31.07.2017
Im Zeitalter der (zu) vielen Wahrheiten
Essay von Kenan Malik
Zerfall des Universalismus, Aufstieg der Identitätspolitik und die Fragmentierung der Gesellschaft haben zu einer Krise der Wahrheit geführt
Fake News. Alternative Fakten. Postfaktische Politik.
Drei Stichworte, die die aktuellen Debatten dominieren: Alle drei drehen sich um neue Ängste, wie es uns gelingen soll, Wahrheit und Lüge auseinanderzuhalten, und alle drei stehen anscheinend in Verbindung mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Viele Beobachter sind der Meinung, Trumps Wahlsieg sei von einer Welle aus Fake News befeuert worden. Seine Neigung zu lügen – z.B. über die Anzahl der Zuschauer bei seiner Vereidigungszeremonie – wurde von seiner Beraterin Kellyanne Conway als Akzeptanz „alternativer Fakten“ umgedeutet. Vielen Beobachtern zufolge haben die Präsidentschaftswahlen gezeigt, dass wir in einem Zeitalter „postfaktischer Politik“ 1 leben, in dem Fakten für die politischen Entscheidungen eines großen Teils der Wählerschaft irrelevant geworden sind.
Alle drei Stichworte sind wichtig. Leider denken wir aber oft auf eine völlig falsche Weise über sie nach, die eher dazu beiträgt, die Besonderheiten der aktuellen Politik zu verschleiern, anstatt diese zu erklären.
„Anstelle der sorgfältig gestalteten Fake News der Vergangenheit sehen wir uns heute einer anarchischen Schwemme an Lügen gegenüber.“
Das Phänomen der „Fake News“ ist keineswegs neu. Angefangen mit dem von Henry Louis Mencken erfundenen Bericht über eine Entscheidungsschlacht im Russisch-Japanischen Krieg, über Henry Fords Artikelserie über eine jüdische Weltverschwörung, die er auf die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ stützte, bis hin zu den Lügen über die Hillsborough-Katastrophe oder den weltweit publizierten Berichten über Iraks nicht-existierende Massenvernichtungswaffen: Seit es „Nachrichten“ gibt, gibt es auch Lügen, die sich als „Nachrichten“ tarnen. Was neu ist, sind nicht die Fake News, sondern die Lieferanten solcher Nachrichten.
In der Vergangenheit waren es Regierungen, große Institutionen und Zeitungen, die Informationen und Nachrichten manipulierten. Heute kann das jeder, der ein Facebook-Profil hat. Anstelle der sorgfältig gestalteten Fake News der Vergangenheit sehen wir uns heute einer anarchischen Schwemme an Lügen gegenüber. So wie die Eliten die Kontrolle über die Wählerschaft verloren, verloren sie auch ihre Fähigkeit, die Verbreitung von Nachrichten zu steuern und zu definieren, was wahr und was falsch ist.
Genauso wenig wie „Fake News“ sind „alternative Fakten“ ein neues Phänomen, auch wenn die Geschichte der letzteren deutlich komplizierter ist. Donald Trumps Behauptung, an seiner Vereidigung hätten mehr Menschen teilgenommen als an irgendeiner früheren Vereidigung, ist offensichtlich falsch. Aufschlussreich ist aber nicht nur die Lüge, sondern auch die Art, wie sie verteidigt wurde: Mit ihrem Vorschlag, die Falschbehauptung sei eine „alternative“ Wahrheit, die auf „alternativen“ Fakten beruhe, stützte sich Kellyanne Conway auf Konzepte, die in den vergangenen Jahrzehnten von radikalen Bewegungen nicht für Lügen genutzt worden waren, sondern um die Macht etablierter Wahrheiten herauszufordern, indem man darauf bestand, dass „Fakten“ oder „Wissen“ immer relativ zum jeweiligen Kontext oder zur jeweiligen Gruppe zu sehen seien.
„Als akademische Theorie mögen solche Vorstellungen abstrus erscheinen. Nichtsdestotrotz gewann die Vorstellung, Wahrheit sei relativ, immer weiter an gesellschaftlicher Akzeptanz.“
Postmoderner Relativismus
Philosophen bezeichnen diese Position als „epistemischen Relativismus“: Es ist die Auffassung, der Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit beruhe nicht auf einer objektiven Realität, sondern in verschiedenen sozialen Konventionen, und daher gäbe es viele radikal unterschiedliche, inkompatible, jedoch gleichwertige Wege, die Welt zu begreifen.
