam und unerträglich zu werden droht, dass die Sterblichkeit dramatisch zunehmen und es unmöglich sein werde, den Nahrungsbedarf zu decken oder gar zu befriedigen. Inwieweit hat sich dieses Szenario in Indien seit der 1947 erlangten Unabhängigkeit bestätigt oder inwieweit wurde es entkräftet? Malthus formulierte „Grundgesetze unserer Natur“, wie er sie nannte, und leitete im Jahr 1798 daraus sein Prinzip ab: „Ich behaupte, dass die Vermehrungskraft der Bevölkerung unbegrenzt größer ist als die Kraft der Erde, Unterhaltsmittel für den Menschen hervorzubringen“. 1

„Hat sich Malthus Schreckensszenario bewahrheitet?“

Demnach müsse die Menschheit ihr demographisches Wachstum den unweigerlich limitierten Unterhaltsmitteln anpassen. Versetzen wir uns ins Jahr 1947 – das Jahr der Unabhängigkeit Indiens: das Land zählt etwas mehr als 350 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 3.287.000 Quadratkilometern. Das ist sechsmal so groß wie die Grundfläche Frankreichs, fast neunmal so groß wie Deutschland. Die Vorzeichen sind beunruhigend.

Aufgrund der hohen Fruchtbarkeit von fast sechs Kindern pro Frau und der Möglichkeit, die Sterblichkeitsrate zu senken – zum Beispiel durch die allgemeine Anwendung von Impfungen – könnte die Bevölkerung beträchtlich wachsen. Derweil müssten laut Malthus die Nahrungsmittelproduktion und das Bruttoinlandsprodukt weniger stark ansteigen. Ohne beträchtliche Nahrungsmittellieferungen müssten daher Unterernährung und Sterblichkeit in Indien katastrophale Ausmaße annehmen. Hat sich dieses Schreckensszenario bewahrheitet?

Dank des medizinischen und hygienischen – zugegebenermaßen immer noch unzureichenden – Fortschritts sank die Kindersterblichkeit zwischen 1950 und 2014 von 164 Todesfällen pro tausend Geburten bei unter Einjährigen auf 44 Todesfälle. 2 Ein Rückgang von insgesamt 73 Prozent, während die Gesamtsterblichkeit um 74 Prozent von 127 Todesfällen pro tausend Einwohner auf nunmehr sieben fiel. Im selben Zeitraum verdoppelte sich die Lebenserwartung nach der Geburt nahezu von 36,2 auf 66 Jahre. Während die Fruchtbarkeit von sechs Kindern im Jahr 1950 auf 2,4 im Jahr 2014 zurückging, bescherten die Auswirkungen des demografischen Übergangs 3 eine Bevölkerungszunahme um das 3,6-fache auf 1,296 Milliarden 4 Menschen im Jahr 2014.

Insbesondere folgende Faktoren ermöglichten diese Entwicklung:

  • die Nahrungsmittelproduktion hat sich fast vervierfacht und stieg somit schneller als das demographische Wachstum,
  • das Bruttoinlandsprodukt (in konstanten Preisen errechnet) hat sich verzwanzigfacht.

„Während die Bevölkerung um das 3,6-fache zunahm, sank die Gesamtsterblichkeit um 74 Prozent“

Somit hat Indien, zumindest für die Zeitspanne von seiner Unabhängigkeit bis heute, Malthus widerlegt. Es verzeichnete nämlich bei der Nahrungsmittelproduktion einen stärkeren Anstieg als beim Bevölkerungswachstum. Letzteres wurde durch die Verbesserung der Lebensbedingungen begünstigt. Gewiss hat Indien noch einen weiten Weg vor sich, denn die FAO 5 schätzt die Anzahl der unterernährten Menschen in diesem Land im Zeitraum von 2012 bis 2014 auf 190 Millionen. Das ist beträchtlich, allerdings zeigt sich die Verbesserung in den Prozentwerten: 15,2 Prozent der Bevölkerung galten im Zeitraum von 2012 bis 2014 als unterernährt, während es 15 Jahre zuvor noch 23,8 Prozent waren.

Auch wenn Malthus widerlegt ist und ein Bevölkerungswachstum keine fatale Entwicklung nach sich ziehen muss, gilt natürlich: Eine dauerhafte Entwicklung [6] Indiens erfordert nach wie vor die Fortsetzung der stetigen Bemühungen. Und sicher auch Reformen im gesellschaftlichen Bereich.

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