Insbesondere in Folge postmodernen Denkens erfreute sich der epistemische Relativismus im Laufe der letzten Jahrzehnte in akademischen Kreisen immer weiter wachsender Beliebtheit. „Postmoderne“ ist ein Konzept, das sich nur sehr schwer definieren lässt, letztlich kennzeichnend ist jedoch die Feindschaft gegenüber dem Projekt der Aufklärung, aus fragmentierten Erfahrungen universelle Erkenntnisse abzuleiten und unseren Beobachtungen der sozialen und natürlichen Welt Stimmigkeit zu verleihen. Da kein Mensch die Realität „aus der Gottesperspektive“ betrachten kann, schlussfolgern Postmodernisten, kann jeder von uns nur aus seiner jeweiligen Perspektive heraus sprechen – eine Perspektive, die auf spezifischen Erfahrungen, der jeweiligen Kultur und Identität beruht. „Wahrheit“ ist so notwendigerweise lokal und nur für spezifische Gemeinschaften oder Kulturen gültig.
Als akademische Theorie mögen solche Vorstellungen obskur und abstrus erscheinen. Nichtsdestotrotz gewann die Vorstellung, Wahrheit sei relativ, immer weiter an gesellschaftlicher Akzeptanz – angefangen mit der Vorstellung, Frauen würden anders denken als Männer bis zur Hinwendung zu „alternativer Medizin“.
„Die Radikalen von heute verunglimpfen Universalismus meist als ‚eurozentrisches‘ Projekt.“
Antiuniversalistische Linke
Einer der Gründe hierfür war die Bereitschaft weiter Teile der Linken, relativistische Perspektiven zu übernehmen. Einst vertrat die Linke die universalistische Vision der Aufklärung – eine Vision, die die großen radikalen Bewegungen antrieb, die die moderne Welt schufen, von den antikolonialen Kämpfen über die Frauenwahlrechtsbewegung bis hin zum Kampf für die Rechte von Schwulen.
Die Radikalen von heute verunglimpfen Universalismus meist als „eurozentrisches“ Projekt. Die Idee der Aufklärung, so argumentieren viele, sei aus einer bestimmten Kultur und Geschichte hervorgegangen. Sie entspreche besonderen Bedürfnissen, Wünschen und Neigungen. Menschen außerhalb des Westens müssten demzufolge ihren eigenen Ideen und Werten aus ihren jeweiligen Kulturen, Traditionen und Bedürfnissen heraus folgen – und dies gilt nicht nur für Nicht-Westler, sondern auch für verschiedene soziale Gruppen innerhalb der westlichen Nationen, etwa Schwarze, Frauen oder Schwule.
Identitätspolitik und rechte Gegenaufklärung
Die Akzeptanz solcher Sichtweisen ging in den letzten Jahren Hand in Hand mit dem Aufstieg der Identitätspolitik und einem generell subjektiveren Blick auf die Welt, der sich parallel entwickelte: Es breitete sich der Glaube aus, unsere Wahrnehmung der Welt oder wie wir uns bei ihrer Betrachtung fühlen, sei genauso wichtig wie ihre tatsächliche Beschaffenheit. Z.B. ist heute die Ansicht weit verbreitet, nur Opfer von Rassismus könnten definieren, was Rassismus eigentlich ist. Andere beharren darauf, die Vorstellungen eines Regenwald-Medizinmanns unterschieden sich nicht grundlegend von denen eines Laborwissenschaftlers, denn „alle Erkenntnissysteme, auch moderne Wissenschaften, sind lokal gebunden“, so z.B. die Philosophin Sandra Harding.
„Zu viele der Linken haben das ‚Recht auf Differenz‘ missverstanden, nun sehen sie sich Reaktionären gegenüber, die dies als ideologischen Rammbock verwenden.“
Weder die Ablehnung des Universalismus, noch die Annahme des Relativismus, noch die Bevorzugung des Subjektiven über das Objektive sind in irgendeiner Form progressiv. Alle drei Denkweisen können unter bestimmten Voraussetzungen sinnvoll sein – als Grundlage einer Weltanschauung sind sie aber hochproblematisch. Relativismus und Identitätspolitik mögen sich in den vergangenen Jahrzehnten in Teilen der Linken ausgebreitet haben, sie bleiben jedoch im Kern konservative Perspektiven. Sie entstanden im späten 18. Jahrhundert als konservative Reaktion gegen die Aufklärung und spielten eine zentrale Rolle im Denken von Rassentheoretikern, die darauf bestanden, andere Rassen hätten andere kognitive Fähigkeiten und gehörten anderen Wertesystemen an.
Das Neue an der heutigen Situation ist vor allem, dass die Rechte – insbesondere die reaktionäre Rechte – beginnt, ihre eigenen Ideen zurückzufordern. „Die entscheidende Frage“ des 21. Jahrhunderts, schreibt Alain de Benoist, Gründer der Nouvelle Droite („Neuen Rechten“) in Frankreich, liege darin, ob es den Menschen gelänge, „in ihrem Glauben, ihren Traditionen und Weltanschauungen ausreichende Mittel für den notwendigen Widerstand zu finden“. Jean Marie Le Pen, Neonazi und Gründer des Front National in Frankreich, übernahm die Vorstellungen Benoists, indem er erklärte: „Wir haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, unseren nationalen Charakter und das Recht auf Differenz zu verteidigen.“ Viel zu viele auf Seiten der Linken haben das „Recht auf Differenz“ in der Vergangenheit als progressiven Wert missverstanden, nun sehen sie sich Reaktionären gegenüber, die diese Forderung als ideologischen Rammbock verwenden. Die sogenannte „Identitäre Bewegung“ – Gruppen der extremen Rechten, die sich offen für Identitätspolitik einsetzen – hat von Frankreich bis Österreich inzwischen in vielen Staaten Europas Wurzeln geschlagen.
Ihr Ebenbild auf der anderen Seite des Atlantiks ist die „Alt-Right“-Bewegung („Alternative Rechte“), die sich laut ihrer Führungsfigur Richard Spencer „allein um Identität“ dreht. Weiße haben, so argumentiert Spencer, eigene Kulturen, eigene Werte, Glaubensüberzeugungen und Ansichten, die nicht durch Einwanderung oder Durchmischung verwässert werden dürften. Folgt man Spencer, so war die Wahlkampagne von Donald Trump „Zeit meines Lebens das erste Mal, dass es so etwas wie eine Identitätspolitik für Weiße gab“.
„Was unsere Zeit prägt, ist nicht die Abwesenheit irgendwelcher Wahrheiten, sondern der Anschein, sie sei umgekehrt geradezu mit ‚Wahrheiten‘ gesättigt.“
Als ich weiter oben darauf hinwies, die Idee „alternativer Fakten“ berufe sich auf Vorstellungen, „die in den vergangenen Jahrzehnten radikale Bewegungen … genutzt hatten“, wollte ich damit nicht behaupten, Kellyanne Conway, Steve Bannon oder gar Donald Trump hätten Foucault oder Baudrillard gelesen, oder das Ziel der postmodernen Linken läge darin, Lügen akzeptabel zu machen, wie dies für Conway, Bannon und Trump gilt. Es ging mir lediglich um den Hinweis, dass Teile der Intellektuellen und Linken in den letzten Jahrzehnten beim Entstehen einer Kultur halfen, in der relativistische Haltungen zu Fakten und Wissen nicht als beunruhigend gelten. So erleichterten sie es der reaktionären Rechten nicht nur, sich ihre eigenen reaktionären Ideen wieder anzueignen, sondern auch, für diese zu werben. Eine weitere Folge dieser Haltung ist, dass der gegenwärtigen politischen Linken, nachdem sie jahrzehntelang selbst für Relativismus und Identitätspolitik geworben hat, die Mittel fehlen, die identitäre Rechte herauszufordern.
Identitäre Wahrheiten statt politischem Ideenstreit
Wie steht es mit der Vorstellung, wir stünden am Beginn eines „postfaktischen Zeitalters“, in dem „Wahrheit“ keine Bedeutung mehr hat? Was unsere Zeit prägt, ist nicht die Abwesenheit irgendwelcher Wahrheiten, wie der Historiker Daniel T. Rogers zu Recht beschrieb, sondern der Anschein, sie sei umgekehrt geradezu mit „Wahrheiten“ gesättigt. Leider bedeuten die meisten dieser „Wahrheiten“ lediglich etwas in der Art von „daran glaube ich“ oder „ich finde, das sollte die Wahrheit sein“. Es scheint, wir leben wir in einer Zeit endlos vieler Wahrheiten, die alle miteinander konkurrieren, von denen jede für sich auf der eigenen Richtigkeit beharrt und deren jeweilige Anhänger sich weigern, irgendeine andere „Wahrheit“ zur Kenntnis zu nehmen oder gar zu diskutieren.
Wissenschaftliche Wahrheiten, egal wie vorläufig wissenschaftliche Erkenntnis notwendigerweise ist, beziehen sich grob auf die Welt, wie sie ist. Politische und moralische Wahrheiten sind anders: Sie betrachten nicht nur, wie die Welt ist, sondern auch, wie sie unseren Wünschen nach sein sollte. Politik beruht nicht nur auf den Fakten der Welt, sondern auch auf weltanschaulichen Rahmen, mit deren Hilfe wir diese Fakten interpretieren und die uns helfen, zu beschreiben, in welcher Welt wir leben wollen. Und da diese Rahmen gegensätzliche Visionen der Welt ausdrücken, beruht Politik auf der Bereitschaft zum öffentlichen Dialog und zur Debatte, auf dem Willen, anderen zuzuhören und die eigenen Überzeugungen zu überprüfen und auf der Offenheit, anderen entgegenzukommen und sich selbst zu ändern. Es ist der Zerfall dieses Willens, dieser Bereitschaft und dieser Offenheit, der uns das Gefühl vermittelt, in einem „postfaktischen Zeitalter“ zu leben, in dem die „Wahrheit“ keine Rolle mehr spielt.
In der Vergangenheit erwuchsen die ideologischen Rahmungen letztlich aus dem Gegensatz zwischen der politischen Linken und der Rechten. Selbstverständlich gab es auf beiden Seiten eine Vielzahl von Varianten, doch jede von ihnen lieferte eine eigene ideologische Linse, durch die sich die Welt betrachten ließ, mit deren Hilfe sich die jeweils selben Fakten unterschiedlich deuten und unterschiedliche politische Konsequenzen ziehen ließen.
„In politischen Kämpfen geht es nicht darum, wer du bist, sondern darum, woran du glaubst – bei Kämpfen um Identität gilt das Gegenteil.“
Heutzutage sind diese politischen Rahmen in viele Einzelteile zerfallen und werden eher durch Identität als durch Ideologie geformt. Der Rahmen, mit dessen Hilfe wir der Welt einen Sinn verleihen, lässt sich weniger in Begriffen wie „liberal“, „konservativ“, „sozialistisch“ oder „kommunistisch“ beschreiben als mit Kategorien wie „muslimisch“, „weiß“, „amerikanisch“ oder „schwarz“. Und wenn doch irgendwer von „liberal“ oder „konservativ“ spricht, werden diese Begriffe mindestens so sehr als kulturelle Identitäten behandelt wie als politische Standpunkte. Politische Konflikte teilen die Gesellschaft entlang weltanschaulicher Trennlinien, doch sie vereinen Menschen über ethnische und kulturelle Grenzen hinweg. Kämpfe, die in kulturellen, ethnischen oder religiösen Identitäten wurzeln, wirken unausweichlich fragmentierend. In politischen Kämpfen geht es nicht darum, wer du bist, sondern darum, woran du glaubst – bei Kämpfen um Identität gilt das Gegenteil.
Fragmentierung überwinden
Das Ergebnis dieses sozialen Wandels ist, wie Rogers bemerkte, dass „die Idee verloren geht, Politik sei im Kern ein Akt des Sich-miteinander-Beratens, in dem sich Menschen mit ihren unausweichlich unterschiedlichen Wünschen und Ausgangspunkten zusammenfinden, etwas aushandeln und ihren Weg in eine Richtung finden müssen, die sich anfangs möglicherweise keiner von ihnen hat vorstellen können.“ Angefangen mit Fragen der Globalisierung bis hin zum Klimawandel klammern sich alle Beteiligten an ihren jeweiligen „Wahrheiten“ fest und verweigern jede Auseinandersetzung mit „alternativen“ Sichtweisen. Die Wahrheiten, so Rogers, „gleiten ohne Berührungspunkte aneinander vorbei“. Kennzeichnend für diese Welt ist nicht, dass Wahrheiten verschwunden wären, sondern dass es zu viele voneinander losgelöste Wahrheiten gibt. Eine Welt, die gleichzeitig zu relativ und zu absolut ist.
Fake News, alternative Fakten und das Gefühl, in einer postfaktischen Zeit „nach der Wahrheit“ zu leben, sind alles Symptome eines tiefer liegenden Problems, nämlich dem einer immer stärker fragmentierten Welt, deren einzelne Bruchstücke immer weniger bereit sind, sich miteinander zu beschäftigen. Bevor wir nicht anfangen, die grundlegenderen Probleme anzugehen, die dem Zerfall des Universalismus, dem Aufstieg der Identitätspolitik und dem Entstehen immer stärker fragmentierter Gesellschaften innewohnen, wird jeder Versuch, die Symptome zu kurieren, die Dinge sehr wahrscheinlich nur verschlimmern.